Es geht nicht darum irgendetwas zu machen.
Es geht darum zu sein.
Ganz da zu sein.
Nur darauf kommt es an.
***Hier und Jetzt
Woher kam diese Einsicht? Als Lulan im Alter von 16 Jahren, nach verschiedenen seriös gemeinten Bemühungen, die Welt durch eine Revolution zu verändern, unerwartet klar wurde, dass dieser Weg ein Irrweg war. Im Nachhinein erschienen ihm die diszipliniert geplanten Agitprop-Aktionen[1] naiv und blauäugig, die Sache war ihm einigermaßen unangenehm.
Er hatte sich einer Gruppe von Mindener Gymnasiasten angeschlossen, vier bis sechs Schüler (zeitweise war auch eine Schülerin vom Herder-Gymnasium dabei), die sich, ganz ohne Ironie, Kommunistische Oberschüler Schaumburg-Minden, KOSM, nannten. Die Jugendlichen verband die Empörung über himmelsschreiendes Unrecht, über eine Welt, in der sich die Mächtigen auf Kosten der Machtlosen bereicherten. Die Gesellschaft der frühen siebziger Jahre war geprägt von uneinsichtiger Rückständigkeit.
Es waren die letzten Jahre des imperialistischen Vietnam-Krieges, die Watergate-Affäre eroberte die Schlagzeilen, in Griechenland, Spanien, Portugal und Südamerika hatten Diktatoren die Macht übernommen, die RAF begann ihren Krieg gegen das kapitalistisch-imperialistische Establishment.
Die Nachkriegsgeborenen der 68er Studentenbewegung waren der Lügen ihrer Väter überdrüssig, ihrer unbeirrbaren Beteuerungen, die Wehrmacht habe ihrem Land in Treu und Glauben ehrenhaft gedient. Die Alten behaupteten der deutsche Soldat sei hinters Licht geführt worden, verarscht von diesem größenwahnsinnigen Österreicher und seinen Nazi-Bonzen.
Frühmorgens, noch vor der Schule, versuchten Lulan und seine Mitstreiter vor den Fabriktoren die werktätige Bevölkerung mittels selbstverfasster Flugschriften für ihre Sache zu gewinnen. Die Gymnasiasten der KOSM waren standfest davon überzeugt, der vermeintlich kurz bevorstehenden Revolution der Arbeiterklasse auf die Sprünge helfen zu müssen. Noch vor Schulbeginn.
Lulan wäre gleich beim ersten Agitprop-Termin am liebsten davongelaufen. Das schläfrige, teils mürrische Desinteresse der Arbeiter der Melitta-Werke beschämte ihn. Sie war echt, ihre Ablehnung, kein Propaganda-Spin konnte ihm etwas Anderes weismachen.
„Sie sind noch nicht soweit", sagte Genosse Arno, der aus dem Landkreis Schaumburg stammte und die KOSM anführte seit er aufgrund seiner ideologischen Erfahrung einstimmig zum ersten Vorsitzenden gewählt worden war. Arno war Unterprimaner am Bessel-Gymnasium.
„Die Proletarier stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Ihre kleinbürgerlich-opportunistischen Widersprüche werden sich letztendlich in ein revolutionäres Klassenbewusstsein verwandeln", verkündete Arno. „Sie haben ihre historische Aufgabe noch nicht erkannt, ihnen ist nicht klar, wie viel Macht sie haben! Marx und Trotzki beschreiben exakt diese Haltung und wie es überwunden werden kann!"
Für Arno waren diese Hypothesen unumstößliche Tatsachen. Er stand bei den morgendlichen Flugblattverteilungen nicht schlapp herum wie Lulan - er gab alles!
„Hallo, Genosse!", rief er den Arbeitern hinterher, mit einer lässigen Selbstgedrehten im Mundwinkel. „Kennst du schon unser neues Flugblatt? Was will die KPD/ML? Hier kannst du es nachlesen, Genosse! Bitte sehr! Du bist herzlich eingeladen an unserer Kundgebung teilzunehmen. Samstag um zehn Uhr vor dem Rathaus."
