Der unerfahrene, sich selbst überlassene Ego-Geist
verschwendet haltlos alle ihm anvertrauten Schätze
und erkennt das Leid nicht, das ihn dadurch erwartet.
***
Hier und Jetzt
Mit siebzehn konnte Lulan es kaum noch erwarten volljährig zu werden. Sein Vater, seine Mutter, sie wussten beide, dass ihr Sohn noch am Tag seines achtzehnten Körpergeburtstags ihr Haus verlassen würde. Daran ließ er keinen Zweifel aufkommen.
„Mit achtzehn werde ich mir ein Zimmer zur Miete suchen", versicherte er seiner Mutter. „Wenn ich mein Kindergeld von euch bekomme, komme ich gut zurecht. Den Rest verdiene ich mit Zeitungaustragen dazu."
Lulans Mama war seine Verhandlungspartnerin, seine Fürsprecherin und zugleich seine Vertraute; zwischen Vater und Sohn herrschte Sprachlosigkeit. Sie redeten selten direkt miteinander. Obschon im Hier und Jetzt die eigentliche Kommunikation in der Stille stattfindet, fiel ihr wechselseitige Schweigen nicht in diese Kategorie.
„Man kann mit ihm nicht diskutierten", sagte Lulan, „es geht einfach nicht. Er wird laut und fängt zu schreien an, wenn ihm die Argumente ausgehen."
Der Mann, der kein guter Vater sein konnte, war mit der Entwicklung seines freiheitsliebenden Sohnes hoffnungslos überfordert. Er hatte keine Kontrolle mehr über den Heranwachsenden, er verstand ihn nicht. Die Eltern wussten seit einem Jahr, dass Lulan kiffte, „Rauschgift nahm", wie sie es nannten. In ihrer Hilflosigkeit befürchteten sie, dass er seinen Weg in die Drogenabhängigkeit bereits unumkehrbar vollzogen habe.
„Ihr braucht das Kindergeld ja nicht mehr, wenn ich hier nicht mehr wohne!", blieb Lulan hartnäckig am Ball. Es brauchte einige Zeit, und nach vielen Diskussionen bekam er ein mühevoll erstrittenes »Ja« als Antwort. Sie waren bereit ihm sein Kindergeld zu überlassen.
Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt zu Lulans nächstem Etappensieg. Er sprach weiterhin nur mit der Mutter. Seines Vaters Wort war Gesetz, seine Mama hingegen musste ihn loslassen können und wollen. Vermutlich half ihm bei seinen Überredungsversuchen, dass seine Mutter damals selbst mit dem Gedanken gespielt haben musste, ihren Mann zu verlassen.
„Ob ich jetzt mit achtzehn ausziehe oder mit siebzehneinhalb, macht keinen großen Unterschied", behauptete Lulan. „Mit achtzehn ziehe ich eh aus! Was macht ein halbes Jahr jetzt für einen Unterschied? Gar keinen!"
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit brachte er sein Anliegen vor. Seine Argumentiererei musste an ihren Nerven gezerrt haben, und als sein Körper siebzehneinhalb Jahre alt war, durfte Lulan das familiäre Heim noch vor dem Erreichen der Volljährigkeit verlassen. Seine Eltern konnten ihn nicht mehr halten und ließen ihn mit kummervollen Mienen gehen.
Im Frühjahr 1976 zog Lulan aufgeregt und überglücklich in eine WG der Drogenberatungsstelle Minden ein. Das WG-Haus, ein charmanter, schiefer Altbau in der Petersilienstraße, war ein Pilotprojekt der Mindener DroBs. Hier sollten Drogenabhängige mit nichtabhängigen szenenahen Personen zusammenwohnen, verbunden mit der Hoffnung die Heroin- und Methadongebraucher gesellschaftlich zu reintegrieren und gegebenenfalls clean zu bekommen.
Lulan gehörte zu den Nichtabhängigen, ein für manche Außenstehende nicht besonders transparenter Begriff, da alle Bewohner der WG gelegentlich bis regelmäßig kifften. Der Unterschied zwischen weichen und harten Drogen war nicht jedermann geläufig. Auch Lulans Eltern hatten Schwierigkeiten das fortschrittliche Wohnmodell der DroBs einzuordnen. Erst ein Gespräch mit dem netten, engagierten Leiter der Beratungsstelle konnte sie beruhigen.
