Was bückst du dich so tief?
Und suchst und forschst verzweifelt?
Sieh die Wolken am Himmel,
sie ziehen vorüber, leicht und frei!
Was du brauchst, will ich dir geben,
du sollst finden, wonach du suchst.
***
Hier und Jetzt
Die anhaltende esoterische Strömung führte Anfang der 80er Jahre einen Indianer nach Deutschland, der sich Sun Bear nannte. Sun Bear war ein Chippewa-Ojibwa-Medizinmann, dessen Buch The Medicine Wheel 1982 als deutsche Übersetzung unter dem Titel Das Medizinrad erschien. Die europäische Rundreise diente der Promotion der jeweiligen, verschiedensprachigen Buchausgaben.
Lulan erwarb das Buch, denn es schien wenig bekannte Facetten der indianischen Kulturgeschichte zu beschreiben. Er hatte in einer Rezension gelesen, dass Das Medizinrad die Symbolik des astrologischen Tierkreises in die indianische Totemkultur übersetze. Sun Bear habe das Design des Medizinrades in einer Vision gesehen. Das klang spannend, denn gemeinsam mit Cora hatte er sich seit gut einem Jahr mit der Bildsprache des Tierkreises und der Berechnung von Horoskopen beschäftigt. Das Medizinrad sprach ihn also in doppelter Hinsicht an.
Die Tierkreiszeichen wurden bereits im fünften Jahrhundert vor Christus in Mesopotamien entwickelt; die Wurzeln ihrer Symbolik lassen sich bis in das zweite Jahrtausend vor Christus zurückverfolgen. Die 12 Zeichen entstanden aus einer Einteilung in Vierergruppen, von denen Mensch, Adler, Stier und Löwe als die ältesten Motive gelten. Diese vier ursprünglichen Symbole finden in verschiedenen Aufzeichnungen der frühen Hochkulturen Erwähnung. Sogar in der christlichen Ikonografie sind ihre Figuren vertreten - sie repräsentieren die vier Evangelisten. Die vier Zeichen bildeten das Fundament des heutigen Tierkreises. Stier und Löwe wurden unverändert übernommen, während der Mensch durch das Symbolbild »Wassermann« ersetzt wurde und der Adler durch den Skorpion.
Einige naturwissenschaftlich denkende Körperpersonen reagieren ablehnend, wenn das Reizwort »Astrologie« fällt. Astrologische Berechnungen werden schnell in einen Topf mit den allgegenwärtigen Tages- oder Wochen-Horoskopen geworfen. Diese Fließband-Horoskope haben so gut wie nichts mit seriöser Astrologie gemein. Ihre nichtssagenden Schablonen scheinen dessenungeachtet einer treuen Leserschaft als trostspendende Hoffnungsschimmer im Alltagstrott zu dienen.
Lulans Tages-Horoskop vom 15.09.2022
(Google-Ergebnis)
Vormittag
Sie schaffen heute eine Menge und haben sogar Luft, um einem Kollegen zu helfen. Dieser ist Ihnen sehr dankbar.
Nachmittag
Der Mond geht ab 15 Uhr in Pause. Sie lassen jetzt bitte die Finger von größeren Anschaffungen.
Abend
Sie lassen sich gerne von etwas überzeugen. Ihr Partner hat neue Infos für Sie.
Gegen die Astrologie wird oft der Einwand erhoben, die am Horizont aufgehenden Sternkonstellationen, die Sternbilder und -zeichen, die der Berechnung von Horoskopen zugrunde lägen, seien Lichtjahre voneinander entfernte stellare Objekte in der Tiefe des kosmischen Raumes; diese Sterne könnten in keinen nachvollziehbaren Zusammenhang gebracht werden.
Obwohl der Einwand sachlich richtig sein mag, verfehlt er die Grundidee der Astrologie. Die Sterne sind nur ein Hilfsmittel, sie funktionieren als Zeitgeber zur Bestimmung bestimmter Kräftefelder. Ein gutes Horoskop ist sehr umfangreich, meist mehrere Seiten lang, denn es analysiert den Zusammenhang und die wechselwirkenden Beziehungen dieser Kräftefelder. Das Medizinrad von Sun Bear berücksichtigt keine Sternkonstellationen; es beschreibt Symbolbilder, die sich einzig und allein auf die Einflusssphäre der Jahreszeiten beziehen.
Die Sinneseindrücke der Umwelt und ihrer Atmosphäre werden von neugeborenen Körpern unterbewusst registriert und gespeichert. Wie »schmeckt« die Luft im September, wie riechen die Wiesen im April? Welche Farbe hat die Welt im Oktober? Im Mai hört man in der Natur andere Klänge und Geräusche als im November, auch Luftfeuchte und Temperatur unterscheiden sich. Sonne, Mond und die Planeten unseres Sonnensystems bilden zum Zeitpunkt der Geburt bestimmte Energie- und Schwingungskonstellationen. Im Kreislauf eines Jahres durchlaufen die Tiere und Pflanzen charakteristische Entwicklungs- und Aktivitätsphasen. Das Zusammenspiel der irdischen und kosmischen Energiefelder prägt die ersten Sinneseindrücke eines Neugeborenen.
Das Symbolbild der Jungfrau (August und September) reflektiert zum Beispiel das Bewahren einer reifen Frucht in seinen schützenden Keimhüllen; ihr Element ist die Erde, in deren Bauch die Früchte der Pflanzen die kalte, dunkle Periode des Jahres überdauern müssen. Der Schütze (Dezember und Januar) erwartet in der dunklen Zeit größter Entbehrungen die allmähliche Rückkehr des Lichts; sein Element ist das Feuer, über dessen Glut er im Winter gewacht hat, und nun er spannt seinen Bogen und nimmt das noch ferne Ziel der sommerlichen Fülle ins Visier.