Leider ließ das Proletariat, die tragende Schicht der künftigen Revolution, die Gymnasiasten links liegen! Rückblickend waren deren Agitprop-Einsätze harmlose, kindische Aktionen, die niemandem auch nur ansatzweise geschadet haben könnten.
Der örtliche Verfassungsschutz sah dies Mitte der 70er Jahre, zu Zeiten der RAF, grundsätzlich anders; er schickte seine Beamten vor die Tore des Bessel-Gymnasiums in der Immanuelstraße und ließ die KOSM observieren. Dort standen sie morgens um halb acht, die Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Getarnt als unbeteiligte Passanten, hatten sie sich Fotoapparate um den Hals gehängt, mit denen sie - unbeholfen und sofort durchschaubar - versuchten die Schüler unauffällig abzulichten.
Die KOSM-Aktionen stießen auf die verbissene Gegenwehr einer in Teilen erzkonservativen Lehrerschaft und führten im Fall des Vorsitzenden Genossen Arno R. sogar zu einem Schulverweis. Der Klassenfeind nahm die KOSM ernst, todernst. Teenager mit Flugblättern. Lulan registrierte erstaunt, wie schnell man im Deutschland der 70er Jahre kriminalisiert werden konnte.
Einige seiner Lehrer begannen sich ihm gegenüber feindselig zu verhalten. Er musste sich vor seiner Klasse ironische oder bissige Kommentare und Fragen gefallen lassen. Sogar sein Klassenlehrer Dr. Schöttker, dessen schwabbelige Wangen von tiefen Säbelschmissen durchzogen waren, riss wiederholt höhnische Witzchen über seine KOSM-Mitgliedschaft und hatte jedesmal die krakeelenden Lacher auf seiner Seite.
Dann erhielt er unvorhergesehenerweise diese Einsicht.
Lulan erhielt sie im wortwörtlichen Sinne, denn sie stammte nicht von ihm. Sie war nicht das Produkt seiner eigenen Denkprozesse, sondern kam von »außen«, kam aus der leeren Stille und war unversehens da. Unüberhörbar.
Er hörte eine innere Stimme, die in kurzen Sätzen zu ihm sprach, während verschiedene Bilder wie ein Film in seinem Geist vorüberzogen. Lulan sah die Bilder in einem einzigen Augenblick, alle gleichzeitig. Merkwürdigerweise verblasste die Erinnerung an die Bilder innerhalb weniger Tage. Er konnte Jahre später keines davon reproduzieren.
Ein Satz, der Kern der Botschaft, stach aus der Imagination hervor. Er war scharf formuliert und hallte lange noch nach, um sich einen dauerhaften Platz in Lulans autonom arbeitenden Gedächtnis zu sichern.
Du kannst nur dich selbst verändern!
Dieser Satz überzeugte ihn, dass jede Form von Kampf, der auf die Verbesserung der Welt abzielte, ein Irrweg war. Die Ideen über die Revolution der Arbeiterklasse hielt er von nun an für lächerliche Spinnereien. Sie waren Kokolores, um es in der Sprache der Kumpel aus den Fabrikhallen auszudrücken. Reiner Mumpitz.
Das war die Einsicht, die Lulan erhielt. Es war gewissermaßen die Antwort des Kosmos auf die KOSM. Mit 16 akzeptierte Lulan »seine« Erkenntnis, ohne jemals zuvor von spirituellen Grundsätzen oder Gesetzmäßigkeiten gehört zu haben.
Man kann nur sich selbst verändern – genauso ist es, dachte er. An mir kann und darf ich arbeiten, den Rest der Menschheit „befreien" zu wollen ist kompletter Größenwahn.
