Wer wünschte sich nicht von Herzen
Liebe, Gesundheit und Glück?
Dort, wo dein Herz ist,
da ist auch dein Schatz.
Du schätzt, was du erschaffen hast.
Und was du liebst und begehrst,
schließt du in dein Herz.
Alles liegt in deinen Händen!
***
Hier und Jetzt
Die langfristigen Nachwirkungen von Lulans Schulabbruch endeten 1990, als er am Kolleg für Erwachsenenbildung in Oldenburg sein Abitur nachholte. Mit dem zweiten Bildungsweg wählte er einen Neubeginn und hob den ursprünglich eingeschlagenen gesellschaftlichen Ausstieg wieder auf.
Das Vergangene sei niemals tot, behauptet Franz Josef Degenhardt in seinen Liedern, es sei nicht einmal vergangen. Entscheidungen der Vergangenheit vergehen nicht spurenlos, sie manifestieren sich auf verschiedenen Systemebenen einer Körperperson. Das bedeutet keineswegs, dass eine einmal getroffene Wahl für immer und ewig in Stein gehauen ist. Sie kann jederzeit aufgehoben oder korrigiert werden. Dafür ist zuerst eine neue Entscheidung erforderlich. Es ist sogar möglich, Fehlentscheidungen der Vergangenheit zu berichtigen.
Als Lulan in den ersten Schuljahren lesen gelernt hatte, wagte er sich an sein erstes »richtiges« Buch. Es trug den Titel Die Söhne der großen Bärin [1]. Die Geschichte handelte von dem bewegenden Schicksal einer Gruppe von Dakota-Sioux-Indianern, die es ablehnten sich in Reservate pferchen zu lassen. Sie entschieden sich, vor dem unaufhaltsamen Zustrom des weißen Mannes in die unberührte Weite Kanadas zurückzuweichen. Der Roman zog Lulan auf Anhieb in seinen Bann, den Unterschied zwischen wahren und fiktiven Begebenheiten kannte er als Siebenjähriger noch nicht. Die im Buch beschriebenen zahlreichen Details des Indianerlebens sprengten seine Vorstellungskraft. Er war tagelang innerlich aufgewühlt, als er las, dass der Schlaue Biber gerne rohe Hundeleber aß. Die Geschichte musste echt sein. Lulans glühende Verehrung galt dem stoischen Anführer der Dakota-Gruppe. Er hieß Tokei-ihto. Lulan erklärte seiner Mutter, dass der Name auf Deutsch »Herz-aus-Stein» bedeute. Herz-aus-Stein – so konnte nur jemand heißen, der sich nicht erweichen ließ. So wollte Lulan auch sein.
______________________________
[1] Von Liselotte Welskopf-Henrich.
Erinnerungen
1971, Möllbergen
Die Cowboy-Ausrüstung, die ich ein Jahr zuvor zum sechsten Geburtstag bekommen hatte, ließ ich von einem auf den anderen Tag links liegen. Der schwarze Filzhut, der Patronengurt mit dem Colt – das war das Outfit der bleichgesichtigen Schurken, die den roten Stammesbrüdern im Tausch gegen kostbare Luchs- und Wolfspelze billigen Fusel andrehten.
Oben-Oma verstand meine Identitätskrise, sie brachte mir von ihrem vierteljährlichen Einkaufsbummel in Minden einen prachtvollen Federkopfschmuck mit, dazu einen Tomahawk, dessen Blatt aus bemaltem Gummi einigermaßen echt aussah. Ein wichtiger erster Beitrag für meine Bewaffnung. Was fehlte noch? Ich versuchte mich im Pfeil-und-Bogenbau und experimentierte mit Ästen, Tapetenleisten und ähnlich dünnen Hölzern, die man biegen konnte, ohne dass sie zerbrachen. Die ersten Pfeile, die ich abschoss, trudelten ein paar Meter weit unkontrolliert durch Luft. Nach einigen Verbesserungen flogen sie immerhin über die Stromleitungen, die damals unsere Dorfstraßen säumten.