Kiffen war in den 1970er Jahren eine hochkonspirative Angelegenheit, der Besitz von Cannabis war illegal, ebenso der Hanel und Konsum. In den Augen der bürgerlichen Gesellschaft galten Kiffer häufig als kriminelle Nichtsnutze. Der zerstörerische Konsum von Alkohol wurde dahingegen oft erst dann als Drogenmissbrauch eingestuft, wenn sich das Suchtverhalten nicht länger übersehen ließ. Alkoholiker waren Körperpersonen, denen schon morgens nach dem Aufstehen die Hände zitterten bis sie zum Frühstück eine Flasche Wacholder verputzt hatten.
Das Wohnerlebnis in der Petersilienstraße währte einen Sommer lang. Die DroBs löste ihr WG-Projekt auf, als das windschiefe, schmale Haus abgerissen werden sollte. Für Lulan war es ein leichter, fröhlicher Sommer, er lachte viel, beim gemeinsamen Kochen mit Andrew und Carola, in der Altstadt mit Yvonne und Christiane, die beide in jedem zweiten Satz fluchten und schimpften. Nur mit Herbert gab es nicht viel zu Lachen. Herbert, der nicht loskam vom »Äitsch«, und mit dem Lulan naiv-optimistisch von Spaziergängen bis zu gemeinsamen Ausstellungsbesuchen alles unternahm, um ihn vom nächsten Schuss abzuhalten,
Herbert war ein lieber, gutmütiger Kerl, der Lulan an seinen Opa erinnerte. Wochenlang wich er nicht von Herberts Seite und ließ nicht nach diesem ein Leben ohne Heroin schmackhaft zu machen - er hatte nicht den Schein einer Chance. Sobald der Abend dämmerte, stakste Herbert auf hohen Stiefelabsätzen und mit weiten Schlaghosenbeinen durch die Mindener Kopfsteinpflastergassen auf der Suche nach einem Score, und wenn er seinen Stoff nicht auftreiben konnte, nahm er, was er in die Finger bekam: Methadon, Vodka, Cannabis, Koks.
Sich zu berauschen, darunter versteht man eigentlich ausschweifende Freudenfeste, dachte Lulan, lustvolle Entrücktheit, ekstatische Tänze und dergleichen. Wenn Herbert endlich zugeballert war und seinen Flash bekommen hatte, wirkte er ganz normal, eher ein wenig schläfrig und einsilbig. Anzeichen eines euphorischen Rausches waren jedenfalls nicht erkennbar. Schon bald nach einem Kick kamen die Gedanken an den nächsten, und dann zog Herbert wieder fröstelnd durch die Altstadt, mit ernstem Gesicht und kleinen Schweißperlen an den Schläfen. Der Fixer ertrug sein Elend stoisch.
Dies ist Herberts Arbeit, stellte Lulan lakonisch fest, seine Hauptbeschäftigung, die seinem Lebensunterhalt dient. Es tat ihm leid machtlos mitansehen zu müssen, wie eine unerbittliche Kraft Herbert in den Untergang zog. Lulan verstand den Sog der Sucht intuitiv als Warnung. Was er sah, war die Hölle auf Erden, ein Leidensweg ohne Hoffnung, und er nahm sich vor, gut aufzupassen, um nicht auf die gleiche Einbahnstraße zu geraten. Vom Heroin würde er definitiv die Finger lassen, Herberts Suchtspirale musste er nicht am eigenen Leib erfahren.
Nach dem Auseinanderfallen der DroBs-Wohngruppe fand Lulan im Spätsommer 1976 ein möbliertes Zimmer, das zur Untermiete angeboten wurde. Sein neues Zuhause befand sich in der ersten Etage eines größtenteils unbewohnten Anwesens. Lulan hatte einen separaten Eingang. Wenn er die Haustür öffnete, betrat er die sterile Stille einer Ehrfurcht gebietenden Reinlichkeit, die nach Bohnerwachs und Möbelpolitur roch. Sein staubreines Zimmer im 50ger-Jahre-Flair hätte der Raum aus dem Gemälde Die persönlichen Werte von René Magritte sein können. Sogar der bei Magritte überdimensionierte Rasierpinsel war in seinem Zimmer vorhanden, obschon in einem handelsüblichen Format.
