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Was denn?

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9 Vision Quest im Hexenkessel (Stell' dir vor, es geht!)

Alles, was Menschen voneinander trennt,

ist das Ergebnis ihrer Gedanken.

Der menschliche Geist, der das wahre Selbst nicht kennt,

hält sich für eine separate Körperperson,

die sich durch besondere Merkmale von anderen unterscheidet.

Er vertraut den Augen des Körpers

und sieht sich und andere als voneinander getrennte Individuen.

So erschafft der Geist aus Unkenntnis das Ego

und ersetzt das Reale durch eine Imagination.

*** 

Hier und Jetzt

Nach Lulans Rückkehr aus den USA bezog er mit Cora und Emil ein modernisierungsbedürftiges Einfamilienhaus im westfälischen Raesfeld.

Die Suche nach einem tieferen Lebenssinn hatte Funken geschlagen und ein spirituelles Feuer in ihm entfacht. Wie sollte es weitergehen? Lulan hatte keinen Plan, kein konkretes Ziel vor Augen. Die Welt der Menschen war ihm unverändert fremd, also blieb er iinseinem selbstgesponnenen Kokon.

Die Beziehung zu Cora kriselte vor sich hin, und auch das Verhältnis zu Emil war spannungsgeladen. Lulan stritt mit beiden, es flossen Tränen. Emil arbeitete als Lehrer in Gelsenkirchen und Cora befand sich in der Abschlussphase ihres Lehramtsstudiums in Amsterdam. Lulan las in der Bibel, rauchte Gras und nähte Mokassins und Ledertaschen, die er auf den kommenden Weihnachtsmärkten verkaufen wollte. Die Phasen ihrer Lebensabschnitte waren nicht miteinander kompatibel, der Bruch war vorhersagbar.

Sie beschlossen die unglückliche Dreier-WG aufzulösen. Im Mai 1984 stand es fest - Cora würde nach Amsterdam zurückkehren und Emil suchte sich eine Wohnung in Recklinghausen. Lulan dachte wochenlag über seinen weiteren Weg nach, wägte verschiedene Perspektiven ab. In Minden hatte er von Rolf den Standort von Micha Wex und Uwe Berg erfahren. Sie hatten sich mit den anderen Wagen und Zugmaschinen des Zirkus Hexenkessel in Bewegung gesetzt, und befanden sich nun im Wendland. Lulan packte sein Hab und Gut in seinen bunten Ford Transit und fuhr los, um sie zu suchen. Er hatte vor, sich ihnen anzuschließen.

Vogelfrei

05.02.1984
Raesfeld

         Leben!

Leben!
Zart und zerbrechlich,
aus der Tiefe, aus sprödem Stein,
gegen den schroffen Wind,
unaufhaltsam,
auf der Suche nach Licht.
Unbeirrbar!
Die Wärme der Sonne in meinem Gesicht!


10.03.1984
Raesfeld

Liebe Stern-Kultur-Redaktion (Kultur = Urkult),


in eurer Stern-Ausgabe vom 8. März entdeckte ich einen zufälligen (?)
Zusammenhang zwischen dem Bericht über den Lebenswandel des Malers F. Hundertwasser und einem Artikel über Lothar Späth. Dieser Zusammenhang berührte mich, denn ich bin selbst auch Maler. Auch die Verhältnisse, in denen ich lebe, sind denen Hundertwassers sehr ähnlich - mit dem winzigen Unterschied, dass mein ebenfalls baufälliges Haus ein Mietshaus ist, das nicht von einer traumhaft schönen Landschaft Neuseelands umgeben wird, sondern inmitten einer grauen deutschen Kleingärtnersiedlung im westfälichen Raesfeld liegt. Ich lebe durchaus gern bescheiden (wie Hundertwasser). Was mir stinkt, sind die verschidenen Jobs, die ich annehmen muss, um monatlich 450 Mark zusammenzukriegen. Das bedeutet, dass ich de facto keine Zeit zum Malen haben.

Warum berichtet ihr über Hundertwasser, den die ganze Welt schon kennt? Ist da niemand, der meine Bleistiftzeichnung der Panther gegen 1500 DM tauschen möchte?

Nein? Wirklich niemand?


06.04.1984
Raesfeld

         Immer wieder

Von Jahr zu Jahr,
monatelang,
Januar, Februar, März.
April, April!
Von Satz zu Satz,
immer wieder
die gleichen Worte.
Immer anders, immer mehr, nie genug!
Neunundneunzig Mal den falschen Weg abbiegen.
Bis er einmal stimmt.