So viele stichhaltige Argumente man gegen die Astrologie auch einwenden mag - sie funktioniert verblüffend zuverlässig, aller wissenschaftlicher Logik zum Trotz, wie auch das I Ging oder das Legen von Tarot-Karten konkret zutreffende Antworten geben. Doch wer braucht diese Prophezeiungen? Wer ist es, der Hilfe im Okkulten sucht und Sterne oder Steine um Rat fragt, statt von Gott direkt einen Hinweis zu erhalten? Ist nicht das Orakel selbst die Stimme Gottes?
Als Lulan 1982 Das Medizinrad aufschlug und darin blätterte, traute er seinen Augen kaum. Als astrologische Jungfrau gehörte er in Sun Bears Vision zum Mond der Erntezeit, sein Totemtier war der Braunbär! Sofort schoss Lulan der Gedanke an das Tattoo des Bärenkopfes auf seiner Brust durch den Kopf. Ein Tattoo, das er sich selbst elf Jahre zuvor als Dreizehnjähriger in die Haut gestochen hatte! Und mehr noch: Das Medizinrad teilte das Jahr in aufeinanderfolgende Mondphasen ein. Dies konnte kein Zufall sein! Denn seit einem halben Jahr beschrieb Lulan in seinem Tagebuch ausführlich die Besonderheiten der Mondphasen. Er hatte sich vorgenommen, die Phasen eines ganzen Jahres aufzuzeichnen. Bei jedem Mondphasenwechsel beobachtete er seine Umwelt. Dabei „erfühlte" er mit inneren Antennen das Licht, die Luft, die Geräusche, auch das Verhalten der Körperpersonen, denen er begegnete.
Es gab kein Zögern und kein Halten, er musste zu Sun Bear! Dies musste seine Bestimmung sein, die er erfüllen wollte. Aber wie sollte er als mittelloser Kunstmaler die Reise finanzieren?
Doch wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg. Und Geld ist nichts weiter als ein Tauschmittel. Vom Standpunkt der Spiritualität betrachtet, ist Geld jederzeit verfügbar! Entscheidend ist, welchen Zweck es erfüllt. Körperpersonen erhalten alles, was ihrer spirituellen Entwicklung dienlich ist, nicht nur Geld, sondern alle erforderlichen materiellen Dinge. Allerdings öffnen sich die Geldhähne erfahrungsgemäß nicht einfach von selbst, während man schlaff im Sessel vor der Glotze hängt. Für erfolgreiche Unternehmungen braucht man (1) eine zündende Idee, (2) Durchhaltevermögen, (3) genügend Tatendrang und (4) eine gute Portion Optimismus.
Die Punkte 2 bis 4 waren kein Problem für Lulan, er war jung und strotzte vor Tatendrang und Selbstvertrauen. Was fehlte, war die zündende Idee. Die Kosten für die USA-Reise würden sich auf 2500 bis 3000 DM belaufen, das hatte er berechnet. Der Bärenstamm (Bear Tribe Community) unterhielt eine große Farm in einem Reservat nahe der Stadt Spokane. Die Adresse hatte er ganz einfach mithilfe von diversen Telefonaten herausgefunden. Er brauchte Geld für den Flug nach New York, dazu kämen die Kosten für Übernachtungen und Verpflegung und die weitere Reise zur Farm. Wie konnte er an diese Summe kommen? Die Antwort auf diese Frage klärte sich ein paar Tage später: Er würde die Reise durch den Verkauf von Trommeln finanzieren! Das war die gute Idee, die ihm noch gefehlt hatte.
Trommeln waren angesagt, sie wurden auf Märkten und in Dritte-Welt-Läden angeboten, sogar »auf dem Dorf« wurden Trommelgruppenseminare angeboten. Und Lulan und Uwe, die beiden WG-Bewohner aus dem ostwestfälischen Hinterland, mischten bei Trommelangelegenheiten als Avantgardisten munter vorne mit. Sie hatten mit ihren Earth Drums ein eigenes, attraktives Trommel-Modell entwickelt und gingen damit in die Produktion.
Lulans Plan sah vor, so viele Earth Drums zu verkaufen, bis die Einnahmen für den USA-Trip reichen würden. Im Frühjahr 1983 packte er neun Trommeln in verschiedenen Form- und Farbausführungen in den Laderaum des WG-Autos (ein Ford Escort Kombi), und tingelte damit zwei Wochen durch die Lande. Er fuhr auf der A2 in westlicher Richtung und klopfte in den Städten entlang der Autobahn bei den lokalen Musikgeschäften an. Die Sache lief zu Lulans Erstaunen wie von selbst.
Cora lebte 1983 in Amsterdam, der Stadt ihrer Wahl, und die letzte Trommel verkaufte Lulan an den Musikladen Hampe & Berkel am Spui in Amsterdam.
Der Verkaufspreis der Trommeln lag zwischen 250 und 400 DM, eine Summe, die Lulan peinlich war, weil er sie zu hoch fand. Er musste sich regelrecht überwinden diesen Betrag auf Nachfragen zu nennen. Uwe meinte, je teurer die Trommeln angeboten würden, desto überzeugter seien Leute von der Einzigartigkeit und Qualität der Ware. Er hatte verrückterweise recht, Lulans Verkaufstour bestätigte die Theorie. Uwe „Alban" Berg war ein engagierter Musiker und Trommelbauer, und nebenbei war er auch ein cleverer Geschäftsmann.
Die Land-WG-Szene war Lulan wohlgesonnen, man kaufte ihm aus Solidarität Trommeln ab. Rolf, der beileibe kein reicher Mann war, schenkte ihm obendrein mehrere hundert Mark für die geplante Reise. Die Geschichte des Bärentattoos auf der Brust eines verlorenen Kriegers, der seine spirituellen Wurzeln suchte, weckte Sympathien bei vielen Körperpersonen. Dies war der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Ganz großes Kino. Die zündende Idee hatte funktioniert. Durch die Trommelverkaufstour als Handlungsreisender hatte Lulan die Kohle für den USA-Trip zusammen und konnte den Flug buchen.