Die Vermieterin des Bohnerwachszimmers, eine Spediteurswitwe, war eine spröde, knochige Dame, die sich unangekündigt blicken ließ, um misstrauisch zu kontrollieren, ob es bei ihm gesittet und mit rechten Dingen zuging. Ohne die Begleitung seiner adretten Mutter beim ersten Besichtigungstermin hätte die Witwe Lulan vermutlich nicht als Untermieter angenommen.
Auch als solitärer Untermieter genoss Lulan weiterhin jede Minute seiner neuen Autonomie. Er war sein eigener Herr, befreit von der Bevormundung der Eltern, und er hielt sich für unabhängig und selbstständig. Der süße Rausch der Freiheit erfüllte ihn mit einer überschäumenden Lebenslust – er konnte alles selbst entscheiden. Doch worin bestand seine Unabhängigkeit eigentlich, nüchtern betrachtet? Die Freiheit, uneingeschränkt entscheiden zu können, betraf streng genommen nur zwei Gewohnheiten. Er ging zu Bett, wann er wollte, und er trank so viel Alkohol, wie er vertragen konnte.
Lulan war jetzt 18 und hatte zwar alle vier Weisheitszähne, aber noch viel zu lernen. Er war auf sich allein gestellt, es war niemand da, um ihm Vorschriften zu machen. Oder ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Kaum dem Elternhaus entflohen und auf sich selbst gestellt, entwickelte er einen neuen Wesenszug, der ursprünglich bloß ein harmloser Gedanke war.
"Sagenhaft! Ich schaffe alles locker alleine!", stellte er eines Tages nebenbei fest. Behördengänge, die pünktliche Zahlung der Miete, Arztbesuche, Schriftverkehr, die tägliche Versorgung mit Nahrungsmitteln und Getränken - Lulan bekam alles auf die Reihe. Er schaffte es ohne andere sogar besser, denn was er selbst machte, entsprach exakt seinen Wünschen, ohne dass er gezwungen war Abstriche zu machen oder Kompromisse einzugehen.
Diese Annahme sollte sich als eine folgenreiche Fehleinschätzung erweisen. Der Gedanke alleine alles besser zu können förderte eine unliebsame Charaktereigenschaft und brachte eine neue Akteurin in prachtvoller Kostümierung auf die Bühne von Lulans Ego-Muppet-Theater. Sie nannte sich Signora Arroganza und sah überlegen lächelnd auf ihr Publikum herab.
Durch seinen zügellosen Freiheitsdrang war Lulan auf dem besten Weg, sich in bedenkliche Abhängigkeiten zu begeben. Er sah nicht, dass das Ausleben vermeintlicher Freiheiten in Unfreiheit enden kann. Dass die Unfreiheit des Genusssüchtigen seine Sucht ist und eine Versklavung nicht ausschließlich auf Heroin beschränkt sein muss. Es sind nicht die Rauschmittel die in die Abhängigkeit führen, sondern der Ego-Geist, der sich entscheidet diese Mittel zu konsumieren. Auch der Konsum von Macht kann zum Rauschmittel werden, ebenso die Dominanz über andere, die Gier nach Aufmerksamkeit. Der Kreislauf der Sucht bestimmt souverän jeden Schritt, jeden Gedanken, Tag für Tag.
Lulan bemerkte weder den Abgrund, an dessen Rand er entlang balancierte, noch erkannte er, dass sein Tagesablauf eine triviale Gleichförmigkeit angenommen hatte. Er stand morgens auf, frühstückte und fuhr mit dem Rad zur Schule. An Wochentagen erledigte er nach der Schule Einkäufe und andere Haushaltsarbeiten, an Wochenenden fand sein Hausputz statt. Der geregelte Ablauf der täglichen Routinen war sein innerer Halt.