Die Faszination am Bogenschießen blieb. Achtzehn Jahre nach dem ersten Weidenrutenbogen leimte ich in der Tischlerschulwerkstatt meines Vaters millimeterdünne, nass vorgeformte Eschen- und Eibenholzschichten auf ein geschwungenes Griffstück aus massiver Esche. Die Vorder- und Hinterseiten der dreilagigen Arme pinselte ich zinnoberrot an und versiegelte das Prachtstück abschließend mit Bootslack. Der einsatzbereite Recurved-Bogen entsprach meiner Körperlänge. Er sah spitzenmäßig aus und hatte eine Reichweite von gut 120 Metern. Ich habe ihn noch, diesen Bogen, und spanne ihn hin und wieder, um ein paar Pfeile zu verschießen. Der Abschuss der Pfeile, die von der zitternden Sehne zischen und mit rasanter Eleganz ihrem Ziel entgegengieren, der kurze, satte Klang des Einschlags – diese Bilder rufen uralte Erinnerungen in mir wach.
Ich wollte unbedingt zu den Söhnen der großen Bärin gehören und mit Tokei-ihto in die freien Jagdgründe des Nordens ziehen. Die Geschichte ließ mich nicht los. Herz-aus-Stein. Mit dreizehn beschloss ich in einem Anflug jugendlichen Überschwangs, mich selbst zu tätowieren. Es sollte ein Bärenkopf werden, mitten auf der Brust, über dem Solarplexus. Ich hatte die Sache akribisch geplant und sogar eine Skizze in Originalgröße vorbereitet. An einem Sonntagmorgen, als meine Eltern eine Ausflugstour unternahmen, setzte ich mich mit ein paar Nadeln und einem kleinen Tintenfass vor einen Spiegel. Zum Desinfizieren stand eine brennende Kerze bereit, zusätzlich ein Glas Wacholderschnaps.
Es war eine unappetitliche Tour-de-Force, ich musste die blutig-schwarze Flüssigkeit dauernd wieder abwischen, um im Spiegel sehen zu können, wo ich stechen musste. Nach einer guten Stunde war ich fertig mit dem Tattoo. Nachdem die Entzündungen abgeklungen waren, fand ich das Resultat rundum gelungen. Man konnte den Umriss eines Bärenkopfes sehr schön erkennen.
Durch meinen Erfolg beflügelt, versuchte ich ein paar Wochen später, mir den Namen Heike in den linken Unterarm zu nadeln. Mein Durchhaltevermögen hierfür war entschieden schwächer, auch blutete es wesentlich stärker als auf der Brust. Ich gab die Sache nach dem ersten kleinen e auf. Zum Glück, denn ich kann mich überhaupt nicht mehr entsinnen, wer diese Heike eigentlich war. Es ist ein Name, der mir nichts mehr sagt. Von dem Bärenkopf sieht man heute höchstens noch feinste Spuren, obwohl er sich lange gut gehalten hatte. Dahingegen ist H e auf meinem linken Arm noch recht gut zu erkennen.
Hier und Jetzt
Herz-aus-Stein. Wie mag Lulan als Kind bloß auf diesen Namen gekommen sein? Vor ein paar Jahren stieß er beim Herumsurfen im Internet zufällig auf eine Website, die sich mit Liselotte Welskopf-Henrichs Buch beschäftigte. Tokei-ihto bedeute auf Deutsch „Stein-mit-Hörnern", wurde dort behauptet. Er musste wohl einiges falsch verstanden haben, obwohl er das Buch mindestens dreimal gelesen hatte. Doch damit nicht genug. Weiter hieß es auf der Website, die Übersetzung des Namens Tokei-ihto beruhe auf einem Fehler. Tokei-ihto hieß demnach weder Herz-aus-Stein noch Stein-mit-Hörnern.
Die Autorin hatte sich auf ihrer Suche nach authentischen Dakota-Namen von dem Werk des Malers George Catlin inspirieren lassen. Catlin studierte im 19. Jahrhundert auf seinen Reisen durch den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten die Gebräuche und Sitten der amerikanischen Ureinwohner. Er fertigte hunderte Skizzen und Gemälde an. Vor allem seine Portraits bestechen durch die detailgetreue Darstellung indianischer Persönlichkeiten. 1832 porträtierte Catlin den Yankton-Nakota-Häuptling Toh-kí-e-to, dessen Oberkörper mit gewandartigen Ornamenten tätowiert war. Catlins Dolmetscher nannte Toh-kí-e-to „Stone-with-Horns", und diesen Namen verwendete Liselotte Welskopf-Henrich für ihre Romanfigur. Es stellte sich heraus, dass die korrekte Übersetzung von Toh-kí-e-to anders lautete. Der Chief hieß wörtlich übersetzt »Geht-als-Erster-voran, gerade-durch«. Das ist sicherlich ein aussagekräftiger, besonderer Name, wenngleich etwas zu sperrig für den prosaischen Gebrauch.