14.04.1984
Raesfeld

An den Wochenenden chauffiere ich in meinem knallbunten Ford Transit eine quirlige Gruppe ghanaischer Asylbewerber durch das norddeutsche Flachland. Babylon will fall steht in großen Lettern auf dem Wagen. Die Ghanaer, mit denen wir befreundet sind, verstehen die Reggae-Message. „Babylon will fall, no way ba-ba!", rufen sie, wenn ich mit dem Ford bei ihnen aufkreuze, um mit ihnen die spärlich gesäten Attraktionen des Borkener Landkreises (den sie als »Asylanten« nicht verlassen durften) abzuklappern.

Wir sind fast immer stoned, mächtig dicht, denn die Ghanaer lehnen meine eher homöopathische Dosierung bei der Joint-Raucherei höflich lächelnd ab. Meine afrikanischen Gäste bevorzugen dicke Tüten. „The real monkey tops, man!", behauptet Papi lachend. Durch die extreme Kifferei bei dröhnenden Reggae- und westafrikanischen Highlife-Klängen verlor ich am Steuer des Ford gelegentlich die Orientierung. Um ehrlich zu sein, verfuhr ich mich am laufenden Band, ich verpasste fast jede Abzweigung. Meine Fahrgäste begleiteten meine Kurverei mit ihrem charmanten ghanaischen Humor.

„Lu-laan! Alarm-blow driver, ha, ha!", meinte Papi neulich, um anzudeuten, dass seine inneren Alarmsirenen schrillen, wenn ich wieder mal ein Wendemanöver einlegen muss.

„I tink is betta if you lowa de speed!", riet mir Go-Slow-George bedächtig.

Die ausschweifenden Treffen mit den Ghanaern, insbesondere die abendliche Kifferei, war in den letzten Wochen mit Coras und Emils geregeltem Arbeitsleben kaum vereinbar. Es ist mir egal. Ich gebe mir keine Mühe, mein Freiheitsstreben zu bändigen, ich lebe es hemmungslos und egoistisch aus. In Raesfeld verletze ich die beiden Menschen, die ich liebe und die mir so viel bedeuten, weil sie mir im Weg stehen.

Wir werden getrennte Wege gehen.


29.05.1984
Raesfeld

Energietraum 3

Kasskara und die sieben Welten. Ich habe dieses Buch gestern in einem Zug gelesen. Als ich fertig war, war es Mitternacht. Mit dem Buch unterm Kopfkissen kam sie zum dritten Mal, die Kraft, die durch mich fährt wie ein heller Blitzschlag. Dieses Mal war es wieder ein wenig anders als die Male zuvor.

Wir waren zu dritt (wie beim ersten Energietraum), die anderen beiden Personen blieben Schemen, aber im Traum kannte ich sie. Wir waren in einer großen, geräumigen Wohnung, die edel und vornehm eingerichtet war. Jeder von uns war in einer Ecke eines Zimmers damit beschäftigt Umzugskartons auszupacken. Einer der Gegenstände in meinem Karton war ein hohler Stab. Wir freuten uns und waren aufgeregt - der Stab gehörte zu einem Einweihungsritual. Ich dachte: Bevor ich mich auf den Stab und die anderen Gegenstände einlasse, will ich versuchen in dieser Wohnung noch Geld oder ein paar Wertsachen zu finden!

In dem Moment kam die Kraft. Wie 10 000 Volt.

Ich hatte mir nach dem letzten Energietraum fest vorgenommen, unverkrampft und locker zu bleiben. Die Kraft packte mich, innen und außen, und ich hatte den Eindruck herumgewirbekt zu werden wie eine Handpuppe. Für einen kurzen Augenblick wehrte ich mich – vergeblich. Was auch immer mich in der Hand hielt, es war unvorstellbar mächtig. Diese Kraft erschien mir feindlich, wie etwas, dass mich überwältigen wollte. Sie war in mir und ich spürte, wie sie einen kleinen Punkt in meinem Kopf öffnete, und diese Stelle daraufhin heiß und kalt zugleich pulsierte.

So unvermittelt, wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei.


17.06.1984
Wendland

Um mit der Hexenkessel-Truppe auf Tour gehen zu können, benötigte ich eine Zugmaschine und einen Wagen, in dem ich wohnen konnte. Zuerst erstand ich vor zwei Wochen von einem benachbarten Bauern für 80 Mark einen Trecker, einen kleinen, abgehalfterten Deutz D25, der im hintersten Winkel einer Scheune Staub und Rost ansammelte. Jetzt fehlte mir noch eine fahrbare Unterkunft. Einige aus dem Hexenkessel hatten sich gut erhaltene, fahrbereite Zirkuswagen gekauft, die sie direkt einrichten und bewohnen konnten. Seit meinem USA-Trip war ich knapp bei Kasse, Geld für einen Zirkuswagen hatte ich nicht. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? dachte ich.