Möglicherweise befand sich die gesamte Menschheit 1983 in einer Phase der Traumverwirklichungen. Falls es keine globale Zeiterscheinung war, betraf es zumindest einige Menschen in Friedewalde und Nordhemmern. Denn auch Uwe Berg und Micha Wex planten, ihre Träume in die Tat umzusetzen. Sie hatten sich entschlossen, bei einer Aussteigerinitiative einzusteigen. Die Mitglieder der Gründungsgruppe hatten vor, als fahrendes Volk mit Traktoren und Wohnwagen durch die Lande zu ziehen. Sie hatten einen Winterlagerplatz auf einer Wiese südlich von Bremen eingerichtet, und nach und nach entstand dort eine ringförmige Wagenburg. Dies war die Geburtsstunde des »Zirkus Hexenkessel«.
Micha hatte einen ausrangierten Zirkuswohnwagen aufgetrieben, dessen Holzaufbauten stellenweise verfault und verrottet waren. Der Wagen muss einst ein imposantes Schmuckstück gewesen sein. Der Aufsatz der zweistufigen Dachkonstruktion ließ durch schmale Fensterreihen zusätzliches Licht ins Wageninnere; die Außenhaut bestand aus filigranen Profilleisten, die mit Messing-Zierschrauben befestigt waren. Die WG in Friedewalde hatte Micha angeboten, die Restaurierung auf ihrem Grundstück durchzuführen, und er hatte das mächtige Gefährt in der Einfahrt des Hauses abgestellt. In den darauffolgenden Wochen beobachtete Lulan mit Interesse, wie der Wohnanhänger zuerst bis auf sein Holzgerüst entmantelt wurde, danach neue Wandverkleidungen erhielt und abschließend eine aus drei Räumen bestehende Inneneinteilung bekam. Der restaurierte Zirkuswagen war eine Wucht. Der Gedanke, mit einem eigenen Wohnwagen auf Reisen zu gehen, schien Lulan außerordentlich reizvoll.
12.02.1983
Friedewalde
Cora und Emil zu Besuch. Meine Kraft kehrt zurück, verdoppelt. Gute Energieschwingungen, ich habe viel geschafft. Die Trommeln gebrannt, das Auto repariert. Heute kam ein Querflötenschüler von Rolf, um eine Trommel zu kaufen. Dieter hat mir auch eine abgekauft. Wahnsinn! Es rollt und rollt. Es überrollt mich. Euphorie, gute Echos. Pass auf, Stefan! Vorsicht vor der Hochstimmung. Ich will mich erinnern, wie es war, als ich trauerte.
21.02.1983
Friedewalde
Es kam wieder, wieder zurück, mitten im Schlaf. Ich stand daneben, neben mir selbst, im Schlaf! Es war ein sexuelles Verlangen, aber anders, stärker noch, so unglaublich stark und aufregend, dass ich immer noch ein wenig Angst davor habe. Dennoch weiß ich, dass ich es kennenlernen werde!
Ich muss die Trommeln verkaufen. Ich will sie verkaufen!
Was war das alles, dieser Besuch von Emil und Cora? Ich blicke nicht durch.
08.03.1983
Friedewalde
Die ersten Tage im März, nach dem langen Schnee. Kalte Nässe und geruchlose Dunkelheit. In mir vibriert dieser erste warme Tag. Die ersten Tage mit offenem Fenster, wie die ersten Tage auf dieser Welt. Allein.
Die Luft ist warm, summendes Leben, Mücken tanzen. Wie ungewohnt!
Die erste Fliege! Herzlich willkommen!
Dann so eine Ahnung in der Küche, im Sessel. Weiß nicht woher und wieso. Ich hebe langsam den Kopf, drehe mich um: das Fenster, die Hecke, die Wiesen. Die Sonne.
Dieses vertraute Summen, tief im Inneren! Das instinktive. uralte Verlangen nach Weite.
24.03.1983
Gelsenkirchen
Die Zeit vergeht rasend. Das ist das Tempo der Städte. Zwei Wochen lang Trommeln verkaufen, in diesem hässlichen Ballungsgebiet. Überall Menschen und jede Menge Industrie, im Kohlenpott und in Köln. Zwei Wochen im Auto fahren. Kein weicher Mutterboden unter meinen Füßen, nicht die sanfte, lebendige Erde, zwei Wochen kalter, harter Asphalt.
Die Verkaufstour läuft ab wie eine Traumsequenz, in der es keinen Halt gibt. Haltlos. Ohne Raum. Raumlos. Ich bin stark, ich erreiche meine Ziele. Fast jedes. Doch meine guten Kräfte sind vage, undeutlich. Es ist eine extreme Reise ohne Besinnung, von Stadt zu Stadt, mit einer Trommel im Arm. Und noch acht weiteren im Kofferraum.
In das Leben eintauchen, reinstürzen, bis zur Erschöpfung, ohne nachzudenken. Es ist gut, solange es dauert! Mal was anderes, das genaue Gegenteil von der Ruhe in Bohnhorst und Friedewalde. Besinnung und Stille - ich werde sie immer vorziehen. Ohne jeden Zweifel.