Viel mehr dachte er nicht, die Verarbeitung der Angelegenheit verlief hauptsächlich auf einer emotionalen Ebene. Erst rund sechs Jahre später war er in der Lage seine Gefühle halbwegs sinnvoll zu artikulieren:
Dem Proletariat wird die Revolution solange am Arsch vorbeigehen, wie die Arbeiter satt sind, die Bundesliga spielt, ausreichend Bier vom Zapfhahn fließt und sie sich einen eigenen Wagen und eine Flimmerkiste leisten können.
Natürlich hatte Lulan sich gefragt, ob es neben der Revolution der Arbeiterklasse nicht auch andere Möglichkeiten gab die Welt zu verbessern. Welche historischen Personen hatten den Lauf der Weltgeschichte positiv beeinflusst? Seine Überlegungen endeten meistens bei Che Guevara, dem gescheiterten Revolutionär, dessen tragisches Ende die Utopie kommunistischer Umsturzkonzepte zu bestätigen schien.
Figuren, deren unheilvolles Wirken die Welt zum Schlechten veränderte, schien es wie Sand am Meer zu geben. Hitler, Franco, Pinochet, geisteskranke Diktatoren, die langfristig und über regionale Grenzen hinaus grauenhaftes Elend verursacht hatten.
Weltverbesserer hingegen fielen ihm nicht ein, außer dem Heiland vielleicht, der laut Pastor Arning sein Leben am Kreuz geopfert habe, damit alle Menschen erlöst würden. Das Schicksal des Erlösers hatte Lulan als Kind tief gerührt; zehn Jahre später beurteilte er Jesus nach Kriterien des dialektischen Materialismus. Was genau hatte Christus denn schon bewirkt? Wurde die Welt 2000 Jahre nach seinem Tod nicht mehr denn je von heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäern regiert? Es war alles beim Alten geblieben. Die Ausbeutung der Schwächeren, die Knechtschaft der Entrechteten und die Vernichtung all jener, die zu Feinden erklärt wurden - das Leiden der Menschheit war eine Konstante. Folglich schieden Che Guevara und der Tischlersohn aus Nazareth für Lulan als erfolgreiche Weltverbesserer aus.
Ihm wollte nicht in den Sinn kommen, dass der Einsatz eines jeden Friedensstifters, Revolutionärs oder Dissidenten, einer Ärztin oder Seelsorgerin, ganz allgemein von Hilfe, die über die Grenzen des Selbstverständlichen hinweg angeboten wird, die Menschenwelt zu einem besseren Ort werden lässt.
Man kann eine spirituelle Gewahrwerdung nicht der inneren, reflexiven Analyse kontroverser Zusammenhänge gleichsetzen. Was eine metaphysische Erfahrung besonders macht, kann mit Worten nur ungefähr erfasst werden. Der Realisierungsprozess erhellt einen bestimmten Gedanken, verleiht ihm Inhalt, scheinbar ohne erkennbaren Anlass, als würden ehedem leere, kaum beachtete Worthülsen mit Bedeutung gefüllt und weithin sichtbar in strahlendes Licht gerückt. Das einmal Realisierte bleibt, es ist beständig.
Lulan handelte konsequent und verließ die KOSM einige Wochen nach seiner Erkenntnis. Ebenso konsequent hielten ihn die überraschten Genossen - die nichts von seinen Überlegungen wussten - für einen Verräter der Konterrevolution. Sie sahen in ihm einen widersprüchlichen Opportunisten, dem die egoistische Erfüllung seiner eigenen Ziele näher am Herzen lag als die Weltrevolution. Man sprach nicht mehr mit Lulan und warf ihm auf dem Schulhof verächtliche Blicke zu.
Seine Mitstreiter verstanden ihn nicht. Daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen, denn Lulan verstand ja selbst nicht den tieferen Sinn, der sich hinter seiner undenkbaren Wende verbarg.
Doch das Undenkbare sind lediglich Gedanken, die nicht zugelassenen werden. Wenn man aufhört Hypothesen, Konzepte oder Ideologien zu hinterfragen, verhindert man Lernprozesse und schränkt seine objektive Urteilsfähigkeit ein. Durch Ignoranz verweigert man sich und anderen die Möglichkeit der Einsicht.