Die Alltagsroutinen waren denen seiner Eltern auffallend ähnlich, mit Ausnahme der Ernährung vielleicht. Lulans Mahlzeiten bestanden vorrangig aus Spiegeleiern, Bratkartoffeln, Dosenfisch und Päckchensuppen mit Würstchen.
In einem weiteren Punkt wich sein bürgerlicher Alltag grundlegend vom Leben der Eltern ab: Am späten Nachmittag, wenn alle Pflichten erfüllt waren, begann das »richtige Leben«. Wenn er sich auf den Weg machte, erwachten seine Lebensgeister. Dann verdunstete der strenge Bohnerwachsgeruch, dann ging Lulan »auf die Jagd«, pendelte durch die Party- und Discoszene, tingelte durch Kneipen und landete am Ende oft noch „zum Absacken" in der Teebierstube. Was ihn motivierte, wonach er jagde, hinterfragte er nicht. Er suchte den »Kick«, was immer das sein mochte. Eine Eroberung für eine Nacht, sexuelle Fantasien, hemmungslose Leidenschaft.
Waren sein Verlangen nach sinnlicher Befriedigung und das, was sein Herz begehrte, ein und dasselbe? Die Sehnsucht nach Liebe findet durch einen One-Night-Stand keine Erfüllung - Lulans berauschte Suche war vergeblich, er wurde nicht fündig. Das Verlangen des Ego-Körpers kann naturgemäß nicht dauerhaft befriedigt werden, und jede Ersatzbefriedigung bewirkt nur eine kurzlebige Unterbrechung des Verlangens. Man kann niemals genug davon bekommen. Wahrer Frieden wird nicht erlangt, nur das begehrliche Fordern des Egos verstummt für eine Weile.
Macht kaputt, was euch kaputt macht, sangen die Scherben. Lulan blieb oft bis in die Nacht hinein. Wenn die arbeitende Bevölkerung längst schlief, war er hellwach. I can't get no satisfaction, sangen die Steine.
An den Fixer Herbert dachte er nicht mehr. Oft war er einer der Letzten, die gingen, er wollte nicht, dass der Spaß ein Ende fand. Der Durst auf mehr und der Alkohol selbst verliehen ihm die nötige Energie bis zum Schluss auszuharren.
Wenn Lulan spätabends angeduselt die Teebierstube verließ, freute er sich bereits auf sein Junggesellenzimmer. In der Stille seines Reichs konnte er bis zum Morgengrauen seinen Gedanken und Fantasien nachgehen, weitersuchen, nach dem besonderen Kick, nach einem großen Gesang, einer fantastischen Zeichnung oder einem Gemälde. Und er konnte noch ein paar Gläser trinken, im Glücksnebel versinken, vor sich hinträumen, bis der Schlaf ihn am Ende erlöste.
Der Theorie der Nichtlinearen Dynamik zufolge können schon kleinste Ereignisse zu umfassenden Veränderungen globaler Regelsysteme führen. Die wohl bekannteste Analogie ist der berüchtigte Flügelschlag eines Schmetterlings, der in einer langen Reaktionskette einen Tornado auf einem anderen Kontinent auslöst. Lulans Vater hatte durchaus richtig gelegen: Von nichts kommt nichts. Jedes Ereignis, jede Reaktionskette hat einen Ursprung, ohne Anlass kann nichts geschehen. Auch die Lebenswege der Menschen sind diesem Naturgesetz unterworfen.
Im Haus der Spediteurswitwe taumelte Lulan ohne Zwang und weitgehend ahnungslos von einer Entgleisung zur nächsten. Es ist gemeinhin bekannt, dass Dummheit nicht vor Strafe schützt, auch wenn sich bei vorsätzlich begangenen Taten in der Regel das Strafmaß erhöht. Mit achtzehn sollte man allmählich alt genug sein, um die Folgen seines Verhaltens absehen zu können. Kein Fehler, keine Handlung, bleibt folgenlos, ob unschuldig begangen oder nicht. Nur Wunder können die Auswirkungen einer Handlung außer Kraft setzen.