28.03.1983
Friedewalde
Ich bin jetzt groß und stark. Ich kann es gar nicht fassen. Vor elf Jahren war ich dreizehn, ein kleiner, dünner Junge zwischen den Großen und Älteren, den Freaks und Cracks. Gestern kam einer von ihnen bei uns in der WG vorbei. Heinz. Er sagte, er würde mich bewundern, mich! Mich, und was ich so machte. Wahnsinn! Heinz. Ich weiß noch wie ich hinter ihm stand und ihm beim Zeichnen zusah, vor elf Jahren in der Teestube. Er zeichnete mit feinen Bleistiftstrichen eine voll abgefahrene Fantasielandschaft, geduldig und sehr entspannt. Die Landschaft erinnerte mich an die LP-Cover von Yes. Jahrelang habe ich davon fantasiert, auch so zeichnen zu können. Jahrelang brauchte ich, um den Gedanken, klein und unbedeutend zu sein, loszuwerden. Jetzt steht Heinz hier in meinem Zimmer und macht mir Komplimente!
Hier und Jetzt
Vom Entschluss den Bärenstamm zu besuchen bis zum Flug über den Atlantik verging ein knappes Jahr. Am fünften Mai 1983 flog Lulan von Amsterdam nach New York. Er war 24 Jahre alt und befand sich am Ende seiner vierten Entwicklungsphase, ein Lebensabschnitt, den Maria Montessori in ihrem pädagogischen Werk leider nicht nennenswert berücksichtigt hat.
Lulan blieb ein paar Tage in New York, um die Eindrücke dieser legendären Stadt auf sich einwirken zu lassen. Jetzt war er also dort, in persona, stand inmitten der unerreichbaren Ferne, von der er als Elfjähriger geträumt hatte. Er wanderte mit weit offenen Augen durch die langen Schatten der Wolkenkratzer. Im Central Park kaufte er sich einen Joint, den er ohne großartig suchen zu müssen von einem Kleindealer angeboten bekam. Lulan rauchte ihn ganz unbefangen auf einer der Parkbänke sitzend.
Als Cora und Lulan Ende der 90er Jahre in Virginia lebten, war die geduldete Freizügigkeit gegenüber weichen Drogen restlos verschwunden. Sie entnahmen Berichten der regionalen Tageszeitung, dass hauptsächlich männliche Afro-Amerikaner von Verstößen gegen das Drogengesetz betroffen waren. Der Besitz eines Tütchens Marihuana, der in den Niederlanden legal gestattet war, konnte in den USA der späten 80er Jahre mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet werden. Oft wurden für das Strafmaß neben dem Besitz von Cannabis mehrere weitere, teils fragwürdige Verstöße miteinbezogen; das durchschnittliche Strafmaß für Drogenverstöße betrug 1988 sechs Jahre. Das entspricht in etwa dem deutschen Mindeststrafmaß für Totschlag.
Da Lulan sich angesichts seiner knappen Reisekasse keine großen Sprünge erlauben konnte, kaufte er für den zweiten Teil seines Trips ein Busticket von Manhattan nach Seattle. Im Port Authority Terminal an der 42sten Straße stieg er in einen Greyhound-Bus. Die Route führte zunächst nach Chicago, anschließend durch den nördlichen Teil des mittleren Westens, durch Montana und über die Rocky Mountains. Sein Ticket gewährte ihm eine begrenzte zeitliche Flexibilität, er musste Seattle innerhalb von vier Tagen erreicht haben. Innerhalb dieser Ticketfrist konnte man an jedem Terminal aussteigen und seine Fahrt mit einem der nachfolgenden Greyhound-Busse fortsetzen. Lulan verbrachte ein paar Stunden in Chicago und fuhr am frühen Abend weiter.
Die zweitägige Fahrt mit dem Greyhound-Bus war überaus strapaziös, längere Schlafphasen wollten ihm nicht gelingen, und am zweiten Tag stellte sich ein halbwacher Dämmerzustand ein, der einem Delirium nicht unähnlich war. Trotzdem genoss er die Busfahrt, nahm die wechselnden Landschaftsformen in sich auf und beobachtete die bunte Vielfalt der Mitreisenden, die sich von Station zu Station veränderte.
Es gab Greyhound-Profis, deren wichtigstes Gepäckstück ein großes Kopfkissen war, in das sie unmittelbar nach der Weiterfahrt schlafend versanken, um kurz vor ihrem Ziel-Terminal pünktlich wieder aufzuwachen.
In den endlosen Prärien Montanas benutzten Farmer den Greyhound als Linienbus; sie stiegen beim nächsten Halt, der 20 oder mehr Kilometer entfernt liegen konnte, wieder aus. So unterschiedlich die Reisenden in ihrer Vielfalt auch waren, eines hatten sie alle gemein – sie gehörten den unteren, ärmeren Bevölkerungsschichten an. Damit hörten die Gemeinsamkeiten bereits auf. Lulan fiel auf, dass die Anzahl farbiger Mitreisender in der Nähe größerer Städte zunahm, während in ländlichen Gebieten überwiegend weiße Fahrgäste zustiegen.
13.05.1983
Seattle
Als während eines Streckenabschnitts der Bus spärlich besetzt war, saßen direkt vor mir zwei ältere, grauhaarige Männer. Die beiden trugen Baseball-Kappen von Landmaschinenherstellern, karierte Baumwollhemden mit Hosenträgern und reisten ohne Gepäck – unverkennbar zwei Farmer, die den gängigen Klischeevorstellungen perfekt entsprachen. Beide bissen mit großem Eifer auf ihren Kaugummis herum.
Drei Sitzreihen vor den Farmern saß eine Mutter mit ihren beiden Kindern, ein Junge, um die sieben Jahre alt, und seine jüngere Schwester. Ihre Hautfarbe war dunkelbraun. Obwohl sich die beiden Farmer nicht laut unterhielten, war ihr Gespräch unüberhörbar. Sie monierten das Verhalten der farbigen Geschwisterkinder, die die Langeweile der eintönigen Busfahrt mit verschiedenen interaktiven Spielchen und Spielereien überbrückten. Aufgrund ihres nuscheligen Slangs verstand ich nur Satzfragmente der beiden Kaugummibauern.