Gedacht, getan!

In einer Nacht- und Nebelaktion sind Micha und ich Freitagnacht losgefahren und haben an einem verlassenen Waldwirtschaftsweg einen klapprigen Bauwagen mit Vollgummireifen mitgehen lassen; genau genommen haben wir ihn mitrollen lassen. Wir haben die Baubude einfach an Michas Magirus gehängt und sind losgefahren. Der kleine Wagen holperte laut ächzend und quietschend im flotten Schritttempo hinter dem viel leiseren Magirus durch die Stille der Nacht. Er muss jahrelang stillgestanden haben. Als wir eine Stunde später am Hexenkesselstellplatz ankamen, war ich schweißgebadet. Ich hatte immerhin einen Bauwagen geklaut. 

Der Wagen ist nicht winterfest, man kann durch fingerbreite Spalten zwischen den alten Fußbodenbohlen den Erdboden sehen. Ich werde als erstes den kleinen Kohleofen aus Raesfeld holen und festmontieren; dann einen feuersicheren Schornstein über das Dach nach außen leiten (das Dach ist noch undicht). Mal sehen, wie ich das mache. Außerdem braucht der Wagen eine neue Tür und zusätzliche Fenster. Die Vollgummireifen werde ich auch austauschen müssen. Toll ist er nicht, dieser Wagen. Aber immerhin funktioniert die Auflaufbremse. Und er ist mein neues Eigenheim!


Der wahnhafte Ego-Geist ist ununterbrochen damit beschäftigt,

andere Körperpersonen nach ihrem äußeren Erscheinungsbild zu beurteilen.

Es ist vollkommen unerheblich,

wie man sich kleidet oder wie man aussieht.

Es gibt nur eine Aufgabe, die im Leben jedes Menschen Bedeutung hat:

Die Überwindung der Illusion, das Erkennen des Wahren –

dies ist der eigentliche Sinn des körperlichen Lebens.

*** 

Hier und Jetzt

Sie fuhren von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Fuhren auf öffentliche Wiesen und Plätze, um ihren Wagenkreis aufzubauen. In der Umgebung hingen sie Plakate auf, die ihre Vorstellungen der nächsten zwei oder drei Tage ankündigten. Das Zirkusprogramm bestand aus Sketchen mit Musikbegleitung, eigenen Songs, davon viele Kompositionen von Klaus, dem Kölner Geiger, verschiedenen Jonglierakten und jeder Menge Klamauk. Abends saßen sie mit ihren Besuchern am Lagerfeuer, sangen Lieder oder jammten die halbe Nacht zum trockenen Gebell der Earth Drums.

Im Hexenkessel floss Bier in großzügigen Mengen, und jointfreie Phasen währten nie lang – obwohl die finanziellen Gemeinschaftsressourcen an chronischer Erschöpfung litten. Geldknappheit war ihr treuer Begleiter, trotzdem reichte es für alles, was sie brauchten. Zu diesem »trotzdem« trug unter anderem Heino bei, der jedes Mal einen Teil seiner Lehrerpension spendete, wenn ihnen die Lebensmittel ausgingen.

Um die knappen Kassen aufzubessern, marschierten die Zirkusleute bunt kostümiert und geschminkt in die Innenstädte, liefen auf selbstgeschweißten Stahlstelzen, die sie unter überlangen (selbstgenähten) Hosenbeinen verbargen und erregten jede Menge Aufsehen. Mama, guck mal, da kommen ganz viele Clowns!

Mit großem Tamtam lud der Zurkus Hexenkessel zu seiner nächsten Show ein. Tommy Tölpel ließ die zuschauenden Kinder an seinen spaßigen Akrobatiknummern teilhaben, Jo und Elli jonglierten als Jorelli mit Bällen und Keulen, Jörg und Björn schluckten und spuckten Feuer, der Rest alberte herum oder musizierte. Es war ein filmreifes Spektakel, und sie wurden bei ihren Auftritten von einer beachtlichen Zuschauermenge umringt. Diese Menschentraube war das eigentliche Ziel ihrer Aktion: Zwei von ihren Leuten klapperten fröhlich lächelnd die Reihen der Passanten ab, um deren Geldspenden in ihren Gauklerhüten einzusammeln.

Uwe und Lulan zogen dann und wann zu zweit als Straßenmusiker in die Einkaufszonen. Lulan spielte Gitarre und sang bei einigen Stücken, Uwe begleitete ihn auf der Klarinette. Sie hatten neben Take Five, The Girl from Ipanema, Everybody's talkin at me, Me and Bobby McGee, Mr Bojangles und Light my Fire 10 bis 15 Nummern im Programm.

