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Was denn?

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3 Mein Wille geschieht wirklich

Hier und Jetzt

Möllbergen ist ein kleines Dorf mit einem kuriosen Namen. Soweit Lulan zurückdenken konnte, hatte er Möllbergen mit Bergen voller Müll assoziiert. Einfach nur so, weil der Vergleich sich aufdrängte. Möllbergen ist ein sauberes Dorf, es liegt dort niemals Müll herum.

In der ersten Hälfte der 60er Jahre wurden in der ostwestfälischen Provinz die Themen »Zweiter Weltkrieg« und »Nationalsozialismus« in der Öffentlichkeit mit Vorsicht angesprochen. Die Eisen waren noch heiß, man konnte sich leicht die Finger verbrennen. Hinter verschlossenen Türen jedoch, im familiären Kreis derer, denen man vertrauen konnte, verliefen die Diskussionen umso heftiger.

Lulan war mit Hitler-Geschichten aufgewachsen, obwohl er der zweiten Generation der Nachkriegsgeborenen angehörte. Als Kind wurde er bei hintergründigen Anekdoten der Erwachsenen hellhörig, das machen Kinder sehr gerne, vor allem, wenn die Geschichten verschwörerisch, hinter vorgehaltenen Händen und mit gesenkten Stimmen, erzählt werden. In seiner Familie väterlicherseits berichteten einige der Tanten und Onkeln, wie sie zu den Reichserntedankfesten auf den Bückeberg gezogen waren, um den Führer zu sehen. Besonders Tante Gerda, hieß es, sei nicht zu halten gewesen und beim Anblick von Adolf regelrecht in Verzückung geraten. In ihren Erinnerungen an Hitler (der es also fast direkt bis nach Möllbergen geschafft hatte) kamen die meisten Erwachsenen unweigerlich auch auf andere Mythen des Nazi-Faschismus zu sprechen. Ihm klingen ihre Sätze noch heute in den Ohren, er hatte sie unzählige Male gehört.

„Da sind alle hingelaufen. Das kannst du dir nicht vorstellen. Wie das damals war. Jeder ist dahingelaufen. Jeder!"

„Das war ein Ding! Da wärst du auch hingegangen, glaub mir! Die Frauen waren wie durchgedreht, die waren nicht zu halten, wenn der Führer kam. Tante Gerda war immer mit dabei. Immer vorne weg! Ja-ha! Tante Gerda aus Hitzepohl! Die war ganz aus dem Häuschen. Mein lieber Schwan!"

„Hier im Dorf gab es keine Juden. Einen oder zwei vielleicht. Die waren eines Tages weg, wer weiß, was da vor sich gegangen war. Man wusste nicht, ob die abgeholt worden waren. Ich nehme an, die wurden abgeholt, aber das konnte keiner wissen. Eines Tages waren sie weg. Ja, was sollte man da machen?"

„Du konntest gar nichts machen. Gar nichts! Wenn einer was gesagt hat, wurde er gleich erschossen. So war das. Da hält man seinen Mund, mein Junge! Die wurden abgeholt und gleich erschossen."

„Das hat der Deutsche Soldat nicht gemacht. Die Russen haben gehaust wie die Tiere, die Frauen vergewaltigt. Das waren keine Menschen, die waren wie wilde Tiere. Haben aus dem Hinterhalt geschossen, als Bauern verkleidet. Wenn das ein deutscher Soldat gemacht hätte, Frauen vergewaltigt, wäre er sofort hingerichtet worden. Sofort erschossen! Auf der Stelle!"

„Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber bei Hitler gab es das alles nicht, Einbrüche, Überfälle - gab's nicht! Man konnte im Dunkeln durch die Straßen laufen und musste keine Angst haben. Verbrecher wie heute gab es nicht. Die wurden sofort schwer bestraft. Es gab auch keine Arbeitslosen. Angst haben brauchte man nicht!"

„Eines muss man Hitler lassen: er hat die Autobahnen gebaut. Und die Arbeitslosigkeit abgeschafft. Das muss man auch mal sehen!"

„Wenn der Russlandfeldzug nicht gewesen wäre - mein lieber Mann! Wir hätten den Krieg gewonnen! Ja, sicher! Wir hatten ja schon Frankreich, Polen, aber den Osten. Russland, dieses endlose, riesige Land! Sibirien! Das kann keiner halten, das war der entscheidende Fehler. Dass Hitler nicht auf seine Generäle gehört hat, er hielt sich selbst ja für den größten Strategen aller Zeiten."

Als Kind fand Lulan die Erwachsenengespräche aufregend, obgleich er nicht einordnen konnte, worum es eigentlich ging. Nach und nach erfuhr er weitere Einzelheiten und die Hintergründe der Schilderungen nahmen allmählich Gestalt an. Hinter der anfänglich leisen Ahnung, dass etwas Furchtbares in Deutschland geschehen sein musste, verbargen sich Bilder von unvorstellbaren Gräueltaten, die der Junge nach und nach entdeckte und die wochenlang durch seine Träume spukten.
Die Aussagen der Dulder und Mitmacher dienten der eigenen Rechtfertigung, sie relativierten die Kriegsverbrechen der Nazis. Als Lulan älter wurde und begann den Alten kritische Fragen zu stellen oder ihnen gar zu widersprechen, endete die Ära der freimütigen Erinnerungsplaudereien. Im langwierigen Prozess einer dringend erforderlichen ehrlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit brach die Zeit der Streitgespräche zwischen den Generationen an.