„… learn to behave!", hörte ich den älteren Mann sagen; er trug eine Brille mit sehr dicken Linsen.
„Yeah!", stimmte ihm der jüngere Farmer zu.
„…don't show any respect at all … learn to show respect!"
„Yeah! Respect! … elder people! Know what I mean?"
"Yeah!", entgegnete der Ältere.
Bis hierhin hätte ich dem Geschwätz noch keine größere Bedeutung beigemessen. Rentner, die sich über spielende Kinder beschweren, waren leider auch in Deutschland Anlass für Nachbarschaftskonflikte. Ich wurde hellhöriger, als mir auffiel, dass die Mäkelei der beiden Bauern kein Ende fand. Sie ätzten pausenlos weiter ohne den Tonfall ihres Singsangs zu ändern. Ihre Unterhaltung glich einem Ping-Pong-Spiel.
„Know what I'm sayin'?"
„Yeah! You bet!
„Yeah!"
„Right!"
Die Sache entwickelte sich langsam aber sicher zu einem absurden Theaterstück, in dem zwei rassistische, identisch gekleidete, grauhaarige Farmer als Zwillingspapageien auftraten. Seit sie zugestiegen waren, hatten sie mit ihren galligen Bemerkungen schon mehr als eine Stunde verbracht. Sie mussten in eine Trance geraten sein und eine Beschwörungslitanei heruntergebetet haben. Die Mutter der spielenden Geschwister, die in dem leeren Bus die Kommentare der Männer hören musste, schien deren Nörgelei stoisch zu ignorieren.
Der Bus hatte unterdessen am nächsten Terminal haltgemacht und es stiegen zwei neue Passagiere ein, eine übergewichtige, junge Frau, die hinter dem Fahrer Platz nahm, und ein farbiger, breitschultriger Hüne, dessen Körperlänge knapp über der Zweimetermarke liegen musste. Er trug eine Adidas-Tasche über der Schulter und strebte auf die Sitzbänke im hinteren Busbereich zu. Wenn ich heute an die Szene zurückdenke, erscheint das Bild des Basketballspielers LeBron James (dessen Körper 1983 noch nicht das Licht der Welt erblickt hatte) vor meinem geistigen Auge. Der Hüne war hellwach und reagierte ohne zu Zögern auf das Gesülze der alten Männer, seine Stimme klang tief und relaxed.
„They are just kids, Mister", meinte er, „Why don't you just let'm play?"
„That ain't none of ya business, I s'pose!", entgegnete der Ältere mit der Brille.
„You better open your eye, Mister! Better open your eye!", erwiderte der Hüne. Sperr' deine Augen auf und sieh, wen du vor dir hast, alter Mann! Ich war von dieser seelenruhigen Ansage – die ja eine ernstgemeinte Drohung beinhaltete - schwer beeindruckt, genau wie die beiden Nörgler. Zum ersten Mal seit sie vor mir Platz genommen hatten, verstummten die beiden Farmer. Sie hielten schlagartig ihre Klappe. Ich beobachtete die synchronen Bewegungen ihrer Wangenmuskeln, während sie schweigend ihre Kaugummis bearbeiteten. Die Amis hatten ihr Rassenproblem anscheinend noch immer nicht überwunden.
In Spokane verließ ich den Bus, denn ich hatte dringend eine Runde Tiefschlaf nötig. Spokane war zwar das Ziel meiner Reise, doch auf der Farm der Sonnenbären fand gerade ein Vision Quest-Ritual statt, alle Gästeunterkünfte waren belegt. Man bot mir an, mich in vier Tagen, wenn die Zeremonien abgeschlossen sein würden, mit dem Land Rover abzuholen. Vier Tage, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich entschloss mich, einen Abstecher nach Seattle zu machen.
Am Abend suchte ich mir ein Hotel, das einen im doppelten Sinne des Wortes billigen Eindruck machte, und buchte ein Einzelzimmer für erschwingliche sieben Dollar. Als ich durch einen nicht enden wollenden Flur zu meinem Zimmer lief, wunderte ich mich, dass viele der Hotelzimmertüren weit offenstanden. In den meisten der spärlich möblierten Räume saßen zwei oder drei Männer, die Unterhemden trugen und biertrinkend vor lärmenden Fernsehgeräten hockten. Sie blickten auf, als ich vorüberging, und musterten mich aufmerksam. In einem anderen Zimmer stritt eine rauchende Frau mit einem schweigenden Mann (auch er im Unterhemd). Ein paar Türen weiter teilten sich ein Ehepaar und ihre drei Kinder einen Raum, in dem drei Liegen dicht aneinander standen.
Mein Zimmer war bis auf ein schmales Einzelbett leer. Es war kahl, und es war blau. Kornblumenblau. Alles war mit einer dicken Schicht Dispersionsfarbe übertüncht worden, die Wände, die Tür, sogar die Stuckdecke. Den einzigen Farbkontrast bildeten die goldglänzenden Messingbeschläge der Tür. Der flauschig-dicke, fleckengesättigte Teppichboden sah aus wie Originalauslegware der fünfziger Jahre, seine ursprüngliche Farbe muss im blaugrauen Farbspektrum gelegen haben. In einem ansonsten leeren Wandschrank lag eine staubige, fusselige Decke, die ich nicht anzufassen wagte. Auch das Bettzeug wirkte suspekt und ich war froh, meinen Schlafsack dabei zu haben.
Ich hatte Malutensilien und einen kleinen Zeichenblock dabei. Der Messingknauf der blauen Tür reizte mich visuell und ich fertigte eine farbige Skizze an. Es war inzwischen dunkel geworden, und ich rollte den Schlafsack aus, um hundemüde hineinzukriechen, als jemand an meine Tür klopfte.