Als Welskopf-Henrich von dem Übersetzungsfehler erfuhr, änderte sie den Namen ihres Helden in folgenden Romanausgaben. Aus Tokei-ihto wurde fortan Inya he yukan, und das bedeutete nun endlich „Stein-mit-Hörnern".
Durch die zweifache Berichtigung verlor der Name des Häuptlings keineswegs seine Bedeutung für Lulan. Herz-aus-Stein wollte er weiterhin sein. Die urspringliche Indianername war fest in ihm verwurzelt.
Während seiner vierten Entwicklungsphase trug Lulan schulterlange Haare und selbstgemachte Ohrringe. Roter Kopf, schwarzes Herz. Herz-aus-Stein-mit-Hörnern.
Sie hielten vier Schafe und freilaufende Hühner. Was man selbst machen konnte, machten sie selbst. Was sie nicht selbst herstellen konnten, brauchten sie nicht. Lulan wohnte bei Manfred in einem ärmlichen kleinen Kotten in Bohnhorst, nahe der dünnbesiedelten Uchter Moorgebiete. Zum Haus gehörten zwei Morgen Land, genug, um die beiden jungen Männer mehr als die Hälfte des Jahres mit Kartoffeln und Gemüse zu versorgen. Im Herbst verbrachten sie ihre Abende damit, aus Imkerwabenplatten Bienenwachskerzen zu drehen. Ende November zogen sie dann mit den selbstgemachten Kerzen und einem Tapeziertisch auf die Weihnachtsmärkte Ostwestfalens. Anfang der 80er Jahre ging das noch, bevor die Städte und Gemeinden dazu übergingen einheitlich gestaltete Verkaufsbuden für horrende Summen an die Händler zu vermieten.
Die Kerzen fanden reißenden Absatz, Lulan und Manfred mussten Nachtschichten einlegen, um mit der Produktion nachzukommen. Kurz vor Weihnachten waren die beiden ausgelaugt und erschöpft, doch der Einsatz lohnte sich. Im ersten Jahr hatte jeder von ihnen rund viertausend Mark erwirtschaftet. Von dem Geld konnte Lulan bis in den August hinein seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Mit der brotlosen Kunst kam er nicht über die Runden, zum Leben reichte es nicht. Hin und wieder konnte er ein Ölbild oder eine seiner Zeichnungen verkaufen. Lulan nahm an Ausschreibungen für Künstler teil und hatte eine Ausstellung im Atelier Klaffki in Minden. Das Mindener Tageblatt berichtete in seinem Lokalteil von der Vernissage. Tiermenschen dargestellt lautete die nüchterne Überschrift des Artikels.
Dazu kam, dass ihn die künstlerische Arbeit isolierte. Es gab niemanden, mit dem er sich hätte austauschen können. Gelegentlich sprach er mit Bekannten über seine Bilder. Obwohl Lulan ihr Interesse schätze, ging es ihm nicht tief genug; er konnte sich mit ihnen nicht länger oder erschöpfender über seine Kunst und allen damit verbundenen Befindlichkeiten unterhalten. Ein weiterer Faktor, der ihn in seiner Kreativität behinderte, war der mentale Schaffensprozess. Lulan dachte sich seine Bilder aus, sie waren das Ergebnis komplizierter Ideen, die seinen Vorstellungen und Ansprüchen gerecht werden mussten. Das Resultat waren verkopfte, seelenlose Kompositionen. Sie gefielen ihm nicht.
Um die Isolation zu überwinden, bewarb er sich als Autodidakt an einer Kunstakademie. Erfolglos, er wurde nicht angenommen. Die Kunstprofessoren suchten junge Wilde, Realismus – in welcher Form auch immer – war verpönt. Die Ablehnung verstärkte Lulans verbitterte Abkehr von einer Welt, in der er seinen Platz nicht finden konnte. In dem Maße, wie er die Menschengesellschaft und ihre Institutionen verachtete, wuchs seine Liebe zur Natur, die er in den stillen Wald- und Moorlandschaften um Bohnhorst entdeckte. Ohne es bewusst geplant oder überdacht zu haben, folgte Lulan dem Drang die Menschenwelt zu verlassen. Wenn er in der Abgeschiedenheit der Wälder umherwanderte, fühlte er sich frei und unbeschwert.