Wer sich selbst verändern möchte, rückt irgendwann automatisch das Ego in den Fokus seines Bewusstseins. Das »Ich« wird zu einem Forschungsobjekt, und seine kritische Evaluierung ist unvermeidlich eine anti-egoistische Maßnahme. Wenn der Selbstüberprüfung auch der Wille zur Veränderung folgt, wird gerade die Überwindung des Egos zur hauptsächlichen Aufgabe einer Körperperson.
Erst Jahrzehnte später erkannte Lulan den spirituellen roten Faden, der sich kausal stimmig durch sein Körperleben zog, und er begriff die Tragweite seiner Teenager-Vision. Du kannst nur dich selbst ändern! - dieser Gedanke bildete eine spirituelle Keimzelle, dessen Erbgut das Programm einer weitaus radikaleren Revolution als die der Arbeiterklasse enthielt, nämlich die Revolution des unfreien Geistes gegen den didaktorischen Imperialismus des Egos.
Nieder mit der Herrschaft des heuchlerischen Defätisten, Schluss mit der Ausbeutung des selbstständig denkenden Bewusstseins! Es lebe die Realisation des wahren Selbst!
Die Einsicht, die Lulan erhielt, war Ausdruck einer universellen Gesetzmäßigkeit. Die innere Stimme spricht zu allen Körperpersonen.
Selbst den Genossen der KOSM war die Kernbotschaft geläufig. Sie verkündeten sie singend (aus voller Brust):
Es rettet uns kein höh'res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!
Die ersten beiden Zeilen dieser Strophe der Internationalen stehen allerdings im Widerspruch zu der alten Volksweisheit, die besagt, dass Gott denen helfe, die sich selbst hielfen.
Auch Tante Gerda aus Hitzepohl kannte eine Variante der Botschaft. „Wenn es dir schlecht geht, hilft dir keiner, Stefern!", mahnte sie (und sprach Lulans Namen wie gewohnt seltsam falsch aus). „Du kannst dir nur selber helfen!"
Es blieb nicht bei dieser einen Einsicht. Zwei Jahre nach seinem Austritt aus der KOSM erfuhr Lulan eine weitere Eingebung, die sich ebenfalls unauslöschlich in sein selektives Gedächtnis eingeprägt hat. Zum zweiten Mal geschah es in der Hausberger Dienstwohnung, und wieder war er allein im Haus.
Lulan mochte die Weitläufigkeit der Dachgeschosswohnung, besonders den Ansichtskartenblick auf den Porta-Berg, auf dem ein überlebensgroßer, steinerner Kaiser Wilhelm seit 1896 seinen mächtigen Arm zum verlangenden Gruß gen Osten streckte. Pünktlich zu Beginn jedes Frühlings pinselten irgendwelche Spaßvögel Wilhelms Stiefel mit roter Farbe an, wodurch die pathetische kaiserliche Geste zu einer drolligen Nummer degradiert wurde. Die Nacht- und Nebelaktion wurde dann jeweils tags darauf in einem Vandalismus-Bericht des Mindener Tageblatts scharf verurteilt.
Der Kaiser schien Lulan zu grüßen, der steinerne Arm zeigte zufälligerweise genau in seine Richtung, wenn er am großen Wohnzimmerfenster stand und zum Berg hinaufblickte.
In der leeren Wohnung, mit sich allein, zelebrierte Lulan die Sensation einer erregenden Spannung, die er ungestört ausleben konnte. Der Wunsch tief in sich hineinzublicken veränderte seine Sensorik. Er ging mit verzögerten Schritten von Raum zu Raum, in Slow Motion, wie ein Wünschelrutengänger, die innere Stille auslotend, in alle Richtungen horchend, während die helle Stimme von Joni Mitchel aus dem CD-Spieler in der Küche durch die gesamte Etage vibrierte. Lulan suchte nach etwas, von dem er mehr wollte, ohne genau zu wissen, was es war oder wie er es gezielt erreichen konnte. Er wusste nur, wie es war, das ziehende Verlangen in Brust und Kehle, ein Strom, von dem er high wurde, fließende Inspiration, die Botschaften und Bilder mit sich führte.