Erinnerungen
September 1967, Ellernstraße, Vennebeck

Ich bin neun Jahre alt als an einem Sonntagnachmittag unverhofft Berge von toten Menschen auf der Mattscheibe des Röhrenfernsehers auftauchen. Wir sind an diesem Wochenende bei Mühle-Oma und Mühle-Opa, den Eltern meiner Mutter (die noch vor ein paar Jahren „auf der alten Mühle" gewohnt hatten).

Die Filmaufnahmen wirken alt, schwarzweiße Szenen, ohne Ton. Man führt Teile der ortsansässigen deutschen Bevölkerung durch ein Vernichtungslager. Die Herbeigeführten, viele Frauen, ein paar ältere Männer, halten sich die Nasen zu, die Toten müssen furchtbar stinken. Haufen von Leichen, Berge von Koffern. Große Stapel von Schuhen. Holzkisten gefüllt mit Zähnen und Zahnprothesen. Kisten mit Haaren, sortiert nach Farben. Es ist unvorstellbar. Ich habe nicht gewusst, dass diese Dinge in Deutschland geschehen sind, dass sie überhaupt geschehen können.

Ich höre, wie die Erwachsenen immerzu das Wort »Kazett« sagen. Was da gezeigt wird, ist ein Kazett. Durch meine Brust zieht ein dumpfer, bedrückender Hauch. Angst. Die Filmaufnahmen verletzen gleich zwei Tabus. Sie zeigen tote Menschen, große Hallen gefüllt mit abgemagerten, fast skelettierten Leichen. Und die toten Körper sind außerdem nackt! Ich habe mit neun Jahren noch nie zuvor einen nackten Erwachsenen gesehen. Auch keine toten Menschen. 


Hier und Jetzt

Kurz vor seinem 11. Gebutstag bekam Lulan von seinem Onkel Emil ein Tonbandgerät geschenkt. Emil hatte sich ein neueres Tonband-Modell angeschafft, sein altes Grundig-Gerät wollte er seinem Neffen vermachen. Der war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Ein so teures Tonbandgerät für ihn!? Und obendrein bekam er noch einen Karton mit bespielten BASF-Tonbändern, Spulen mit hauchdünnen Magnetfilmen, die raffinierterweise Musik speichern und wiedergeben konnten.

Lulan verehrte den 12 Jahre älteren Bruder seiner Mutter wie einen eigenen großen Bruder. In ihm fand er, was seine Eltern ihm nicht geben konnten. Man erweckt die Zuneigung und Bewunderung eines Kindes, indem man es liebt, ohne es besitzen zu wollen. Emil verstand Lulans individuelle Bedürfnisse, er förderte den inneren Drang des Kindes nach Selbstständigkeit. Wenn man es richtigmacht, erwacht ein liebendes Kinderherz dauerhaft. Lulan liebt seinen Onkel heute noch.

Das Geschenk eröffnete Lulan neue Klangwelten. Durch die Tonband-Aufnahmen expandierte der kleine, überschaubare Kosmos eines Möllberger Dorfjungen mit Lichtgeschwindigkeit und dehnte sich sehr schnell unfassbar weit aus. 


Erinnerungen 
1969, Möllbergen

Ich ließ die Bänder laufen. Ununterbrochen. Ich kenne die Reihenfolge der meisten Aufnahmen immer noch auswendig. Sogar der Geruch des Apparats ist bis heute in meinem olfaktorischen Gedächtnis abgespeichert.

Meine musikalischen Erfahrungen waren bis zu diesem Zeitpunkt auf die Schelllackscheiben und die ersten Vinylschallplatten meiner Eltern beschränkt. Hans Albers, Freddy Quinn und Ralf Bendix, dessen Hit Thomas Rock aus Alabama mich köstlich amüsierte. Ich habe diesen Retro-Schlager vor kurzem bei Amazon heruntergeladen und meiner mp3-Sammlung hinzugefügt. Schließlich habe ich ein Alter erreicht, in dem man so etwas hören kann, ohne sich bei eingeschworenen Hardrockfans oder Klassikliebhabern entschuldigen zu müssen.

Im Radio gab es in den 60er Jahren hin und wieder Hits, die ich mochte, zum Beispiel Azzurro von Adriano Celentano. Die schmalztriefende deutsche Version von Vico Torriani, für die ich als Kind noch geschwärmt hatte, erscheint mir heute wie eine schrille Satire.

Welche Farbe hat die Welt? sang Drafi Deutscher 1965. Der Schlager kommt mir jetzt ebenfalls übertrieben rührselig vor, doch als Siebenjähriger sann ich lange und ernst über die Farbvergleiche des Hits nach. Braun wie die Pferde, grau wie des Schäfers Herde, das sprach mich an, aus diesem Blickwinkel hatte ich die Kaltblüter auf Wöpkings Weide noch nicht betrachtet.