Viele Jahre später zuckte Lulan vor Schreck zusammen, als ihm in einem hellen Moment die direkten Folgen seiner genusssüchtigen Auswüchse bewusstwurden. Er sah ein langes, schmerzhaftes Ringen um inneren Frieden und Stabilität, das den Verlauf seines Körperlebens dominierte. Er erinnerte sich an einen sonnigen Spätsommertag, als er aus einer Experimentierlaune heraus von Bier zu Jamaica-Rum wechselte. Lulan erzählte später, er habe ohne besonderen Anlass gehandelt, einfach so. Weil an dem Tag die Sonne geschienen und im Supermarkt die gold-rotbraune Flüssigkeit in einer Rumflasche so verlockend aufgeleuchtet habe. Daraufhin habe er sich spontan entschieden die Flasche zu kaufen.
Mit dem Rum «veredelte» er heißen, gesüßten Tee, was fatalerweise köstlich schmeckte. Nach einigen Wochen stellte er eines morgens verkatert fest, dass die Flasche, die er am Tag zuvor gekauft hatte, nur noch einen Fingerbreit Rum enthielt. Lulan war schockiert und begann über Auswege aus diesem Schlamassel nachzudenken. Was leichter gesagt als getan war.
Gottlob gelang es ihm, den steilen Absturz, der in den schweren Alkoholismus führt, im entscheidenden Moment zu verhindern. Es gab eine Grenzlinie, sehr fein und dünn, vor der er Halt machte. Jetzt dachte er wieder an Herbert, dessen Suchtverhalten ihm eine Warnung war und diese innere Grenze aufgezeigt hatte. Warum sie ausgerechnet zwischen Bier und Rum verlief, wusste Lulan nicht - er weiß es bis heute nicht. Der Grenzwert hätte genauso gut fehlen oder in einem größeren Toleranzbereich liegen können.
Lulan beschloss fortan beim Bier zu bleiben. Der Plan funktionierte. Sein Konsum war im Großen und Ganzen über die Jahre stabil geblieben. Von Zeit zu Zeit kam es zu unkontrollierten Entgleisungen, von denen er sich jeweils auf seinen Normalpegel zurückkämpfen musste.
Die negativen Auswirkungen von Lulans eskalierenden Trinkgewohnheiten betrafen verschiedene Ebenen. Der Konsum von Alkohol raubt dem physischen Körper wertvolle Energie, auch das emotional-mentale Gleichgewicht wird entregelt. Lulans Konzentrationsvermögen ließ nach, nicht zuletzt, weil er gleichzeitig auch noch kiffte. Auf einer höheren, spirituellen Ebene befand sich sein geistiges Bewusstsein in einem schweren Zwiespalt. Auf der einen Seite agierte die Genussucht des Egos, sie war die treibende Kraft, die Befriedigung verlangte und durchsetzte. Ihr gegenüber äußerte die Stimme der Vernunft Bedenken angesichts der bedrohlichen Eskalationen. Innere Zwiespalte kosten wie alle Konflikte ebenfalls Zeit und Energie.
Die Seite, die mehr Energie erhält (und dadurch enthält) setzt sich durch. Wenn zwei einander entgegengerichtete Kräfte gleich stark sind, befinden sie sich in einem Gleichgewicht, das, abhängig von den Einflüssen der Umgebungsvariablen, eine mehr oder weniger stabilen Zustand einnehmen kann.
Bei manchen Menschen bewaren die Antagonisten Ego und rationaler Verstand eine körperlebenslange Ausgewogenheit, in der sich das Ego unauffällig und maßvoll verhält. In seinen wilden Jahren sah Lulan verächtlich auf die Unauffälligen und Maßvollen herab. Er hielt sie für langweilige Spießer. Lulan wollte alles.
Man musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um das Ende von Lulans Gymnasiastenkarriere vorauszusagen. Seine bis dahin mittelmäßigen schulischen Leistungen legten zum Ende des ersten Schulhalbjahres 76/77 einen rasanten Abfahrtslauf an den Tag.