„Open up!", verlangte eine gedämpfte Frauenstimme. Ich blieb still auf dem Bett sitzen, gab keine Antwort. Dann wieder das Anklopfen und die Stimme, dieses Mal lauter.
„Open up!"
Go away! I am not interested!", rief ich in Richtung Tür. Daraufhin hörte ich, wie sich die Frau flüsternd mit einem Mann unterhielt. Ich konnte ihre Schatten im Lichtspalt unter der Tür erkennen. Nach einer halben Minute, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, entfernten sich ihre Schritte im Flur. Mann, Mann, Mann! Dieses Hotel war die allerletzte Absteige.
Kaum im Schlafsack, schloss ich die Augen und sofort breitete sich eine warme Entspannung in meinem Körper aus. Kurz bevor ich einschlief, nahm ich schlaftrunken ein Geräusch war, das nach fallenden Wassertropfen klang. Die Frequenz der Tropfgeräusche erhöhte sich von Minute zu Minute. Was zum Kuckuck war das jetzt wieder? Ich schaltete das Licht an, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann blickte ich hoch zur Decke - und dachte mich träfe der Schlag! Die Zimmerdecke war übersät mit Kakerlaken! Es waren so viele, dass einige über ihre Artgenossen krabbelten. Gelegentlich verloren sie den Halt und fielen auf den Teppichboden. Plopp! Plopp! Das waren die vermeintlichen fallenden Tropfen. Es waren nicht allein unglaublich viele Kakerlaken, sie waren auch imponierend groß. Einige ausgewachsenen Exemplare maßen locker vier Zentimeter. Ich war entsetzt. Was sollte ich machen? Was konnte ich machen? Ein Hotelwechsel kam nicht infrage, es gab in diesem Stadtteil nur dieses eine Hotel. Die Kakerlaken zu beseitigen konnte ich vergessen; sie hatten das gesamte Hotel längst annektiert, und es gab außerdem nicht einmal einen Stuhl in diesem blauen Zimmer, auf den ich hätte steigen können. Erfreulicherweise hielten sich relativ wenige Insekten direkt über meinem Bett auf, dafür wimmelten sie dicht gedrängt über der verstaubten Decke beim Wandschrank.
Ich musste unbedingt noch eine Runde Schlaf ergattern. Mein Schlafsack hatte am Kopfende eine Kapuze, die ich über meinem Gesicht mit den beiden eingesäumten Schnüren verschloss. Ich zog die Schnüre so dicht zusammen, dass noch eine kleine, runde Öffnung blieb, durch die meine Nase zum Luftholen passte. Der Rest meines Körpers war in Sicherheit. Ich hoffte, dass mir die Biester nicht auf der Nase herumtanzen würden, und versuchte mir vorzustellen, welches Bild ich in meinem Nasenschlafsack wohl für Außenstehende abgeben würde. Zu meinem eigenen Erstaunen gelang es mir nach knapp einer halben Stunde einzuschlafen.
War es eine Sekunde oder eine Stunde später? Ich schnellte aus dem Tiefschlaf auf. Jemand war in meinem Zimmer. Mehr oder weniger. Eine Gestalt stand draußen auf der Feuertreppe und hatte mein Fenster, das ich eine Handbreit offengelassen hatte, vollends aufgeschoben. Mit einem Bein stand der Eindringling bereits auf dem Teppichboden und machte Anstalten, den restlichen Körper durch die Fensteröffnung zu zwängen.
„Water! I need some water! Water!", jammerte er leise weinerlich vor sich hin.
Mit aufgerichteten Rückenhärchen saß ich ansatzlos kerzengerade und hellwach in meinem Schlafsack.
„GET OUT!", schrie ich mit maximal möglicher Lautstärke und aus voller Lunge. Mein Gebrüll zeigte Wirkung - die Gestalt hatte ihr Bein wie von der Tarantel gestochen blitzschnell zurückgezogen Ich schoss noch eine zweite Salve ab:
„GET OUT! PISS OFF!", donnerte ich dem Zurückweichenden hinterher. Es musste sich entweder um einen Betrunkenen oder um einen Verrückten handeln. Oder um beides, einen betrunkenen Irren. Wo war ich hier bloß gelandet? Was war dies für ein eigenartiges Land, in dem ich unterwegs war? Als es hell wurde, verkrochen sich die Schaben in ihre Schlupfwinkel, und ich schlief ermattet ein.
Am nächsten Morgen verließ ich den Kackerlakenpuff, erleichtert. Und immer noch müde. Zum Frühstück reichte mir ein Styroporbecherkaffee und ein Bagel. Ich stieg beim Terminal in den bereitstehenden Greyhound-Bus. Verglichen mit der Nacht in der Absteige, die einen Vergleich mit Dantes Inferno nicht scheuen musste, kam mir der Bus wie eine heimelige Zufluchtsstätte vor.
In den Vorstädten von Seattle füllte sich der Bus, und ein Mann in meinem Alter setzte sich neben mich. Nach dem in den USA unvermeidlichen einleitenden Smalltalk - Where are you heading? Where are you from? - erzählte mein Sitznachbar seine Geschichte. Er habe gerade in Florida eine Gefängnisstrafe abgesessen, obwohl er nichts verbrochen habe. Die Schilderung der Ereignisse, die irrtümlicherweise zu seiner Verurteilung geführt hatten, war verworren und unstrukturiert. Nun sei er auf dem Weg nach Seattle, um auf einem Trawler anzuheuern und auf Fischfang zu gehen; damit sei das große Geld zu holen. Kurz vor Seattle schrieb ich ihm meine Adresse auf.
Nicht weit vom Bus-Terminal fand ich ein akzeptables Hostel, das direkt an der Elliott Bay lag. Den nächsten Tag verbrachte ich an den Piers in einem kleinen Park, wo vorwiegend männliche Körperpersonen jeglicher Couleur herumhingen. Hier hockten Schwarze neben Weißen, und zwischen ihnen erkannte ich einige Indianer, Native Americans.