Dann eroberte Deutscher mit Marmor, Stein und Eisen bricht die Spitze der Hitparaden – und ich war hin und weg. Nüchtern besehen ist auch dieser Kulthit eine Schnulze, aber in der biederen BRD der 60er Jahre klang er neben den allgegenwärtigen Arien von Rudolf Schock, Anneliese Rothenberger und Hermann Prey ziemlich rockig und fetzig. Außerdem half der Song sehr verlässlich gegen Trübsinnigkeit, eine Eigenschaft, die ihm bis heute Popularität verleiht.

Ich himmelte Drafi Deutscher an, war sein Fan, ohne zu wissen, was ein Fan ist - meine erste Bravo (die meine Mutter auf meine Bitte hin 1969 für mich kaufte) verschlang ich mit geröteten Ohren.

1967 stand Drafi Deutscher unbekleidet am Fenster seiner Berliner Wohnung, als ein paar Mädchen auf der Straße vorbeigingen. Die Schlagzeilen des Vorfalls lösten eine Schock in mir aus.

Ein Mann, der sich Kindern nackt zeigte, war für mich schon deshalb schockierend, weil ein Jahr zuvor der Kindermörder Jürgen Bartsch gefasst worden war. Bartsch hatte Jungen in meinem Alter in einen verfallenen Bunker gelockt, sie dort „gefesselt und gequält" und schließlich getötet. Die ausführliche Berichterstattung in den Medien versetzte mich in einen Zustand latenter Angst. Ich war unentwegt auf der Hut und hielt die Augen offen, wenn ich auf den Möllberger Dorfstraßen allein unterwegs war. 


Hier und Jetzt

Lulan saß stundenlang vor den sich gemächlich drehenden Bändern und empfing konzentriert lauschend deren Lieder und Gesänge. Die Radiohits der 60er waren kalter Kaffee verglichen mit den Schätzen, die Onkel Emils Tonbandgerät in petto hatte.

Franz Josef Degenhardt, Wolfgang Neuss, Hanns Dieter Hüsch, Wolf Biermann, The Beatles, Joan Baez, Bob Dylan, Peter, Paul & Mary, Abi & Esther Ofarim, Die Stachelschweine, Ernst Jandl, El Canto General mit Gisela May und Aparcoa, Mikis Theodorakis, Sonny Boy Williams, The Bee Gees, Sonny Terry & Brownie McGhee, B. B. King, The Rolling Stones, Alec Johnson, Arthur Browne, Chuck Berry, Barbeque Bob, Bukka White.

Die roten BASF-Bänder waren beidseitig abspielbar, bei den großen Spulen lag die Spieldauer bei eineinhalb Stunden pro Seite. Emil hatte Lulan sechs bespielte Bänder hinterlassen. Sie enthielten Lieder, Balladen und Geschichten, die den Jungen berührten und unbekannte Gefühle in ihm weckten. Mithilfe der Magnetbänder erfuhr er von neuen Ländern, sogar ganzen Kontinenten, von denen er noch nie zuvor gehört hatte. Die Welt endete nicht am Veltheimer Elektrizitätswerk, sondern erstreckte sich danach noch unvorstellbar viel weiter, über das Weserbergland hinaus bis zum Amazonasbecken, vom Bornholzer Dorfladen bis zur San Francisco Bay. Freddy Quinn, der Junge, der nie wieder hinausfahren wollte, war passé, nicht mehr angesagt. Durch die Tonbandmusik verblichen die Hits des singenden Seemanns (eine PR-Lüge, wie Lulan Jahre später erfuhr) zu altbackenen Moralpredigten.

Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus!

Lulan wollte nicht zuhause bleiben, er wollte hinaus in die Welt, alles mit eigenen Augen sehen. Er stellte sich vor Abenteuer zu erleben, unbekannte Tierarten zu entdecken und indianische Naturvölker zu besuchen. Und er würde um keinen Preis „bald wieder nach Haus" zurückkommen.

Dies war dein Wunsch und so ist es geschehen.

Lulans Vaer hatte nicht gelernt sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Er wusste nicht, was sein Sohn fühlte oder dachte, und er unternahm keine Versuche dies herauszubekommen. Auch Lulans Wünsche nahm er ärgerlicherweise nicht für voll.

„So, du willst also Abenteurer werden!", stellte der Vater belustigt fest, „In die weite Welt ziehen! Und was machst du, wenn dir nachts im Urwald große Spinnen begegnen? Was? Du hast ja schon bei uns im Keller Angst vor Spinnen, ha, ha, ha!"

Er hat leider nicht ganz unrecht, dachte Lulan eingeschnappt und strich die Amazonasreise vorläufig von seiner Wunschliste. Sein Vater fing selbst die allergrößten haarigen Jagdspinnen mit bloßen Händen. Er brachte sie vor die Haustür oder entließ sie im Garten wieder in die Natur.

„Hier! Willste auch mal?", fragte er bei seinen Rettungsaktionen und streckte Lulan und seiner kleinen Schwester Carola seine gewölbten Hände samt eingeschlossener Spinne entgegen. Er prustete jedes Mal vor Lachen, wenn die Kinder schreiend Reißaus nahmen. Es war ein allen bekanntes Ritual, ein Handlungsstrang mit fester Rollenverteilung, wie beim Kasperle-Theater oder bei Dick und Doof.