Wenn er dieses Gefühl doch häufiger zum Strömen bringen könnte! Unaufhörlich am liebsten. Leider floss es eher selten, trat spontan auf, vielleicht ein- oder zweimal pro Jahr. Merkwürdigerweise strömte es immer nur, wenn er alleine war.[1] Die zusammengesetzte Begriff Agitprop bezieht sich auf die kommunistische Agitation und Propaganda, die als Aktionsform der Umsetzung des revolutionären Klassenkampfes dient.
Erinnerungen
Juli 1974, Hausberge
Im Flur klingelte an jenem Tag das Telefon in die Stille hinein. Ich nahm den Hörer ab, widerwillig, und überwand die Neigung, den Apparat einfach klingeln zu lassen. Mein Vater, der als Hausmeister während seiner Dienstbereitschaft erreichbar sein musste, hatte mir eingeschärft, jeden Anruf umgehend zu beantworten. Egal, wer anrufe, ich hätte unbedingt jedem auszurichten, dass er (mein Vater) kurz zu Langbehn gefahren sei, um Schrauben oder Dichtungsringe zu besorgen. Oder Schleifpapier, ich könne nicht stumpf dasselbe sagen, das würde auffallen.
Der ist bei Langbehn! - dieser Satz wurde zur Standardlüge, die ich Anrufern peinlicherweise auftischen musste, denn mein Vater war recht häufig unterwegs. Entweder war er nach Schulschluss zum Angeln an die Weser gefahren oder er besuchte einen seiner obskuren Bekannten, um Antiquitäten für seine Hobby-Sammlungen zu ergattern (Taschenuhren, preußische Zinnsoldaten samt Marketenderinnen, antike Grubenlampen, bemalte Teller und derlei Dinge).
Ich griff also zum Hörer und richtete dem Anrufer aus, mein Vater sei unterwegs, und zwar bei Langbehn in Minden, wo er Dichtungsringe und Schrauben besorgen wollte. Es mag ein Heizungsmonteur gewesen sein oder ein Verwaltungsangestellter der Stadt, an die Details des Telefonats habe ich nicht die leiseste Erinnerung.
In dem Moment, als ich den Telefonhörer aufnahm, hörte ich in mir eine Stimme, die sauber artikulierend »sprach« - und zwar unabhängig von meinen eigenen Gedanken!
***
Du kannst alles werden, was du dir wünscht.
Alle Wege stehen dir offen.
Es gibt keine Begrenzungen.
***
Dazu erschienen – wie bereits zwei Jahre zuvor - in meinem Geist Bilder wie aufeinanderfolgende Illustrationen, flüchtige Motive, die den Eindruck ausgelassener Fröhlichkeit hinterließen.
Obwohl diese Vision detailreich und umfangreich war, dauerte sie paradoxerweise nur einen winzigen Sekundenbruchteil, denn ich tischte dem Anrufer kohärent und ohne zeitliche Verzögerung die Langbehn-Geschichte auf.
Ich wusste, dass die Vision kein leeres Versprechen war. Ich akzeptierte sie – wie schon zuvor - ohne sie anzuzweifeln.
Noch Tage später rief ich mir die Bilder vor Augen. Jedes Bild war eine neue, mir offenstehende Zukunftsvariante. Ich sah mich als Künstler, Musiker, Tischler, Wissenschaftler, Gigolo und Bauer, es kamen noch einige weitere Lebensperspektiven dazu. Ob die Möglichkeiten tatsächlich unbegrenzt waren, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, doch ich weiß noch, dass ich mich frei fühlte wie eine Möwe im Sommerwind. Die ganze Sache schmeckte süß und vielversprechend, ich war erfüllt von Zuversicht.