Die meisten Menschen winkten ihnen mit strahlenden Augen zu, wenn ihre Zirkuswagen gemächlich durch die Straßen rollten. Jedoch stießen sie auch auf offene Ablehnung, und von einigen Griesgramen schlug ihnen sogar offener Hass entgegen. Langhaariges Pack! Nichtsnutze!

Die fahrenden Aussteiger wiederum hielten sich für Lebenskünstler, für Glücksboten der Freiheit und Fantasie. Waren sie wirklich anders als die, die sie beschimpften? Sprachen nicht auch sie abfällig über „die Anderen"?

Einige im Hexenkessel verachteten die graue Masse der Freud- und Fantasielosen, blickten herab auf die angepassten Mitmacher, die nach ein paar Gläsern Bier So ein Tag, so wunderschön wie heute grölten und dann behaupteten, unter dem Führer sei vieles besser gewesen.

Wer davon ausgeht, anders als »die Anderen« zu sein, glaubt in der Regel an seine moralische Überlegenheit. Dabei ist aus einer egozentrischen Perspektive jeder ein Anderer. Es gibt logisch betrachtet ausschließlich andere, bis auf eine einzige Ausnahme – das eigene Ego. Das ist eines der Paradoxe des Trennungsgedankens.

Was die selbsternannten Lebenskünstler möglicherweise von den unauffälligeren Mitbürgern unterschied, war, dass sie über alles lachen konnten und jede Menge Spaß miteinander hatten, doch selbst der Vorwurf der Humorlosigkeit könnte ohne Weiteres wechselseitig erhoben werden.

Die derart kultivierten Vorurteile wurden unter anderem durch annähernd täglich stattfindende Begegnungen mit Polizeibeamten besterkt. 


Zirkus Hexenkessel

Sommer 1984
Hexenkessel

Eine unserer ersten Stationen ist Minden. Ich fahre mit dem Deutz und meinem rollenden Eigenheim zu meinen Eltern nach Hausberge. Die Auffahrt zum Schulhof ist extrem steil, aber der kleine Trecker zieht den Wagen problemlos im ersten Gang im gemächlichen Schritttempo hinauf. Auch die Halterungen des Kohleofens haben nicht versagt. Das war ein wichtiger Härtetest. Als ich mich wieder verabschieden will, meint mein Vater er habe noch "etwas Diesel" für mich. Wir laden dann fünf große Kanister in das winzige Küchenabteil. Zwei Kanister hätten es auch getan, aber ich mag seine Geste nicht ausschlagen. Es fällt ihm sicherlich nicht leicht, meine Abenteuer nachzuvollziehen.

Wir werden mehrmals pro Woche angehalten. Die Ordnungshüter stoppen unsere Wagenkolonne auf ihren Land- und Dorfstraßen und überlegen dann, welche Vorschriften für eine „Stilllegung" anzuwenden seien. Mal sind die Reifen unserer Wohnwagen nicht verkehrszulässig, mal verstoßen die Fahrzeuge gegen eine Verordnung der lokalen Verwaltungsbehörde.

„Wenn Sie die stehenden Wagen bewohnen, fallen Ihre Fahrzeuge unter das Bundeskleingartengesetz!", sagte gestern ein Mann vom Ordnungsamt; er war in Begleitung zweier uniformierter Polizisten erschienen.

„Das bedeutet, dass Ihre Wagen gesetzlich als Lauben gelten und Lauben dürfen höchstens 24 Quadratmeter Grundfläche haben! Wir müssen das mal nachmessen. Außerdem dürfen Lauben nach ihrer Ausstattung und Einrichtung nicht permanent bewohnt werden".

Meist begreifen die Beamten in solchen Situationen schnell, dass die Probleme mit einer Stilllegung erst beginnen und unser Aufenthalt in ihrer heilen Welt dadurch unabsehbar länger dauern würde. Sie fordern uns dann mit strengen Blicken auf, ihren Bezirk unverzüglich zu verlassen - und lassen uns unbehelligt weiterfahren.

Für die unvermeidlichen Begegnungen mit unseren Freunden und Helfern der Exekutive habe ich Polizeidienstmützen aus Pappe gebastelt, die aus der Ferne täuschend echt aussehen. Wenn wir bemerken, dass sich wieder einmal zwei oder mehr Polizisten unserer Wagenburg nähern, setze ich mir schnell eine Pappmütze auf, ziehe meine schwarze Lederjacke über und laufe gemessenen Schrittes, barfuß und kurzbehost, auf die »Kollegen« zu. Ich begrüße sie dann mit festem Blick, tippe mit dem Zeigefinger lässig an meine Pappmütze.

„Guten Morgen! Gibt es Probleme mit den Herrschaften hier?"