Aus dem umfangreichen Repertoire der Tonbänder waren es vorwiegend die Balladen, die sich Lulan immer wieder anhörte. Er musste sie anhören, tagein, tagaus, hunderte Male. Millimetergenau spulte er die Bänder vor und zurück, solange, bis er jedes Wort, jede Redewendung verstanden hatte.

Though they murdered six million, in the ovens they fried, the Germans now, too, have God on their side."

Wovon sang Dylan hier bloß? Lulans Ansporn Englisch zu lernen musste seinem Lehrer Freudentränen in die Augen getrieben haben.

Es gab auch einen deutschsprachigen Sänger, dessen Balladen ihn fesselten. Franz Josef Degenhardts Texte und Melodien passten in kein gängiges Schema. Seine „Bänkellieder" hatten etwas Betörendes, sie klangen vertraut und seltsam anders zugleich.

"Guckst dich um, es ist Samstagnachmittag, es ist still, es riecht nach Milch und Mist. Und die Kirchentür steht offen, und dann merkst du, dass es noch genau wie früher ist Und der Bauer drüben sitzt genauso wie dein Vater dick und fett auf seiner Bank. Und genauso wie dein Vater sieht er dich nicht, raucht und träumt von Korn und Speck. Du wirst schwindelig, und deine Hand verkrampft sich, doch dann rauchst du einfach und siehst weg."

Lulan fragte sich, ob der singende Dichter aus der Möllbergen Gegend stammte, denn er beschrieb die Samstagnachmittage der 60er Jahre, als wäre er dort aufgewachsen. Oder gab es neben Möllbergen womöglich weitere Dörfer, die einander glichen wie ein Ei dem anderen?

Falls dies zutrifft, dachte Lulan, müsste jedes dieser Dörfer einen Bauern haben, der „dick und fett" auf einer Bank sitzt und rauchend „von Korn und Speck" träumt.

Im Bornholz gab es diesen Bauern tatsächlich. Er war zwar nicht dick, saß dafür aber bei gutem Wetter von früh bis spät auf einer Holzbank neben den großen Stalltüren. Der krummgebeugte Mann trug stets dieselbe Kleidung, eine schwarze Cordhose, eine blaue Arbeitsjacke und dazu eine dunkelgrüne Schirmmütze mit zwei Hirschhornknöpfen an der Vorderseite. Sobald Lulan in seine Nähe geriet, winkte er den Jungen zu sich, denn laut rufen konnte er nicht ohne dadurch grässliche Hustenanfälle auszulösen. Er wollte immer nur eins von Lulan.

„Komm mal her!", krächzte er heiser und knibbelte dabei nervös mit seinen runzeligen Augen, „Hier haste fünfzig Pfennig! Hol mir mal `ne Schachtel Juno von Tante Minna! Juno! Ohne Filter!"

Tante Minna wurde im Bornholz der kleine Dorfladen genannt, weil Tante Minna hier die Kunden bediente. Lulan holte dem hustenden Altbauern seine Schachtel Juno aus dem Automaten vor dem Laden, fünf filterlose, dicke Zigaretten in einer Packung. Er hatte sie selbst schon heimlich probiert.

Als Elfjähriger hatte Lulan dank seines Onkels Emil den Finger am Puls der Zeit. Er hatte Zugang zu einem neuen Medium erhalten. Musik.

Die Musik inspirierte ihn, sie öffnete seinen Geist. Zwar kannte er den Effekt bereits von Mamor, Stein und Eisen bricht und Azzurro, doch diese Lieder gingen tiefer unter die Haut, sie berührten sein Herz. Lulan nahm die emotionale Wirkung von Musik zum ersten Mal bewusst wahr, und er lernte schnell, dass sie wiederholbar war. Im Wechselspiel von seinen Teenager-Emotionen spielte Sehnsucht eine Schlüsselrolle. Sehnsucht ist ein Gefühl unerfüllten Verlangens, und Verlangen schreit nach Befriedigung.

Das Kind, das alles auf einmal wollte, konnte nicht genug von der Tonabandmusik bekommen und öffnete auf der emotionalen Körperebene alle Schleusen und Kanäle, um die neuen, unbekannten Gefühle fließen zu lassen.

Oh, jugendliche Torheit! Welch atemberaubende Ahnungslosigkeit!

San Francisco ist in Wirklichkeit eine Stadt in Amerika und kein Ort der Sehnsucht, so wie Musik keine Gefühlserzeugerin sein kann, sondern nichts weiter ist als ein akustisches Signal, das der Hörende in Gefühle übersetzt.

Physikalisch betrachtet ist Musik eine Oszillation, die mit den Schwingungen der verschiedenen Körperebenen interagiert. Die Sinneszezeptoren des Gehörs übersetzen die Schwingungen in Klänge. Für die Körperperson fungiert Musik als Gefühlsstimulator, sie ist „etwas für das Gemüt". Der Geist reagiert auf die Klangbilder indem er Emotionen wie Fernweh, Heiterkeit oder Melancholie erzeugt. Musik kann alles Mögliche auslösen. Hunger nach Gerechtigkeit zum Beispiel. Aber auch Wut, sogar Hass. Musik entfacht emotionale Feuer und lässt sie auflodern. Sie ist stets nur das, was man von ihr will, sie lässt sich für fast jeden Zweck benutzen. Musik liefert den Stoff, aus dem die Menschen ihre Träume schneidern. 