Mithilfe topologischer Karten fand er die größten unbesiedelten Areale der Region. Möglichst menschenleer mussten sie sein, möglichst weit von den Waldparkplätzen und Wanderwegen entfernt. Dort stellte er sein Auto ab und ging zielstrebig, wie in großer Eile, um auch die Forstwirtschaftswege hinter sich zu lassen. Im dichten Unterholz blieb er stehen, um zu lauschen und sobald seine Sinne ihm signalisierten, dass kein einziger Mensch mehr in der Nähe war, und sogar die fernen Straßengeräusche verstummt waren, begann sein Herz zu klopfen. Dann änderte er seinen Schritt, bewegte sich ähnlich langsam wie ein kletterndes Chamäleon, und seine Wahrnehmung wechselte in den körperlosen Modus des stillen Zeugen, ein Zustand, den Lulan seit vielen Jahren gezielt herbeiführte, ohne zu wissen, was konkret mit ihm geschah.
Erinnerungen
1980, Bohnhorst
In Bohnhorst sog ich die Ruhe des bedächtigen Landlebens in mir auf und begann über Gott und die Welt nachzudenken. Am allerliebsten streifte ich allein durch den Mindenerwald. Hier fand ich den Kick, nach dem ich so oft schon auf der Suche war. Auf den langen, einsamen Spaziergängen erfüllten Frieden und Glück einen Teil meines innersten Seins. Mein Atem ging ruhiger und tiefer. Dieses süße Ziehen in der Brust, ich kannte es bereits; es schien aus der Stille zu kommen.
Durch die Wälder zu streifen war eine Art Meditation; ich setzte jeden Schritt langsam und bedächtig, hielt oft inne, um die Gerüche und Geräusche wahrzunehmen. Wenn mir eine Baumgruppe oder ein Hügel besonders gefiel, wählte ich einen bequemen Sitzplatz, um ein Weilchen die Umgebung zu genießen; manchmal schlief ich dabei ein. Ich habe im Wald dem Strom meiner Gedanken gelauscht und innere Dialoge geführt. Es waren Zwiesprachen mit Gott, das kann ich meinen Tagebuchaufzeichnungen aus jenen Tagen entnehmen. Sechs Jahre nach meinem Austritt aus der evangelischen Kirche fand ich von selbst zu Gott. Ich hatte ihm eine Tür geöffnet.
Ein Selbstportrait hat meine damalige Stimmung festgehalten; es zeigt mich vor einer leeren Landschaft und spiegelt meine düstere Weltabkehrstimmung wieder. Ich stelle mich dem Betrachter mit bösem Blick in den Weg, als wollte ich die Erde vor jedem Zugriff schützen. Das Bild trägt den Titel Wem gehört das Land?
Hin und wieder lud ich Freunde ein, mich auf einem Streifzug durch die Wälder zu begleiten. Ich hatte das Bedürfnis, die meditative Stille meiner Naturerfahrungen mit ihnen zu teilen. Zu unseren häufigsten Besuchern zählte Micha Wex, ein liebenswertes Unikum, das Lebensfreude und -witz versprühte, und dessen chaotische Hibbeligkeit konventionelle Übereinkünfte und planbare Verabredungen verlässlich im Keim erstickte. Michael war der Zebulon vom Zauberkarussel, man musste ihn mögen.
Eines schönen Frühlingstages spazierten wir entlang der sandigen Feldwege in Richtung Mindenerwald. Meine naive Erwartung, mit ihm auf diesem Ausflug die Stille der Natur zu teilen, ging so glorios in die Hose, dass ich noch Wochen später darüber lachen musste. Micha reflektierte seine Gedanken nämlich niemals nach innen; auch im Wald sabbelte er an einem Stück durch, mehr als sonst, hörbar mehr, denn wir hatten vorher einen Joint zusammen geraucht.