Dieser Begrüßungsauftakt ist das Startsignal für eine unserer vielen Sketch-Improvisationen. Jeder aus der Zirkusmannschaft, der herbeigeschlendert kommt, kennt seine Rolle und spielt übergangslos mit.

„Guten Tag! Ich bin Herr Günther vom Ordnungsamt!", übernimmt heute Jörg, der Feuerspucker, das Wort. „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass das Betreten der Dorfwiese nur mit geeignetem Schuhwerk gestattet ist!"

Wir wissen, wie der Sketch abzulaufen hat, die Polizeibeamten wissen es nicht. Sie reagieren in fast allen Fällen verunsichert und irritiert und suchen hilflos nach einem Ausweg aus dieser Veralberung. Die Showdowns enden allesamt mit einem Happy End - für uns!

Die Begegnungen mit den bierernsten, forschen Repräsentanten der staatlichen Gewalt lösen noch Stunden später kollektive Lachanfälle bei uns aus. Wir finden unseren eigenen Klamauk affengeil. Zumal, wenn im Hintergrund Reggae-Musik läuft, die die Hilarität unseres bekifften Schabernacks akustisch untermalt.

Reggae läuft so gut wie ununterbrochen, buchstäblich bei Tag und bei Nacht. Burning Spear, Culture, Peter Tosh und Bob Marley, ich kenne ihre Songs Wort für Wort auswendig. Die Lieder der Rastafari transportieren eine spirituelle Botschaft. Sie enthalten das kindlich-unerschütterliche Bekenntnis ihres Glaubens, beschreiben ihre enge, persönliche Vertrautheit mit Jah. Jah is my Driver, singen sie, Gott ist mein Fahrer. Auf solche Sätze wäre ich von selbst nie gekommen. Obwohl sie die Erfahrungen meiner eigenen Spiritualität treffend beschreiben. 


Hier und Jetzt

Zur Sommersonnenwende 1984, kurz nachdem Lulan mit seinem Ford Transit beim Hexenkessel eingetroffen war, suchte er sich in einem einsamen Waldgebiet einen Platz für ein indianisches Vision Quest-Ritual aus. Hier wollte er seine Visionssuche durchzuführen. Die Stelle lag im Wendland, abseits von den Waldwegen; er hatte sie sich einige Tage zuvor angesehen. Micha brachte ihn frühmorgens mit dem Ford dorthin.

Lulan hatte mehrere Flaschen Mineralwasser, einen guten Schlafsack nebst Isomatte, sein Tagebuch und Stifte, seine Bärenpfeife mit Salbeitabak und eine dünne Plastikplane gegen den Regen eingepackt. Am Morgen des fünften Tages würde Micha kommen, um ihn abzuholen.

Den anderen gegenüber hatte Lulan sich cool gegeben. Ob ihm gar nicht mulmig zumute sei, so mutterseelenallein im Wald? Dabei war ihm tatsächlich ein wenig flau Bauch, als Micha von der Landstraße in einen Waldweg abbog. Doch auf den letzten dreihundert Metern, die er zu Fuß zurücklegen musste, war die Aufregung schnell verflogen.

Er würde vier Tage und Nächte allein im Wald verbringen. Er suchte eine Vision - und hatte nicht das leiseste Vorgefühl, was ihn erwarten würde. Auf einem sanften, flachen Hügel steckte er mit Steinen einen Kreis ab, in den er lang ausgestreckt gerade hineinpasste. Dann setzte sich Lulan mit seinen Utensilien in den Kreis und wartete auf die Visionen. 


19.06.1984
1. Tag (Dienstag)

Vision Quest im Wendland

Dasein und nicht weglaufen können.
Bruchstückgedanken.
Erinnerungen, Gefühle.
Cora. Mein Gott, wie sehr ich sie liebe!
Ich träume unseren Traum.
Ich habe keine Angst.
Ich sehe einen Dachs, nur wenige Meter entfernt.

Das ist mein Vater.


20.06.1984
2. Tag

Noch mehr Erinnerungen!
Verwaschene Bilder.
Erinnerungen an meine Kindheit,
an meine Mutter und an Amerika.
Mit meinen Eltern in Dänemark.
Cora!
Geborgenheit, die ich vermisse!
Jeden Tag denke ich an Speisen,
an bestimmte Gerichte und Essensszenen.
Ich versuche, diese Gedanken zu verdrängen.
Die Mittagssonne ist flirrend.
Meine Kräfte schwinden,
mir ist taumelig.
Hail Him for Everything!
Ich beobachte ein Reh, ich bewege mich nicht.
Ganz nah kommt es an meinen Hügel heran.

Das ist meine Mutter.