Erinnerungen
August 1969, Möllbergen

Am Ende des Schuljahres 68/69 trennten sich unsere Wege. Der Großteil meiner Kumpel blieb in Möllbergen, um ihren Hauptschulabschluss zu machen, einige gingen zur Realschule in Hausberge, der nächsten Kleinstadt, und acht bekamen eine Gymnasialempfehlung, vier Jungen und vier Mädchen. Ich war einer der acht. Unser zukünftiger Schulweg führte uns »vom Dorf« nach Minden, in die »große Stadt«.

Sicher, ich freute mich auf das Gymnasium, auch wenn mich der Gedanke bedrückte, dass ich meine Freunde zurücklassen musste.

Wir hatten als Kinder nervenzerreißende Streiche zusammen ausgeheckt, waren in den Wintern auf Bauernhöfen heimlich in die Ställe geschlichen, wo dampfende Bullen mit Nasenketten und mächtige Zugpferde bedächtig ihre Heu-Rationen zermahlten und wo es so animalisch nach „Milch und Mist" roch; hatten auf abgeernteten Stoppelfeldern Drachen steigen lassen, an den Hängen Sandburgen gebaut und in den Feuern, die wir im Herbst liebend gerne entfachten, Kartoffeln geröstet, brandgefährlich, aber unübertroffen köstlich. Es waren satte, glückliche Jahre gewesen. Einige zumindest.

Nach den Sommerferien kam sie dann, die wochenlang sorgenvoll erwartete radikale Veränderung. Radikal ist ein relativer Begriff. Er bedeutete in meinem Fall, dass ich die überschaubaren Dorfumgebung verlassen, von einem Tag auf den anderen mit dem Bus in eine mir bis dahin unbekannte Stadt fahren und vom dortigen Busbahnhof durch fremde Straßen bis zum Bessel-Gymnasium am Marienglacis laufen musste. Städtisches Mathematisch-Naturwissenschaftliches und Neusprachliches Gymnasium prangte einschüchternd in großen Lettern über dem Haupteingang und ich fragte mich, was sich hinter dem langen Namen verbarg.

Wenn du schnell vorankommen willst, geh' alleine! Wenn du weit kommen willst, geh' gemeinsam mit anderen, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Ein toller Spruch, die nomadischen Jäger und Sammler müssen diese Erfahrung schon sehr früh gemacht haben. Jemand, der sein gewohntes Umfeld verlassen muss, um sich ohne Begleitung in neue Gefilde zu wagen, geht seinen Weg in der Regel ängstlich und unsicher. Wir waren immerhin zu viert, vier Möllberger »Jungs«, die im gleichen Bus fuhren. In den ersten Wochen blieben wir eng beieinander. Doch mit zunehmender Selbstsicherheit wurden die Abstände zwischen uns Schritt für Schritt größer, und nach einem halben Jahr gingen wir getrennte Wege.

Die provinzielle Angst vor dem Unbekannten wich der Faszination des Neuen. Ich absorbierte das Stadtleben mit weit offenen Augen und konnte die vielen ungewohnten Eindrücke kaum verarbeiten. Zum ersten Mal spazierte ich ohne meine Eltern durch eine Stadt, in der alles anders war, bunt und hell, als schiene selbst an trüben Tagen die Sonne. Da waren ältere Schüler, die ausgefallene Klamotten trugen, Jungen mit schulterlangen Haaren - und Mädchen! Ich wollte dazugehören, was ich sah, wollte ich auch!

So lautete dein Wunsch, und so ist es geschehen!


06.09.2022, Minden 

Wir sind wieder in Minden, das wir vor 38 Jahren verlassen hatten. Back to the roots, mit zwei großen Möbelwagen zurück in die alte Heimat, in eine schöne, aber viel kleinere Wohnung. Ein neuer Abschnitt wird beginnen. Was wünschen wir uns für die Zukunft?


Erinnerungen
Februar 1970, Bessel-Gymnasium, Minden

Ich wollte unbedingt sein wie diese Typen, die lässig und frei herumliefen, sich »abgefahren« kleideten und wilde Bärte trugen. Die Langhaarigen rauchten Haschisch, einige der Mindener Bessel-Schüler wussten Bescheid und erzählten uns davon. Leider hatte keiner von ihnen eine Idee, wie man an das Zeug herankam. Wie schmeckt das? Wie fühlt sich das an, wenn man high ist? Sag einem Jugendlichen, was nicht erlaubt ist, und seine Neugier ist erwacht. Nach der Schule rauchten wir unter Autobahnbrücken zerriebene Muskatnüsse, die wir mit Tabakkrümeln in billige Maiskolbenpfeifen stopften. Irgendwer hatte einen Cousin, der gehört haben wollte, man würde high davon.