„Boah, Alter! Guck' dir das an! Die gelben Blumen da hinten! Wahnsinn! Und da, ey! Wat is' dat für ein Blau, Mann! Ich kriech'n Farbflash! Und wie dat riecht, ey! Riech' mal! Riechst du das? Da wird man ja vom Geruch schon high. Ho, ho ho! Warte mal, warte mal eben! Ich glaube ich hab' wat im Schuh! Mann-o-Mann, dat is' echt genial hier. Ich werd' jedesmal voll euphorisch im Frühling."
Ab und zu machte er jählings eine Pause, doch vergingen nie mehr als fünf Sekunden bis Micha wieder auf der Suche nach unterhaltsamen Gedanken war. „Lulan!", rief er, „Lulan! Hörma', wat machst du hier eigentlich, wenn du hier so mutterseelen alleine durch den Wald spazierst? Wird dir eigentlich nie langweilig dabei?"
Hier und Jetzt
Vor dem dritten Bienenwachskerzenwinter wechselte Lulan in eine neue Land-WG. Sie wohnten zu fünft in einem heruntergekommenen Landhaus bei Friedewalde.
Lulan rauchte selbstangebautes Gras und nähte Mocassins, während im Kassettenrekorder ununterbrochen Joni Mitchell lief. Das Leder bekam er zu einem fairen Preis in einer alten Gerberei. Für das Obermaterial der Mocassins nahm er weiches Spaltleder, die Sohlen wurden aus den dicken Nackenstücken ungefärbter Ochsenhäute geschnitten. Die fertigen Mocassins verkaufte er an Interessenten aus der »alternativen Szene«. Im Spätherbst bot er sie zusammen mit selbstgemachten Ledertaschen und Gürteln auf Weihnachtsmärkten feil, dazu die mittlerweile obligatorischen Bienenwachskerzen.
Auf dem Land leben, in Landkommunen wohnen, sich vom Land und von der eigenen Hände Arbeit ernähren - das waren Ende der 70er Jahre die Zutaten zum Selbstverwirklichungstrip der Aussteiger und Hippies.
Der Zeitgeist der Landkommunen ging aus einer älteren Bewegung hervor, die die schlummernden Samen der Spiritualität in den Köpfen und Herzen der Alternativen aufgehen ließ. Diese Esoterikwelle hatte ihren Ursprung in den 60er Jahren, als stets mehr langhaarige Sinnsuchende des Westens zum Meditieren nach Indien fuhren, wohin ihnen sogar die Beatles folgten. Zwei Jahrzehnte später bescherte das exponentielle Wachstum dieses Trends zahlreiche Spielarten esoterischer Praktiken und Lehren, die aus allen Winkeln der Erde stammten. Nur noch wenige Körperpersonen studierten Karl Marx, man las jetzt Carlos Castaneda und die ägyptischen Totenbücher. Die einen interessierten sich für Voodoo-Schamanismus, andere entwickelten sich zu Rauschpilz-Propheten, und wieder andere zog es in die Ashrams der erleuchteten Gurus. Man legte sich Tarot-Karten, ging zu Rebirthing-Kursen oder beschäftigte sich mit Kundalini-Meditationen. In der Vielfalt der esoterischen Angebote konnte es vorkommen, dass die Welle gelegentlich über die Ufer schwappte.
Erinnerungen
März 1982, Friedewalde
Um die Einnahmelücken aus dem Weihnachtsgeschäft zu überbrücken, nahm ich verschiedene Jobs an. Eine Zeit lang kellnerte ich im Mindener Café Prütt, das von einem Land-WG-Kollektiv betrieben wurde. Während einer Kaffeepause erzählte mir einer der Gäste, ein Landbewohner namens Udo, eine haarsträubende Geschichte. Udo, dem seit einem Unfall die oberen Schneidezähne fehlten, berichtete mit bierernster Miene, dass bei einer WG in der Nähe von Petershagen kleine Gnome und Zwerge bei der Garten- und Küchenarbeit behilflich seien. Udos zahnlose Kauleiste verlieh seiner Geschichte zusätzlich eine gewisse Skurrilität.
„Du kennst doch Hilde Zammerlein? Letzten Mittwoch musste Hilde spät abends noch mal in die Küche", begann Udo; sein beiläufiger Tonfall baute eine gewisse Spannung auf. „Sie hatte die Milch vergessen und knipste das Licht an – und da stand einer direkt am Herd! Ein Zwerg! Nicht mehr als einen halben Meter groß, nicht mal so hoch der Herd. Und was machte der?" An dieser Stelle beugte sich Udo dramatisch vor, um mir kurz Gelegenheit zu geben, die Bedeutung seiner Frage zu verarbeiten. „Der machte den Herd sauber!"