Erinnerungen
Januar 1977, Hausberge
Ich hatte die Untertertia wiederholt und bewegte mich zwischen den kleineren Jungen (die durchschnittlich einen Kopf kleiner waren als ich) merklich unwohl. In der Obertertia, wurde es wieder brenzlig, es sah nach einer fünf oder sechs in Latein aus; Mathe konnte ich ebenfalls in die Tonne treten, ich verstand einfach nicht, was dieser dürre, dünnlippige Mann mit dem Holzbein formalmathematisch zusammenfaselte. Immerhin behandelte er uns gerecht und würdigte niemanden herab.
Herr Niedermaier war in meinem letzten Schuljahr am Bessel-Gymnasium unser Lateinlehrer. Der korpulente, große Mann war ein hochemotionaler Pykniker, der sich phänotypisch problemlos als Zwillingsbruder des Komikers und Schauspielers Heinz Erhardt hätte ausgeben können. In Oberstudienrat Niedermaier schlummerte ein großer Mime, an dem ein Burgschauspieler verloren gegangen war. Mal kam er schwungvoll-fröhlich in die Klasse gestürmt, um lachend Scherze und Döntjes zum Besten zu geben. Schon am nächsten Tag musste man allerdings darauf gefasst sein, ihn als wandelnden Extremkontrast mit hängenden Schultern und tieftraurigem Blick heranschlürfen zu sehen. Wir kannten das gesamte Repertoire und konnten seine Körpersprache exakt deuten. Für Niedermaier waren wir Schüler ein willfähriges Publikum für seine schrägen Auftritte. Den Wortlaut einer seiner fiebrigen Aufwallungen rezitierten wir nach der Aufführung gerne auf dem Schulhof.
„Ihr wisst ja gar nicht, was das heißt! Eben noch alles friedlich, dann die Schüsse im Wald!", begann Niedermaier seine Paradenummer, erst leise murmelnd, dann mit gesteigerter Lautstärke. „Tagelang sind die gelaufen ... und dann die Schüsse ... der ganze Wald - rot! Das kennt ihr gar nicht! Alles rot! Das kennt keiner von euch! Vater tot, … Mutter tot, … alle tot!" Die letzten Sätze des immer gleichen Endes seiner Geschichte („Vater tot, Mutter tot") brachte er beinahe schreiend hervor.
Es war keinem von uns klar, ob es seine eigenen Kriegs- oder Fluchterfahrungen waren, von denen er vierteljährlich wortgleich berichtete, oder ob sich sein Text auf Dritte bezog. Wie sollten wir mit solch einer Darbietung umgehen? Richtig! Wir haben uns schlappgelacht, hinterher, in den Pausen, denn wir wussten in der Tat nicht, „was das heißt", wenn ein Lateinlehrer ein Horrorszenario mit blutgetränkten Wäldern aufleben ließ.
Im Dezember 1976 schrieben wir die letzte, wichtige Lateinklassenarbeit vor den Halbjahreszeugnissen. Ich versuchte angestrengt einen dieser Endlossätze zu zerlegen und zu übersetzen.
Die Mitglieder des Senats der Stadt Rom … ermahnten … viele Feldherren … denn diese schlugen ihnen vor … die Kriegsführung … gegen den Willen Cäsars … die Legionen, die er führte … in den nördlichen Provinzen … hatte dieser jedoch vernachlässigt ... und schleuderte erzürnt seinen Speer auf den Decurio …
Dann - während der Klassenarbeit! -kam Herr Niedermaier zu meinem Entsetzen und unter den verstohlenen Blicken der Mitschüler an meinen Tisch, stützte sich mit den Händen auf, und näherte sich meinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter.
„van Rij, denk doch mal drüber nach, Mensch!", flüsterte er verschwörerisch. „Gibt so schöne Berufe, die man machen kann. Muss ja nicht jeder Abitur machen! Denk doch mal drüber nach, Junge! Was man alles machen kann! Steht dir alles offen!"
Ich reagiere selten ad hoc, es dauert mitunter ein paar Ewigkeiten, bis etwas zu mir durchdringt. Auch jetzt trat meine verzögerte Reaktion einige Stunden später ein. Als ich am Nachmittag an Niedermaiers Aufdringlichkeit zurückdachte, stieg ein scharfer Widerwille in mir auf. Es reichte mir! Ich hatte genug!