Mein Gastspiel am Bessel-Gymnasium kann man vom Anfang bis zu seinem vorzeitigen Ende getrost als unerfreuliche Episode bezeichnen. Mich befremdete gleich zu Beginn, dass die Schülerschaft ausschließlich aus Jungen bestand; Schülerinnen wurden erst 1975 zugelassen. Hier traf Anfang der 70er Jahre die globale Welle der subkulturellen Erneuerung auf eine verstaubte, elitäre Pennälermentalität, in der kauzige Studienräte den Ton angaben. Einige der Herren trugen tiefe Narben in ihren Gesichtern, lange Schmisse, die sie einander als Burschenschaftler mit Säbeln geschlagen hatten. Andere machten aus ihrer Bewunderung für die Diktatur des nationalsozialistischen Wahnsinns nicht den geringsten Hehl und ließen ihre Gesinnung mit gelassener Selbstverständlichkeit in ihren Unterricht einfließen. Wieder andere hatten ganz einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank; sie kasperten sich mit schrägen Marotten durch das Schuljahr und brachten mit ihren abgestandenen Frotzeleien die Jungen zum Kichern. Es gab auch vernünftige, engagierte Lehrer im Kollegium, Menschen, die sich normalverständlich mitteilen konnten und uns mit wachen, freundlichen Augen ansahen.

In der Sexta wurden träumende Schüler gerne mit Kreidestückchen und Schwämmen beworfen. Es schien einigen Paukern einen mordsmäßigen Spaß zu bereiten, und auch der johlende Rest der Klasse amüsierte sich prächtig. Einmal sauste sogar ein Apfel dicht über unsere Köpfe hinweg, verfehlte knapp sein Ziel (Detlef Salowskis Kopf) und zerplatzte an der Wand zu Apfelmus.

Als ich zum ersten Mal Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann sah, kam mir die Geschichte vor wie eine weitgehend aktuelle Persiflage auf das Bessel-Gymnasium, obwohl der Film bereits 1944 gedreht worden war.

Die Herren Studienräte liebten es, militärische Begrüßungsrituale mit uns zu exerzieren.

„Auf! Setzen! Auf! Setzen! Auf! Setzen! ... das war doch keine Begrüßung! Nochmal aufstehen! So, jetzt nochmal alle zusammen: Gu-ten Mor-gen, Herr Te-gel!"

Herr Poppe gehörte zu der harmlosen Sorte Pauker, dafür hatte er einen ausgeprägten Sockenschuss.

„Dann nehmt heute mal ganz christdemokratisch Platz!", pflegte er uns humorig zu begrüßen.

An jedem Freitag wählte Poppe zwei Schüler aus, die seinen „Lottoschein wegbringen" mussten. Die Auserkorenen feixten vor Freude und wurden von ihren Mitschülern schwer beneidet.

Das Klima dieser gymnasialen Lernanstalt erzeugte Widerstand und Ablehnung in mir. Die braveren Jungen verhielten sich unterwürfig, die meisten passten sich reibungslos an. Augenscheinlich liebten sie den Drill sogar. Dieses Verhalten passte nahtlos in die Schablone, die die Gymnasialpauker mit ihrem einschüchternden Kasernenhofton vermutlich als Ideal vor Augen hatten.

Vor einem unserer Lehrer hatten wir Sextaner eine Heidenangst. Wenigstens erging es mir so, dabei gehörte ich nicht gerade zu den Ängstlichen.

Wir hatten panischen Bammel vor Studienrat Böke, einem bulligen Mann, der kurz vor der Pensionierung stand. Herr Böke hatte einen voluminösen, bauchigen Rumpf, in dessen Schulterbereich ein disproportional großer Kopf dem Gesetz der Schwerkraft folgend eingesunken war und dabei den Hals vollständig verdrängt hatte. Diesen beinahe kugelrunden, großen Kopf zierte obenauf eine großflächige, rötlich glänzende Glatze. Das prominenteste Merkmal des Bökeschen Kugelkopfes waren unbestritten die ungewöhnlich wulstigen Lippen, die dem Studienrat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem britischen Schauspieler Charles Laughton verliehen. Diese Lippen hatten ihm in der Schülerschaft den rassistischen Spitznamen »Bimbo« eingebracht. Einige der älteren Jungen hatten uns vorgewarnt. Mit Bimbo Böke sei nicht zu spaßen, meinten sie, der würde Schüler gnadenlos fertigmachen. Und fuchsteufelswild könne er werden, wenn man seinen Spitznamen, Bimbo, riefe! Es kursierten laufend neue Gerüchte über die Wutausbrüche dieses Paukers. Für uns Sextaner klangen diese Mitteilungen allesamt höchst beunruhigend.

Bökes rötliche Gesichtsfarbe schien die Warnungen zu bestätigen, denn sie wies untrüglich auf einen erhöhten Blutdruck hin; Bimbo stand offensichtlich permanent unter Dampf.

Der Studienrat hatte die theatralische Inszenierung seiner potentiellen Gewaltbereitschaft verinnerlicht, sie war untrennbar mit seiner Persönlichkeit verschmolzen. Die Bedrohung, die angeblich von ihm ausging, konnten wir Sextaner mangels Erfahrung nicht realistisch einschätzen. Meinte er es ernst oder ließ er einfach nur die Sau raus? Bökes Auftritte waren filmreif, man hätte einen dieser alten Ufa-Schinken daraus zusammenschneiden können.

Andere Bessel-Pauker mochten weniger jähzornig veranlagt gewesen seien, unangenehm waren viele von ihnen dennoch. Als ich in der Quinta eines Tages eine neue Hose im Militärlook trug, sah sich unser Klassenlehrer, der junge, narbengesichtige Schuldirektor Dr. Schöttker veranlasst, mich zu Demonstrationszwecken vor die Klasse zu stellen.