Der zuvorkommende Zwerg reinigte netterweise die Küche, sobald es dunkel wurde. Viele Land-WGs mit chronisch versifften Küchen würden sich über solche Behilflichkeiten taumelig freuen.
„Unglaublich, oder?", fuhr Udo fort. „Pass auf, es geht ja noch weiter! Der Rainer aus der WG in Kutenhausen? Der hatte seit Monaten schon diese qualvollen Rückenschmerzen, der konnte sich kaum noch bewegen. Jetzt hör zu! Dann haben die einen Schotten aus einer Lüneburger WG gefragt, ob er sich den Rainer mal ansehen könnte. Und der sieht sich den Rainer an und findet auf seinem Rücken einen kleinen Zwerg, der sich da festhält! Der Hammer, Mann! Der Zwerg hielt sich da mit ausgestreckten Armen fest, er hatte sich förmlich festgeklemmt! Du kannst dir ja denken, wie das die Muskeln und Sehnen verzerrt!"
Man möge mir nachsehen, dass ich nicht mehr weiß, wie diese spannende Story ausgegangen ist. Mir stand dieser klammernde Zwerg so plastisch vor Augen, dass ich abgelenkt wurde - ohne den Schluss wahrzunehmen. Vielleicht hatte der kundige Schotte den Gnom auf gälisch überreden können von Rainer abzulassen. Ich hoffte, dass man die kleine Kreatur unverletzt aus der Rückenmuskulatur ziehen konnte.
Hier und Jetzt
In einer benachbarten Land-WG in Nordhemmern, vier Kilometer von Friedewalde entfernt, wohnten 1982 drei Musiker, mit denen Lulan und seine Mitbewohner befreundet waren. Das kleine Haus der Musikanten, ursprünglich ein Vereinsheim, lag an einem gepflegten, weiträumig angelegten Sportplatz, den Lulan wegen seiner besonderen Lage liebte. Der Platz war seit einiger Zeit nicht mehr für Sportveranstaltungen genutzt worden. Das am Rande des Spielfelds gelegene Häuschen bewohnte Uwe Berg (der bekanntlich bereits als Zweijähriger Dichtverse rezitieren konnte), nachdem er eine Neuanstellung als Grundschullehrer des Dorfes angetreten hatte.
Er merkte bald, dass die Tätigkeit ihn nicht erfüllte. Uwe war frustriert, denn die starren Schulnormen verhinderten die Umsetzung seiner Vorstellungen von einer »freien« pädagogischen Arbeit mit den Kindern. Da er außerdem den unwiderstehlichen Drang verspürte seine Kreativität auszuleben, kündigte Uwe die Lehrerstelle. So wurde er zum Aussteiger. Kurz danach zogen mein alter Freund Rolf (Querflöte, Klarinette, Saxophon) und Joker (Gitarre) bei ihm ein.
Die drei veranstalteten ausgedehnte Jam-Sessions, die alsbald Musikliebhaber aus der Mindener Szene anlockten. Micha Wex, der an ADHD litt und als begabtes Naturtalent das Schlagzeugspielen erlernt hatte, war einer der Dauergäste. Sein rhythmisches Feeling war genial. Auch Lulan nahm an den Sessions teil, Musik war seit Onkel Emils Tonbandmaschine - neben der Malerei - eine Ausdrucksform, die ihn faszinierte. Seine instrumentalen Fähigkeiten waren damals allerdings eher bescheiden entwickelt. Da er auf der Gitarre nur ein paar Standardakkorde klimpern konnte, trommelte er mit, was das Zeug hielt.
Die Gäste klöppelten enthusiastisch auf allen möglichen Töpfen, Schüsseln und Eimern herum, aber mit der Zeit ging ihnen das Geschepper auf die Gehörnerven. Sie fanden, dass sie richtige Perkussionsinstrumente brauchten.
Warum nicht selber machen? dachte Uwe Berg und setzte seine Eingebung kurzerhand in die Tat um.
Uwe hatte beim kreativen Herumspielen mit Ton entdeckt, dass es eine kinderleichte Methode gab, aus rohem Ton Trommeln zu bauen. Als Lulan ihm bei seiner Tonkneterei zusah, fragte er spontan, ob er nicht mitmachen könne. Für handwerklich-künstlerische Arbeiten war Lulan jederzeit zu haben. Uwe hieß ihn herzlich willkommen.