Drei Wochen später war das Bessel-Gymnasium Geschichte für mich. Ich brach die Schule ab, und für meine Eltern brach eine Welt zusammen.
Gaudeamus igitur!
Der Schulabbruch ging voll in Ordnung, er wirkte umgehend befreiend und erleichternd. Bis auf den Niedermaier-Vorfall, der längere Zeit wie ein Stachel im Fleisch meines verletzten Egos blieb. Es ärgerte mich, ihm den Triumpf gönnen zu müssen, mich zu meinem Abgang überredet zu haben.
Erst Hier und Jetzt, während ich diese Sätze schreibe, begreife ich, dass seine Empfehlung inhaltlich deckungsgleich mit der Vision übereinstimmte, die ich zwei Jahre zuvor in unserer Hausberger Dienstwohnung hatte.
Es steht dir alles offen! Gibt so schöne Berufe!
War Rufus Niedermaier der Katalysator, der mir half, einen schwerwiegenden Entschluss leichter zu fassen? Im Nachhinein kann ich die Frage rundaus bejahen. Seine obstinate Zudringlichkeit enthielt die Aktivierungsenergie, die mir half das Gymnasium zu verlassen. Herr Niedermaier war der bekannte Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte.
Möglicherweise irre ich mich auch, wer weiß. Vielleicht war dieser Lehrer ein sehr einfühlsamer Mensch, der meinen inneren Konflikt und meine Unausgeglichenheit wahrnahm, und der sich mir zuwandte, um mir zu helfen. Nur hatte ich dies im Moment des Geschehens nicht so wahrgenommen.
Seit den Sommerferien, lange vor Niedermaiers Einflüsterei, hatte ich über meine Lage und meine Perspektiven nachgedacht. Ich war frei, aber die Ungebundenheit tat mir nicht gut. Ich konnte nicht vernünftig mit ihr umgehen. Es ging mir nicht besonders gut. Es konnte nicht weitergehen wie bisher.
Also begann ich Zukunftspläne zu schmieden, genauer gesagt einen ganz bestimmten Zukunftsplan. Ich wollte versuchen, mich als Kunstmaler durchs Leben zu schlagen. Das war einer der vielen Berufe, die mir 1974 in Hausberge als imaginäre Bilder erschienen waren. Obschon mir die Vorstellung durchführbar schien, zögerte ich, die Idee in die Tat umzusetzen. Es gab eine Reihe von Unwägbarkeiten, Faktoren, die ich nicht einschätzen konnte. Ich würde ein sicheres monatliches Mindesteinkommen benötigen. Dass ich die Schule zugunsten einer Seifenblasenträumerei abbrach - davor hatte ich Schiss.
Hier und Jetzt
Lulan hat seinen Traum trotz einiger Bedenken wahrgemacht. Im Januar 1977 verließ er das Mindener Bessel-Gymnasium. Obwohl ihn dieser Schritt ungemein erleichterte, war ihm nicht geheuer zumute. Die Reaktionen seiner entsetzten Angehörigen waren wenig ermutigend, sie verstärkten seine Ängste und Panikgefühle. Ob er sich auch alles gut überlegt habe, wovon er denn zu leben gedenke, wollten sie wissen. Statt sich von ihren Vorhaltungen runterziehen zu lassen, zog Lulan sein Ding ohne ihren Segen durch. Sie gingen ihm auf die Nerven mit ihrer moralisierenden Bigotterie. Der gescheiterte Gymnasiast sah sich zu Höherem berufen und wollte nichts mehr mit den „kleingeistigen Gartenzwergsammlern" zu tun haben. Sollten sie doch hinter ihren Jäger- und Maschendrahtzäunen ohne ihn glücklich werden.
In seiner Überheblichkeit erkannte er nicht, dass er sich nicht grundsätzlich von denen unterschied, die er für minderwertig hielt. Die Verachtung des Anderen ist immer auch ein Merkmal der eigenen Engstirnigkeit. Aus Meinungen entstehen Weltbilder, ihr Ursprung sind die Gedankenmuster des Ego-Geistes. Für Lulan war die Welt reizlos und farblos.
Aber nicht die Erde ist wertlos, dachte er bitter, die Menschenwelt ist es!