21.06.1984
3. Tag

Du selber bestimmst deine Vision.
Es wird dir lediglich dazugegeben, was du brauchst.
Eine Sternschnuppe, eine singende Amsel oder ein Loch im Wolkenhimmel.


3. Nacht
(am 4. Tag aufgeschrieben)

Ich konnte nicht einschlafen. Es war lange hell nach dem Sonnenuntergang.

Mittsommernacht.

Kurz vor dem Einschlafen dachte ich ans Meer und an große Schiffe, die durch die Gischt pflügen.

Dann war ich weg. Eingeschlafen. Ich träumte von Dingen, an die ich mich nicht erinnere. An der Ostseite, meiner linken Seite, zupfte plötzlich jemand an der Plane. Eine ältere Frau. Sie sagte einen kurzen Spruch oder einen Reim. Dabei stand sie über mir und tippte von oben auf die Plane, direkt gegen meine Stirn, dabei benutzte sie ein persönliches Begrüßungswort in einer fremden Sprache.

Im Glauben die Frau irgendwoher zu kennen, schlug ich die Plane mit einem Ruck zurück und rief „Moggähn!" [1] Doch da war niemand. Ich war perplex und sah mich nach allen Seiten um. Niemand da! Ich versuchte verwirrt wieder einzuschlafen. Ich kannte diese Szene, als hätte ich sie schon einmal erlebt. Es war ein Déjà-vu, ganz klar.

Ich schlief noch nicht, da gab es einen enormen Knall. Die Detonationswelle drückte leicht gegen meinen Körper, dann hörte ich ein langanhaltendes, leiser werdendes Zischen in der Luft. Hier musste ein Militärgelände in der Nähe sein. Hoffentlich lag ich nicht mitten auf dem Truppenübungsplatz!

In der Nacht hatte ich noch einen sehr real wirkenden Traum. Emil und ich waren in einem fremden Haus. Er packte seine einhunderttausend Besitztümer ein und stellte sie alle vor die Tür an die Straße. Er zog vor mir aus. Dann die gleiche Szene in einem anderen Haus, dieses Mal mit Cora. Auch sie zog vor mir aus.


22.06.1984
4. Tag

Dieser Tag ist anders. Ich wusste gestern bereits, dass heute etwas anders sein würde.
Ich muss weinen.
Ich weine und denke an Cora.
Es klopft in meinem Bauch mit jedem Herzschlag.
Ich kenne das Klopfen, aber es war noch nie so stark.
Es macht mich rasend, ich finde keine Ruhe.
Ich massiere meinen Bauch und entdecke steinharte Knubbel um den Bauchnabel. Meine Darmperistaltik ist durch den Bewegungsmangel und das Fasten vollends zum Erliegen gekommen.
Warten auf die Nacht.
Ich muss zu Cora fahren, unbedingt!
Am besten wäre ein gemeinsamer Urlaub mit ihr und meinen Eltern auf Bornholm.


09.07.1984

Du hast einen Traum.
Dein Traum ist ein klares Bild mit guten Energien.
Du folgst deinem Traum nicht.
Du folgst deinen Impulsen.
Wenn dich ein Reiz an einen Ort führt,
der deinem Traumbild nahekommt,
spürst du gute Energien.
Fern von deinem Traumbild
nimmst du unangenehme Schwingungen wahr.
Du wünscht dir frei zu sein,
trotzdem fährst du mit deinen Abhängigkeiten fort.
Überall erzählst du, dein Problem sei deine Genusssucht -
um unbekümmert weiter zu genießen!
Du erbittest Kraft und Energie,
und sobald du sie erhalten hast,
sind sie wieder vergessen.
Gib acht auf dein Tun und Lassen!
Alles ist heilig!
Erkenne deine Verantwortung!


09.08.1984

Du kannst es sofort tun!
Nimm dir die Zeit, in jeder Situation!
Es kann nie besser sein als jetzt!
Verschiebe nicht das gute Gefühl!
Nimm dir Zeit und öffne dein Herz!
Dies ist alles, was erforderlich ist!
Sei offen für alle und alles,
für jede Kreatur!
Nimm dir die Zeit!
Du kannst es sofort tun!


Spätsommer 1984
Bayern

An einem sonnigen Samstagnachmittag überfahren wir in Südhessen die unsichtbare Landesgrenze, die Bayern als Bundesland der Republik definiert. Für viele von uns Norddeutschen liegt Bayern in einem anderen Seitenarm der Milchstraße. Wir rollen schweigend in ein fremdes Land, aufmerksam und nachdenklich. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß hat niemals einen Hehl aus seiner Geisteshaltung gemacht. Er hatte dereinst verlauten lassen, dass man mit Ratten und Schmeißfliegen keine Prozesse führe.