Das Brillante an Uwes Methode war, dass außer dem Rohstoff nichts erforderlich war. Die beiden waren weder auf eine Drehscheibe angewiesen noch auf spezielle Werkzeuge. Den gebrauchsfertigen Ton kauften sie bei den Herstellern und formten ihn anschließend in wenigen Arbeitsschritten mit den Händen zu Trommeln.
Für die abschließenden Schrüh- und Glasurbrände der luftgetrockneten Produkte waren Keramikbrennöfen erforderlich. Dafür wurden sie bei Privatbesitzern, Firmen oder öffentlichen Einrichtungen vorstellig, um Nutzungs- oder Mietbedingungen für ihre Trommelbrände auszuhandeln.
Auf der Suche nach einem möglichst großen Brennofen marschierte Uwe eines Tages mit einer ihrer imposantesten Trommeln bis in die Chef-Abteilung einer regionalen Ziegelei. Dort hämmerte er vor den versammelten Führungskräften unbekümmert ein paar knackige Rhythmen herunter. Die Herren waren begeistert, und die beiden Trommelbauer durften ihre Rohtrommeln zu den Dachziegeln auf das Transportband stellen.
Bei der Verarbeitung der Tonplatten entwickelten sie eine neue Trommelform, bei der der trichterförmige Korpus im 90-Gradwinkel abgeknickt war. Durch den Knick wies die Öffnung der Trommel, die man beim Spielen zwischen den Knien hielt, nach vorne anstatt nach unten auf den Boden. Der voluminöse Klang erreichte Mitspieler oder Zuhörer also auf direktem Wege. Außerdem sahen die Trommeln dadurch origineller aus; sie wirkten organisch, wie Körperteile, während manche an große Muscheln erinnerten. Uwe und Lulan nannten sie Earth Drums.
12.04.1982
Aprilmond, Friedewalde
Ohne Angst! Jeden Augenblick kann ich ohne Angst erleben. Jeden Moment kann ich ganz erleben, jeden Menschen ganz erkennen! Den Bruder und die Schwester wahrnehmen, die Geliebten erkennen, die Liebe selber sein, wenn ich es will.
Wenn ich es will!
Der Wille ist Kraft. Ich fühle meinen Willen und ich erahne meine wahre Kraft, die wächst, wenn ich neben mir stehe. Wenn ich meiner selbst gewahr bin, meiner Identität, meines Seins.
Ich habe den blanken Schädel einer Krähe im Wald gefunden. Klein ist er und perfekt gebleicht und erhalten. Die Krähen folgen mir auf meinen Wegen. Schon immer. Ich bin einer von ihnen, das wissen sie. Sohn meiner Mutter aus der Familie Krey. Wenn es etwas Besonderes gibt, rufen sie mir von allen Seiten zu und krächzen mir von den Bäumen hinterher.
11.10.1982
Septembermond, Friedewalde
Heut' sah ich dich
in allen Dingen,
im Hauch der frühen Nebel,
in den Hecken am Wegesrand,
in den sanften Farben des Himmels,
so weit, so ewig hoch.
Erdiger Herbstgeruch,
taufeuchte Gräser, eine Amsel sang.
Alles war genau wie du.
13.11.1982
Verkehrsunfall in Bohnhorst
Aus der Dunkelheit taucht der Wagen auf, der uns gerade überholt hatte. Er liegt direkt vor uns, mitten auf er Straße. Gespenstisch, weil er verkehrt herumliegt, auf seinem Dach. Er muss gerade zur Ruhe gekommen sein. Die Räder drehen sich noch. Feiner Staub zerfliegt im Scheinwerferlicht.
Sie klettern aus den Fenstern. Es ist wie eine Szene aus einem Film, wie im Traum. Vier junge Burschen, achtzehn vielleicht. Sie stöhnen und jammern, voller Entsetzen. In ihrem Schock laufen sie ziellos herum, besehen den Wagen, mit leeren Blicken, sie sehen nichts. Sie sagen kein Wort, sprechen nicht, jammern bloß leise und weinerlich. Sie weichen mit geweiteten Augen vor mir zurück, entsetzt. Sie haben Angst.