„Van Rij, was ist das für eine Hose, die du da trägst? Soll wohl eine Kambodscha-Nahkämpferhose sein, was? He, he, he. Komm mal nach vorne, damit wir alle was davon haben!"

Ich weigerte mich zwar, aber er wiederholte seine Aufforderung vier- oder fünfmal, bis ich idiotischerweise nachgab und zu ihm ging. Ich musste mich auf den Boden legen und er demonstrierte grinsend, wie man denn nun bei der Bundeswehr mit so einer Hose „richtig" im Schützengraben liegt.

Um uns die Bedeutung der großen deutschen Kulturnation zu vermitteln, mussten wir bei einem neuen Deutschlehrer (man hatte ihn „strafversetzt", wie es hieß) ausgewählte Werke der Dichtkunst auswendig lernen. Was ist das für ein Lehrer, der glaubt Teenager könnten das Gedicht Der Knabe im Moor [1] cool finden? Wir reagierten auf die sprach- und inhaltliche Schrulligkeit mit Sextanerwitzen. Ein anderes Mal bekamen wir verwirrende Arbeitsaufträge, die wir nicht zu deuten wussten: War Hitler der mächtigste Mann im deutschen Reich? Begründe: Ja und warum?

Ich empfand den Unterricht schon in der Sexta bis auf wenige Ausnahmen als öde und langweilig. In der Quinta wurde es nicht besser. Die meisten Pauker verstanden es nicht zu inspirieren, sie konnten ihre Themen nicht anschaulich vermitteln und griffen stattdessen in ihre verstaubten Anekdotenkisten. Wahrscheinlich gehörte ich zusammen mit ein paar weiteren frühentwickelten Jungen zu den Querschlägern unter den Quintanern. Einige der angepassteren Schüler, die selbst in der Blütezeit der bunten Flower-Power-Erneuerung in beige-grauer Rentnertarnkleidung herumliefen, gediehen prächtig in der muffigen Atmosphäre. Sie trugen schnurgerade Seitenscheitel und wichen in den Pausen nicht von der Seite ihrer Lieblingslehrer, den lässigen Sprücheklopfern und selbstverliebt dozierenden Halbgöttern, zu denen sie aufsahen und herzlich mitlachten, wenn diese mit ihren abgekauten Herrenwitzeleien mal wieder ein Exempel statuierten oder in gewichtige Monologe versunken über den Niedergang der deutschen Sprache vor sich hin schwafelten.


Erinnerungen
Mai 1970, Bessel-Gymnasium, Minden

Wir erfuhren es gestern in der letzten Stunde von unserem Klassenlehrer, eine Mitteilung, die uns in Angst und Schrecken versetzte. Der Geschichtsunterricht fiele am nächsten Tag - heute also - aus, stattdessen hätten wir eine Vertretungsstunde bei Herrn Böke. Heiliger Strohsack! Bimbo Böke, das bedeutet Alarmstufe drei!

Ich habe schon nach dem Aufstehen so ein Flattern im Bauch. In der ersten Stunde haben wir Mathe, ich kann mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Den anderen Jungs scheint es ähnlich zu gehen. In der kleinen Pause kichern sie nervös, einige johlen und springen aufgeregt im Klassenraum herum. Als von der zweiten Unterrichtsstunde bereits fünf Minuten verstrichen sind, laufen einige alle paar Minuten zur Tür, um mit langgereckten Hälsen Ausschau zu halten. Kommt er nun oder kommt er doch nicht? Als Studienrat Böke dann plötzlich schwungvoll um die Ecke des Hauptgebäudes biegt und zielstrebig auf unseren Pavillon zusteuert, verliert einer der Späher die Nerven.

„Achtung! Bimbo kommt!" ruft er. Was für ein Knallkopf - er ruft es in seiner blanken Panik viel zu laut!

Wir stehen stramm an unseren Plätzen, als der, dessen Spitzname nicht genannt werden darf, das Klassenzimmer betritt. Herr Böke trägt eine Nickelbrille, er mustert uns. Schweigend. Es herrscht eisige Stille, wie vor dem Hereinbrechen einer tiefschwarzen Unwetterfront.

„Wer hat das gerufen?", fragt er nach einer angstvollen Ewigkeit. Er spricht ganz leise, seine Stimme klingt heiser. Diese Kombination lässt selbst Hartgesottene erschaudern. Aber Bimbo Böke erhält keine Antwort, so blöd ist selbst der Knallkopf nicht. Das scheint der Studienrat als weitere Provokation aufzufassen, denn nun bricht das Gewitter mit voller Wucht über uns herein. Ein greller Blitz, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag!

„GOSSENJUNGEN! GOSS-SSEN-JUN-GEN!", brüllt Bimbo mit markerschütternd Wucht, und seine eben noch heisere Flüsterstimme erreicht locker die 90-Dezibelmarke.

„Was glaubt ihr denn, wer ihr seid! Unverschämte Gossenjungen seid ihr!"