Die meisten Typen im Park waren langhaarige Freaks in meinem Alter. Man hätte mich meiner äußeren Erscheinung nach nicht als Fremden ausmachen können. Ich versuchte mit dem einen oder anderen ins Gespräch zu kommen, doch sie reagierten durch die Bank derartig cool, dass ich mir vorkam wie ein Zirkusclown. Man antwortete mir einsilbig und abweisend, ich konnte das dubiose Verhalten der Burschen nicht einordnen. Sie schienen auf etwas zu warten, in der Luft hing eine stille Nervosität.
Ich wechselte mit einem jungen Weißen ein paar Worte. Seine Antworten waren inkohärent, er stand dem Anschein nach unter Drogeneinfluss. Als unser Gespräch verstummte, begann er leise vor sich hin zu singen, wobei er mit den Knöpfen seiner Jacke spielte.
„… they're gonna rip you off … hey baby! … they're gonna rip you off … baby, baby … ripya-ripya-off .."
Ein paar Momente lang überlegte ich, ob er nun versuchte mich zu warnen oder eine schwere Borderline-Variante zum Ausdruck brachte. Ich erhob mich unauffällig und schlurfte betont lässig zurück zu meinem Hostel. Der Park war ein Treffpunkt der Drogenszene, und ich empfand die Atmosphäre ähnlich bedrückend wie die vergangene Nacht in dem blauen Hotelzimmer in Spokane.
Die Stadt, auf die ich mich so lange gefreut hatte, glich an diesem Abschnitt der Elliott Bay keinem Glanzprospekt. Ich verließ Spokane und fuhr mit einem Linienbus auf die Olympic Peninsula. Der Landmensch sehnte sich nach Ruhe. Außerdem wollte ich unbedingt das Ufer des großen Pazifischen Ozeans sehen.
Hier und Jetzt
Die Farm des Sonnenbärstammes hatte sich Lulan in seinen Indianerfantasien anders vorgestellt. Vollkommen anders. Er konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Wo waren die Indianer? Er sah nicht einen einzigen Native Indian. Sun Bear und Wabun waren abwesend, sie tourten durch Oregon. Auf der Farm liefen größtenteils Bleichgesichter herum, Bewohner, die durchgehend hier lebten, und Besucher, die das ganze Jahr hindurch kamen und gingen. So wie Lulan selbst auch. Er bekam ein großes Tipi ganz für sich allein, es stand auf einer Anhöhe oberhalb des Hauptgebäudes. In der Mitte des erstaunlich geräumigen Zeltinnenraums umsäumten runde Steinblöcke eine Feuerstelle.
Die anfängliche Enttäuschung war bald vergessen. In der Farmgemeninschaft ging man offen und freundlich miteinander um. Es wurde viel gelacht, die Menschen wirkten ausgeglichen und sehr entspannt, obwohl der Tagesablauf streng geregelt und arbeitsam war. Nach dem Frühstück jäteten einige Besucher gemeinsam Unkraut im großen Gemüsegarten und legten neue Beete an, zwischendurch wurden die Nutztiere versorgt; andere waren in kleinen Gruppen mit Reparaturarbeiten beschäftigt. Abends gab es außerordentlich schmackhafte Mahlzeiten in üppigen Portionen, anschließend tauschten sie am Lagerfeuer Erlebnisse aus oder erzählten sich anekdotische Geschichten.
Sie ernährten sich von den Früchten, Knollen und Körnern des Gartens, und sie aßen die Tiere, die sie zuvor noch versorgt hatten. Der heute oft als Konflikt empfundene Verzehr tierischer Nahrung war für die Menschen der Bärenstamm-Gemeinschaft Teil eines harmonischen Naturkreislaufs.
Sun Bears spirituelle Botschaft reflektierte die Bräuche der amerikanischen Ureinwohner, die im Einklang mit Mutter Erde lebten und Taku Skan Skan [1], der Kosmischen Lebenskraft, für ihre Gaben dankten. Seine spirituelle Lehre gründete sich auf seine Visionen und Träume. Er glaubte, dass Menschen von Geistern geführt würden und dass die Authentizität dieser Führung wahrnehmbar sei. Man könne wissen, wann Geister in der Nähe seien. Ihre Anwesenheit sei gut erkennbar, man erfahre sie als subtile Energiewechsel. Manchmal sei ein leises Flüstern zu hören, ein anderes Mal zeige ein Hauch in der Luft eine energetische Veränderung an.
Alles, was sie aßen, ob Tier oder Pflanze, wurde als Geschenk der Natur geehrt. Die Nutztiere, zu denen sie persönliche Bindungen aufgebaut hatten, mussten geschlachtet werden. Das Leben eines Tieres wurde als Tauschgeschenk empfangen. Konsequenterweise lernten die Farmbesucher, wie sie vor der Schlachtung eines Nutztieres durch zeremonielle Gebete ihre Dankbarkeit und ihren Respekt für das erhaltene Leben zum Ausdruck bringen konnten.
Lulan war gekommen, um eine Vision für seinen weiteren Lebensweg zu suchen. Sun Bear hielt sich leider nur kurz auf der Farm auf. Lulan hatte den Zeitpunkt seines Besuchs schlecht gewählt und würde ohne Vision Quest nach Europa zurückkehren müssen.