Einer liegt noch im Wagen, im gelben Schein des Lichts. Völlig verdreht liegt er da, in seinem eigenen Blut, in einem Nest aus Splittern und Scherben. Er atmet ganz ruhig. Es ist nur sein Körper, der atmet, und sein Atem kommt tief aus ihm heraus. Sein Körper kämpft ohne ihn mit dem Tod. Er röchelt, an seiner Nase blähen sich Blutblasen. Sein Atem klingt jetzt wie ein Wehklagen aus tiefster Seele, ein leises Summen, wie ein langgezogenes, staunendes Om. Seine kleine Hand ist kalt, das Gelenk ist zerschmettert. Ich halte sie fest. Ich will ihn nicht vergessen.
01.02.1983
Friedewalde
Energietraum 2
Letzte Woche Dienstag hatte ich abends beim Einschlafen einen Traum, in dem mich wieder ein Energiestoß durchfuhr. Zum zweiten Mal. Das erste Mal war vor ungefähr 11 Jahren, als mich eine blaue Wolke durchfuhr.
Diesmal träumte ich, dass Thea in meinem Zimmer saß, in der Hühnergott-Ecke, bei meinem kleinen Altar, der mit Federn, Steinen und Fossilien, Knochen und einem Krähenschädel geschmückt war. Ich lag in meinem Bett. Thea war von einer längeren Reise zurückgekehrt (das entsprach der Realität) und kam zu mir in mein Zimmer. Sie erzählte, dass sie auf einem „wahnsinnigen" Musikkonzert mit den und den Leuten gewesen sei.
Ich wurde von ihrem Bericht müde, sehr müde. Dann schwieg sie. Nach den Regeln unserer Kommunikation hätte ich sie jetzt fragen müssen:
Na, wie war's? War's gut?
Ich war zu müde. Ich wollte nichts fragen müssen, wollte nichts hören, nichts wissen. Denn ich kannte die Antwort bereits.
„Es war gut! Saugut! Wahnsinnig irre, unheimlich toll!", würde sie sagen.
Der übliche Kram, den man sich anhören muss, selbst wenn man ihn schon kennt, dachte ich.
Ich rang mir eine Höflichkeitsfrage ab, die ich nonverbal stellte. Ich fragte wortlos, mittels einer Melodie, einem Summen, das die Satzmelodie einer Frage imitierte und gleichzeitig meinen Unmut mitschwingen ließ. Meinen Unmut, dass mich Konventionen und Gewohnheitsnormen zwangen, überhaupt fragen zu müssen, gegen meinen Willen. Dass ich die Energie aufbringen musste, mit einer gesummten Frage den Schein zu wahren. Meine Frage klang etwa so: „Hmmm-mh-mh-mmh?" Im Augenblick des Summens verpasste ich Theas Reaktion, denn ein Blitz schlug in mich ein! Ein Schlag in meinen Körper. Ich bäumte mich dagegen auf, mit aller Kraft, biss die Zähne zusammen und verkrampfte mich.
„Nein! Nein! Ich bin stärker! Du kriegst mich nicht!", rief ich.
Ich dachte, ich würde abkratzen! Als der Traum, den ich im Halbschlaf träumte, vorüber war, tat mir der gesamte Rücken weh. Woher kommt diese Energie? kommt sie? Und was bedeutet der Traum mit Thea? Hat er eine kausale Verbindung mit dem Energiestoß?
'Ja', höre ich eine Stimme in mir sagen, 'das hat er.'
Aber welche?
Hier und Jetzt
Lulan hatte 1982 keinerlei Eingebungen, welche Bedeutung sein zweiter Energietraum gehabt haben könnte.
Heute erst erhält er die Antwort, Hier und Jetzt.
***
Du liebtest die Menschenleere, eine Welt ohne Menschen.
In deinem Hochmut fandst du,
dass andere dir etwas nahmen,
dir deine kostbare Zeit stahlen.
Jetzt, da du deine Arroganz erkannt hast,
und du gelernt hast, dass der Gedanke der Trennung eine Illusion ist,
und dass es keine Zeit gibt, die man stehlen könnte -
jetzt erst erkennst du die Sprache deiner Träume.
Der Andere ist immer Teil von dir,
gemeinsam seid ihr vereint mit der Quelle,
der ihr entsprungen seid.
***
Comments ()