In Bayern führt das Gespann von Jorelli unsere aus fünf Wagen bestehende Kolonne an (wir fahren nie mit allen 13 Zirkuswagen gleichzeitig). Auf einer wenig befahrenen Landstraße, kurz vor einer kleinen Ortschaft, blinkt Joeys Lanz, um auf einen idyllischen Rastplatz abzubiegen. Der Parkplatz macht einen sehr gepflegten Eindruck, die Rasenflächen sind frisch gemäht worden, jemand muss erst kürzlich die Abfallbehälter geleert und sogar die asphaltierten Flächen gefegt haben. Nicht einmal die auf Rastplätzen sonst scheffelweise verstreuten Zigarettenstummel liegen hier herum.

Unsere Wagen und Zugmaschinen passen eng aneinandergerückt gerade noch auf den Parkstreifen. Wir steigen von den Zugmaschinen herab, einige Wohnwagentüren werden geöffnet. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie zwei unserer Hunde, ein schwarzer Pudelmischling namens Watson und Heinos übergewichtige Terrierhündin Dicke, auf den nahe gelegenen Waldrand zustürmen. Sie scheinen dort etwas Aufregendes entdeckt zu haben, ich kann sie bellen hören. Direkt danach ein Knall. Ich nehme noch wahr, wie die Hunde wimmernd zum Parkplatz zurückgelaufen kommen. Dann geht alles sehr schnell, es überschlagen sich mehrere parallele Ereignisse.

Am Kopfende des Zuges ist ein mir unbekannter Mann auf Joeys Traktor gestiegen. Er fummelt am Zündschloss herum. Joey, eine schlanke Gestalt von knapp zwei Meter Länge, beugt sich über den Fremden, es entsteht eine Rangelei. Als der Unbekannte vom Lanz steigt, verpasst Joey ihm eine schallende Ohrfeige (ich traue meinen Augen kaum) und reißt ihm die Traktorschlüssel aus der Hand. Sein Lanz ist ihm heilig. Im gleichen Augenblick kommen auf der Landstraße vier oder fünf Autos herangeschossen, die mit quietschenden Reifen die Zufahrten des Rastplatzes blockieren. Aus den Fahrzeugen steigen junge Männer, hemdsärmelige, stämmige Dorfburschen, die aussehen wie Fleischer- oder Bäckergesellen. Wir sind in Bayern, denke ich, als ob diese Feststellung die Merkwürdigkeit der Situation erklären könnte.

Die Autos der rotbäckigen Fleischergesellen versperren uns den Weg, sie haben uns festgesetzt. Noch während die Kerle aussteigen, treffen zwei weitere Autos ein, die von einem Polizeiwagen begleitet werden. Um die neu angekommenen Fahrzeuge bildet sich in wenigen Sekunden eine dichtgedrängte Menschentraube. Ein massiger Mann im gesetzten Alter spricht mit den Polizisten; er hat zwischen Kinn und Brust wenig Hals, dafür aber breite Schultern und einen muskulösen Nacken. Ich trete näher an sie heran, um zu hören, worum es geht. Hier gibt es tatsächlich Typen, die aussehen wie Strauß.

„Dern Hund hoam gwuidert", höre ich den Stiernackigen sagen. „I konnte nix mehr machn. I hob des Viach daschießn miassn, 's war scho hoibtot."

„Des gibt a Ozeige!", ruft einer der Gesellen. „Der Lange hod den Benny gschlogn!"

„Wo sind die Eigentümer der beiden Hunde?" fragt der jüngere der beiden Polizeibeamten und blickt suchend in die Runde.

Ich bin, was die verbale Kommunikation betrifft, normalerweise eher bedächtig in meinen Reaktionen. In Notsituationen jedoch wird im neuronalen Netzwerk meines Großhirns ein Zusatzaggregat angeworfen. Es scheint sich um eine verborgene Begabung zu handeln, ich kann, wenn Not am Mann ist, hochstrukturiert und mega-schnell denken. Und auch handeln, ich weiß in solchen Situationen frappanterweise ohne nachzudenken, was das Richtige ist.

„Das kann nicht stimmen!", werfe ich laut und für alle vernehmbar ein. „Die beiden Hunde waren maximal zwei Minuten am Waldrand. Sehen Sie sich die Hunde doch mal genau an! Die reißen kein Wild in zwei Minuten! Wenn sie es überhaupt schaffen. Darf ich mir das Reh mal ansehen?"

Die Polizisten nicken zustimmend, was dem feisten Mann ohne Hals nicht zu schmecken scheint. Er schaut verärgert und säuerlich aus der Wäsche und trottet missmutig zu seinem Audi, um den Kofferraum zu öffnen. Ich folge ihm und schnappe im Vorbeigehen aus dem Stimmengewirr eine Bemerkung der Dorfburschen auf.