Traten nicht überall auf dem Planeten die ewigen Philister Tag für Tag alles Gute und Rechte in den Dreck? Die Evolution des Homo sapiens war in Lulans Augen ein beklagenswertes Missgeschick. So sah der Achtzehnjährige die Welt der Menschen und wandte tief enttäuscht und verletzt von ihr ab. Ach, der arme Junge!
„Jeder sieht das, was er sehen möchte!", sagte Rolf, den Lulan seit ihrer ersten Begegnung in der alten Teestube regelmäßig traf, und obwohl Lulan dieser Weisheit sofort zustimmte, dachte er dabei in erster Linie an »die Anderen« und nicht an sich selbst.
Nun ist der Tiefpunkt einer Kurve meistens auch ihr Wendepunkt, und im November 1976 öffnete sich für Lulan eine neue Entwicklungslinie. Er verliebte sich. Yvonne, seine ehemalige Mitbewohnerin aus der Petersilienstraße, hatte eine Freundin zur samstäglichen Mah Jong-Runde in der Teebierstube mitgebracht. Lulan kannte Cora flüchtig vom Sehen, sie wohnte in einer WG im Naturfreundehaus auf der Alten Halde. Zuerst saßen sie an den Wochenenden am gleichen Tisch und sammelten Drachen- und Blumensteine. Wenn sie sich ansahen, verstohlen zu Beginn, suchten sie in den Augen des Anderen nach Erkennungszeichen.
Wer in aller Welt bist du? Ich finde dich wunderschön.
Spätestens als ihre Blickkontakte an Länge und Häufigkeit zunahmen, und sie sich auch an Wochentagen zum Mah Jong-Spiel einfanden, wussten die Stammbesucher der Teebierstube Bescheid. Lulan hatte sich verliebt!
Seit er 15 war, hatte er sich eine Liebesbeziehung gewünscht, ob es dieses Mal klappen würde?
Wahre Liebe ist bedingungslos, sie ist selbstlos und will nichts für sich, denn sie besitzt schon alles. Egoistische Gedanken sind ihr fremd. Für manche Menschen ist der Beginn einer Großen Liebe wie ein triumphaler Tanz um ein Freudenfeuer, ein Glückstaumel zwischen Himmel und Erde. Zumindest Lulans Verliebtheitheitsrausch ließe sich so umschreiben. Emotionen dieser Art sind untrügliche Ausdrucksmerkmale des Egos. Ein weiteres Kennzeichen des Egos ist seine Angst, die unsägliche Furcht, seinen größten Schatz wieder verlieren zu können. Der Drang zu kontrollieren gewinnt schnell die Oberhand. Die alleinige Kontrolle über den Körper zu behalten und über alles, was sein ist – das ist das zentrale Motiv des Egos.
Liebst du mich, wie ich dich liebe?
Ohne egoistische Motive sind Liebende vollkommen wehrlos und zugleich unangreifbar, denn im menschlichen Kosmos existiert keine Kraft, die stärker ist als die Liebe.
Der Beginn der großen Liebe war eine der glücklichsten Phasen seines Lebens. Dennoch (oder gerade deswegen) glich Lulans gesamter vierter Entwicklungsabschnitt einem Sturz in bodenlose emotionale Abgründe. Er durchlebte rapide Gefühlswechsel, Phasen voller Eifersucht und depressiver Selbstzweifel, die auf euphorische Höhenflüge folgten. Es dauerte dann - wie sich im Nachhinein herausstellte - die berüchtigten sieben Jahre bis sich seine Verwirrung gelegt hatte, und er endlich begriff, dass er dieses Mal nicht alles haben konnte. Die Unverbindlichkeit flüchtiger Affären ließ sich nicht mit der Liebe seines Herzens vereinen. Es mochte Körperpersonen geben, die mit diesem Widerspruch kein Problem hatten. Lulan gehörte nicht dazu. Seine Große Liebe war stärker als all seine Begehrlichkeiten zusammengenommen. Er wollte nur sie und wusste zugleich, dass Liebende einander niemals besitzen können.
Von dem Tag an wurde alles gut.
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