Erinnerungen
September 1974, Porta Westfalica
Ich komme gestern Abend gegen halb zwölf fett zugedröhnt nach Hause. Der Joint, den wir eine Stunde zuvor in der Teebierstube geraucht hatten, war der Hammer! Ich war stoned, allmighty monkey tops, fast wie auf einem LSD-Trip. Keine Ahnung, was für Zeug in dem Joint drin gewesen ist.
Ich hatte extra den letzten Bus genommen, in der ängstlichen Hoffnung, dass die Alten schon im Bett liegen. Aber als ich die Haustür aufschließe, sehe ich, dass im Flur noch Licht brennt. Alter Schwede! Ich kriege fast einen Herzkasper, als ich am Ende des langen Flurs vor meinem Zimmer meine Mutter sehe! Sie steht dort im Nachthemd und hängt Wäsche auf. Um halb zwölf! Ich dachte, ich falle vom Sockel!
Der Flur schien mit jedem Schritt länger zu werden, während ich mich krampfhaft darauf konzentrierte möglichst »normal» und unauffällig an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer zu gleiten. Ich stöckel auf sie zu und begrüße sie mit einem freundlich saloppen „Tudelu!", wobei ich eine unbeholfene, winkende Armbewegung machte.
Sie war sofort alarmiert: „Was ist mit dir denn los? Hast du Alkohol getrunken?"
An der Stelle beging ich einen schweren taktischen Fehler. „Nein, nichts! Gar nichts!", behauptete ich dämlicherweise. Anstatt die Steilvorlage mit dem Alkohol anzunehmen und direkt in eine harmlose Flunkerei zu verwandeln. Hätte ich gesagt „Ja, wir haben ein paar Bier getrunken. Olaf hat einen ausgegeben, er hat heute Geburtstag", wäre alles in Ordnung gewesen. Aber nein, ich schieße ein Eigentor! Und nun läuft mir meine Mutter in mein Zimmer hinterher und bohrt aufgebracht weiter.
„Du hast was getrunken! Hauch mich mal an!"
„Nein, hab´ ich nicht. Nichts!"
So geht es einige Minuten hin und her, bis ich meinen Widerstand nicht länger aufrecht halten konnte. „Okay, gut! Wir haben einen Joint geraucht!"
Sie bekommt fast einen Nervenzusammenbruch und überschüttet mich mit hysterischen Vorwürfen. Sie ist im Panikmodus, echt hypernervös! Als sie mein Zimmer verlässt, brauche ich 10 Sekunden, um mich auszuziehen und ins Bett zu springen. Bekifft, wie ich bin, ziehe ich mir die Decke über den Kopf und versuche mir vorzustellen, dass ich weit weg und woanders bin.
Leider klappt es nicht, denn nach dem Vorgeplänkel fängt das richtige Drama jetzt erst richtig an. Die Tür geht auf, die grelle Neon-Beleuchtung wird eingeschaltet, und jetzt kommen sie beide reingestürmt, mein Vater und meine Mutter. Ich bekomme nur Fragmente ihrer Tiraden mit; sie reden salvenartig auf mich ein. Ich bleibe still, ich habe nichts zu sagen. Sie ziehen aufgebracht und verzweifelt alle Register und sind entschlossen, sofort zu handeln.
„Du ziehst dich jetzt an! Wir gehen zur Polizei!"
„Das kann nicht wahr sein! Was wollt ihr denn da?", höre ich mich fragen, doch eigentlich möchte ich die Antwort lieber gar nicht wissen. Das Drama wird zur Groteske, Mann! Zum Vorgartenzwergenaufstand!
Meine Stimme klang wie aus der Ferne, meist sagte ich nichts. Die Alten spulten ein schnulziges Programm ab. Ich bin Statist und Zuschauer zugleich. Jemand, der in einem sonderbaren Film die Hauptakteure beobachtet und registriert, dass deren Overacting die Szene ruiniert. Nach einer zähflüssigen Weile haben meine Eltern den Gang zur Polizei aufgegeben und drohen dafür mit einem ähnlich schusseligen Plan.