Wir stehen immer noch stramm, wie gelähmt, und sehen mit Entsetzen wie Böke den langen Bambuszeigestock vom Lehrerpult nimmt. Mit dem Stock in der Hand geht er langsam, nun wieder leise und heiser sprechend, durch die Reihen. Er genießt seine Macht, ganz nah tritt er an uns heran, sieht uns aus kleinen stahlgrauen Augen an. Sein Blick ist stechend, meine Beine fangen an zu zittern. Er wählt einzelne Schüler aus, richtet den Zeigestock auf sie, will wissen, wie der Schüler heißt.

Auch bei mir bleibt er stehen, tickt mir mit dem Zeigestock gegen die Brust. Ich registriere das Ticken des Bambusstocks auf meinem Körper, bin starr vor Angst.

„Wie heißt du?", fragt er mit dieser gruseligen Marlon-Brando-Stimme.

„Van Rij", antworte ich, denn wir hatten längst gelernt, dass die Bessel-Lehrer nicht an Vornamen interessiert waren.

„Woher kommst du?"

„Aus Möllbergen!"

„Was macht dein Vater?", will Bimbo wissen, und ich unterdrücke meine Empörung über seine anmaßenden Fragen.

„Der ist Hausmeister an einer Schule."

Meine Antwort löst keinen neuen Wutanfall in Bimbo Böke aus. Ich atme erleichtert auf als er von mir ablässt und mit dem Stock in der Hand den nächsten Jungen auswählt.


Erinnerungen
August 1970, Möllbergen

Poster mit Bildern von Salvatori Dali und René Magritte waren Anfang der 70er der Renner. Die Versuchung des Heiligen Antonius, Das Schloss der Pyrenäen. Diese Bilder waren faszinierend. Dali und Magritte weckten mein Interesse an surrealistischer Malerei, und zum 12. Geburtstag bekam ich von Mama ein Mal-Set geschenkt. Es enthielt kleine Tuben mit Ölfarben, einige Pinsel und einen weißen Karton, auf den in blauen Linien die Umrisse eines Landschaftsmotivs gedruckt waren. Man sah ein Boot mit weißen Segeln, das auf einem idyllischen, von Bergen ungebenen See dahinglitt. In der beiliegenden Anleitung war das Motiv farbig abgebildet. Es hätte der Gardasee sein können.

Ich halte mich an die Anweisungen und male die Konturen mit den passenden Farben aus. Die Ölfarben verbreiten einen angenehmen, würzigen Geruch, ihre Verarbeitung ist mit Wasserfarben nicht vergleichbar. Das fertige Bild gefällt mir und ich besorge mir im Schreibwarenladen neuen Malkarton, dieses Mal ohne Vordruck. Ich möchte gerausfinden, ob mir eigene Motive auch so gut gelingen wie vorgedruckte.

Weiße Fischerhütten am Meer, auch mein eigenes Motiv gefällt mir. Ich kaufe mir weitere Kartons, größere Formate, dazu zusätzliche Pinsel und neue Farben. Ein surrealistisches Selbstportrait. Klasse. Und immer wieder eine Frau mit langen Haaren, stets aus rückwärtiger Perspektive. In der Schule verpasse ich den Unterricht, ich male meine Hefte voll, das fällt niicht auf. Es sieht für andere so aus, als würde ich eifrig mitschreiben.


Erinnerungen
Konfirmation 1971, Möllbergen

Der Konfirmandenunterricht bei Pastor Arning ist vorbei! Ich bin jetzt konfirmiert und die ganze Familie ist zu Besuch bei uns zu Hause. Du lieber Himmel, bin ich aufgekratzt! Ich trage einen Anzug! Mein erster Anzug. Rostbrauner Tweedstoff, mit modisch aufgesetzten Taschen und breitem Revers. Ich stehe im Mittelpunkt, die Erwachsenen lachen mir dauernd zu, klopfen mir anerkennend auf die Schulter, machen wohlgemeinte Späße.

Wie groß ich geworden sei, ein junger Mann sei ich nun. Und so bescheiden! Ich genieße die ungewohnte Aufmerksamkeit. Heute dreht sich alles nur um mich. Ich bekomme haufenweise Geschenke angereicht, auch Umschläge mit Geld. Es sind richtig viele Umschläge und sie enthalten richtig große Scheine. Immer schön danke sagen! Der Geldstrom scheint gar nicht abzureißen, hinterher zähle ich über 700 Mark. Ich kann mir einen Traum damit erfüllen – eine eigene Stereoanlage.

Mama sagt, heute sei ich groß geworden und dürfe deshalb jetzt auch mal ein Glas Bier trinken. Es schmeckt nicht echt lecker, eher bitter und herb, aber nach einem Weilchen setzt eine Reaktion ein, die ich noch nicht kenne. Ein saumseliges Berauschtsein, ich bin euphorisiert. Es ist sensationell! Holla-raa-diii-hitt-iii!

Oh, super! Das will ich, das mache ich nochmal, beschließe ich beschwingt. Davon möchte ich mehr!

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[1] Sprachprobe: O schaurig ist's übers Moor zu gehen (…) Das ist der gespenstische Gräberknecht, Der dem Meister die besten Torfe verzecht (…) Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage (…) Ho, ho, meine arme Seele! (…) Der Knabe springt wie ein wundes Reh.

4 Die dritte Stufe der Entwicklung
2 Low on Memory
 

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