Die Tradition der indianischen Visionssuche wurde bei vielen nordamerikanischen Indianerstämmen als Initiationsritual für Heranwachsende durchgeführt, zum Beispiel, wenn ein junger Mensch das 13. Körperjahr erreicht hatte - der Beginn der von Maria Montessori postulierten dritte Entwicklungsstufe. Der Ablauf eines Vision Quest variierte von Stamm zu Stamm. Bei einigen Stämmen unternahmen beide Geschlechter die Visionssuche, bei anderen wurde sie ausschließlich für Jungen durchgeführt. Das Ziel des Rituals war der Identitätswechsel zu Beginn des Erwachsenenlebens. Der Suchenden bat den Großen Geist (Great Spirit) um eine Vision, die ihm zukünftig als Leitbild und Namensgeberin seiner neuen Identität dienen würde. Dafür musste der Jugendliche drei oder mehr Tage an einem abgelegenen Ort verbringen. Bei einigen Völkern lag er während der Suche in einer Erdkuhle, die mit Fellen ausgekleidet und abgedeckt wurde. Durch Schlaf- oder Nahrungsentzug sollte das Eintreten einer Vision erleichtert werden.
Die Besonderheiten einer individuellen Vision fanden abschließend Berücksichtigung, um dem Jugendlichen, der bis dahin auf einen Kindernamen gehört hatte, einen neuen Namen zu verleihen. Man bezog sich dabei häufig auf Begegnungen mit Tieren oder auffällige Naturerscheinungen, die sich während der Visionssuche ereignet hatten. Indianische Namen wie Two Bears, Rolling Thunder, Standing Deer oder Brother-of-Hawk-and-Eagle deuten auf solche Ereignisse hin.
______________________________[1] In der Lakota-Sprache der Teton Sioux bedeutet »skan« unter anderem Himmel. »skan taku skan« bezieht sich auf die spiralförmige Bewegung des Kosmos, beziehungsweise auf die kosmische Energie, die alle Bewegungen verursacht; »skan taku skan« wird häufig mit dem Ausdruck Etwas in Bewegung übersetzt. Im Hinduismus verkörpert Shiva diesen Aspekt der kosmischen Energie.
22.06.1983
Bear Tribe Community, Spokane
Als Sun Bear und Wabun von ihrer Reise kurz auf die Farm zurückkehrten, hatten wir abends im großen Gemeinschaftsraum ein Meeting. Es wurden die Arbeiten und Zeremonien für die nächsten Wochen geplant. Auch kam kurz ein Konflikt zur Sprache, den ich mit einem anderen Besucher namens Jack hatte. Jack kritisierte mich tagtäglich, er hatte ständig etwas an meinen Arbeiten auszusetzen. Ich vermute, er fand mich irritierend arrogant, womit er nicht danebengelegen haben dürfte. Ich hielt mich für eine Art Indianer aus Deutschland, trug selbstgenähte Mokassins und selbstgemachte Ohrringe. Jack sah aus wie ein weißhäutiger, grobschlächtiger Cowboy, und so verhielt er sich auch. Ich sah auf ihn herab, was er unfraglich gemerkt haben musste.
Vor dem Meeting mit Sun Bear und Wabun hatte ich gebeten zu meinem Konflikt mit Jack Stellung nehmen zu dürfen. Als ich zu sprechen begann, musste ich seltsamerweise heulen. Es geschah einfach so, es kam aus dem Nichts, ich hatte es nicht kommen sehen. Ich nahm wahr, wie Jack die Augen verdrehte. (Wer könnte es ihm verdenken?) Als ich geendet hatte, gab mir Wabun eine Antwort, die mich stark berührte. Sie hatte einen zentralen Wesenszug meiner Körperperson erfasst. Von dem, was sie über mich sagte, stach ein Satz hervor, der sein Ziekl traf und bis auf den heutigen Tag frisch in meinem Bewusstsein steht.
„Be careful, Stefan! You rush into things too fast!"
Zum Abschied meines zweimonatigen Besuchs erhielt ich von Cougar, einem Bewohner der Farm, eine Bärenpfeife als Geschenk. Sie war ein Kleinod, mit einem langen Schacht und einem Bärenkopf aus Speckstein. Cougar hattIe sie selbst angefertigt. Weil Geschenke in der indianischen Tradition oft Tauschgeschenke sind, schickte ich ihm nach meiner Rückkehr ein Marderfell, das ich in Friedewalde einem überfahrenen, frisch verstorbenen Tier abgezogen und selbst gegerbt hatte. Das Fell, samt Köpfchen und dem langen Schweif, war seidenweich, die Innenseite schimmerte schneeweiß.
22.07.1983
New York
Auf der Rückfahrt nach New York war ich komplett in Gedanken versunken und ließ die vergangenen Wochen Revue passieren. Ich kann mich weder an Mitreisende, noch an irgendwelche Landschaften erinnern. Nicht an das geringste Detail. Null.
Meine Erinnerung setzt erst wieder mit Bildern eines Elektro-Discounters in Manhattan ein, bei dem ich einen Walkman kaufe. Dann wieder einige abrupte Wechsel von totalen Blackouts und hyperrealen Erinnerungssequenzen.
Erinnerungslücken entstehen, wenn man seine Umgebung nicht mehr wahrnimmt. Wenn man an etwas anderes denkt.
Ich sitze im Flugzeug. Der Rückflug nach Amsterdam. Ich halte meinen Walkman in der Hand und versuche, mir Earbuds in die Ohren zu pfriemeln. Im Walkman läuft ein Kassetten-Album, das ich gestern im gleichen Laden gekauft habe - Late for the Sky von Jackson Browne. Die Boeing hebt ab und steigt in den azurblauen Himmel über New York. Ich schwebe mit, leicht und frei. Tiefer Frieden.
Der Walkman spielt Farther on. Ich bin nicht leibhaftig hier, ich bin überall, magisch-entrückt. Der Atem der Unvergänglichkeit. Wir kreisen über Manhattan, der Himmel gleitet an mir und dem Flieger vorbei. Alles bewegt sich um mich herum, ich selbst stehe still. Schwerelos. Das Leben ist ein bezauberndes Wunder. Ein wundervoller Zauber.
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