„Morgen gehen wir als erstes zu einem Arzt! Du gehst morgen nicht in die Schule, wir gehen zum Arzt!"
Mit dieser Ankündigung gaben sie sich vorerst zufrieden und zogen ab. Endlich. Ich fiel erschöpft in den trostvollen Schlaf des Vergessens.
Hier und Jetzt
Am nächsten Morgen hatten Lulans Eltern ihre nächtlichen Pläne „fürs Erste" aufgegeben. Betrüblicherweise sahen sie in ihrer Panik den Gang zur Polizei oder zum Arzt als naheliegenden Schritt den „Rauschgiftkonsum" ihres Sohnes in den Griff zu bekommen. Sie sahen ein Problem, dass es in Wahrheit gar nicht gab. Es existierte nur in ihren Köpfen, in ihren Gedanken. Für Lulan war das Erlebnis jenes Abends ein Horrortrip im roten Alarmstufenbereich. Bedrohlich, Angst erzeugend, deprimierend. Wegen eines Joints! Wenn wir heute über diese oder ähnliche Episoden herzhaft lachen können (Lulans Eltern einmal ausgenommen), ist das ein erfreulicher Fortschritt. Denn es bedeutet, dass sich Deutschland in den vergangenen 40 Jahren positiv verändert hat. Dem Himmel sei Dank (und zu einem nicht unwesentlichen Teil auch den Kiffern)!
1976 beginnen Lulans Tagebuchaufzeichnungen. Zum achtzehnten Geburtstag seines Körpers bekam er von einer Freundin, Marianne, ein Tagebuch geschenkt. Marianne hatte ein Zitat von Hermann Hesse auf die erste Seite geschrieben:
Ein erreichtes Ziel ist kein Ziel.
Lulans erster Eintrag bezog sich auf das Zitat.
August 1976
Porta Westfalica
Hier und Jetzt
Auf der dritten Tagebuchseite steht ein Gedicht, das eine Grundhaltung zum Ausdruck bringt. Lulan hat 1984 sogar versucht dieses Lebensgefühl in einem Bild festzuhalten, denn das war die ursprüngliche Intention des Gedichts. Hier und Jetzt erscheinen Bild und Gedicht mit Lulans Körperleben fest verwoben, wie eine prophetische Quintessenz.
Als er die Verse nach 44 Jahren literarisch verwenden wollte, sagte ihm der Sprachstil nicht mehr zu, er fand die schwärmerisch-kitschige Teenager-Lyrik albern und probierte das Gedicht sprachlich anzupassen. Es gelang ihm nicht, mit jedem neuen Versuch ging Wort für Wort ein Stück Authentizität verloren. Das folgende Gedicht entspricht wortwörtlich Lulans Originalfassung.
Herbst 1976
Porta Westfalica
1. Bild
Die unermessliche Weite,
bis zum Horizont reicht dein Sand,
wo die hohen Berge
mich nicht mehr beengen können.
Vielmehr ein unnatürlicher Stacheldrahtzaun.
Und der Weg, den ich gehen muss,
so schmal und eng
trotz der Unermesslichkeit.
Und links und rechts
mitunter saftige Trauben
oder kühles, klares Wasser,
um mir den staubigen Weg zu verleiden.
Und zweifelsschwanger
stehe ich staunend:
schöne Frauen und Horrorgestalten,
komme ich an euch vorbei?
Doch dann sehe ich in weiter Ferne,
weit hinten,
nach unglaublichen Hindernissen,
mein Ziel.
Viel blasser als die schillernden Farben
jener falschen Verheißungen.
Viel schlichter in Form und Gestalt,
auch ein wenig unbekannt,
aber Vertrauen einflößend
mit seiner absolut wirkenden Beständigkeit
und lächelnd und gut
steht es dort hinten,
ganz weit,
aber nah, solange ich es sehe,
und wartet auf mich.
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