„Na, der Edi is koa Jaga! Ihm g'hört im Doaf de Medsgarei!"

Im Kofferraum liegt in einer passenden Wäschewanne ein junges Reh, das auf den ersten Blick einen unversehrten Eindruck macht. Es ist ein schönes Tier, sein Fell glänzt sauber. Ich kann kein Blut entdecken und taste den Körper auf Verletzungen ab. Die beiden Beamten sehen mir aufmerksam zu. Die einzige Wunde, die ich finden kann, ist das unauffällige Einschussloch einer kleinkalibrigen Waffe, direkt unterhalb des linken Ohrs.

„Das Reh hat keinerlei Verletzungen bis auf das Einschussloch am Kopf", meine ich zu den Polizisten. „Ich nehme an, die Hunde haben das Reh überrascht, vielleicht hat es sich vor Schreck im hohen Gras hingeduckt. Eins ist sicher: Dieser Mann hier hat dem Tier eine Kugel verpasst, und das ist die Todesursache. Ob er zufällig vorbeigekommen ist oder auf der Jagd war, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass er im Dorf da drüben eine Schlachterei hat. Wenn ich mir außerdem die Wanne hier im Kofferraum ansehe, würde ich sagen, der Mann möchte sich auf unsere Kosten Wild beschafft."

Der Fall ist gelöst. Die Bäckergesellen geben die Ausfahrt frei und wir dürfen anstandslos weiterziehen. Ich hatte uns schon hinter bayerischen Gittern gesehen, glücklicherweise waren die beiden Polizeibeamten fair. Später, am Abend, müssen wir die Geschichte ein ums andere Mal dem Rest der Hexenkessel-Mannschaft erzählen.

„Geil, Alter! Das waren die Original-Jagdszenen in Niederbayern!", ruft Micha, auf einen Film von Peter Fleischmann anspielend.

Man klopft mir auf die Schulter: „Sagenhaft, Mann! Das war ja wie bei Sherlock Holmes!"


08.01.1985
Hexenkessel

Wir hatten zwanzig Grad minus. Ich hätte den Fußboden irgendwie abdichten müssen. Die Briketts halten die Wärme nur ein paar Stunden. Als ich frühmorgens durchgefroren aufgewacht bin, waren alle wasserhaltigen Lebensmittel im Wagen zu Eis erstarrt. Sogar die Bananen und die Eier von den glücklichen Hühnern.


16.02.1985
Hexenkessel

Magenschleimhautentzündung, elende Qualen. Vier Tage gefastet.

Ich kann Dinge sehen, die andere nicht sehen. Nicht mit meinen Augen, ich sehe es in meinem Inneren, wie eine blinde Krähe, deren Augen milchig-weiß beschlagen glimmen. Normale Krähen haben ihre Umgebung scharf im Blick, aber die blinde Krähe schaut mit ihren geistigen Augen.

Manchmal sehe ich voraus, was geschehen wird. Ich kann es »fühlen« und sehe gleichzeitig dazu passende Bilder oder Filme. Wenn ich Personen mit meinen äußeren Augen sehe, ist es als würde ich alles über sie wissen.


03.04.1985
Hexenkessel

Zurück aus Amsterdam, zurück von Cora.

Die Trostlosigkeit der Städte. Kleine Zimmer mit grauen Wänden, Zelle neben Zelle. Hunderttausende. Schutz vor Einsamkeit suchen, inmitten der unaufhaltsamen Menschenmassen. Unter einer mottenzerlöcherten Wolldecke Stille finden.


07.04.1985
Hexenkessel

Ich brauche Freiheit. Doch wie schütze ich das Freisein vor meiner Gier nach immer mehr?

Damit es mir nicht so geht wie Ramon Acosta, dessen Freiheit nach seiner Flucht aus der Enge einer Zuckerfabrik sein Garten wurde. In dem er arbeitete, um in und von diesem Garten zu leben. Um frei zu sein. Es gefiel ihm so sehr, dass er jede Minute des Tages dort vebrachte, bis er keine Zeit mehr fand seine Nahrung zu genießen. Bis er wahnsinnig wurde.

Oh, Mann! Hör auf mit diesen Lehrstückmoralapostelgeschichten!


15.04.1985
Hexenkessel

Ich lebte vor Ewigkeiten schon mal in Ähgüpten. Ja, in Ähgüpten! Kurz vor meiner 234. Reinkarnation.

Ich glänze durch Liebe zu Dir

Mein Vater! Wie süß ist deine Freundlichkeit gegen meine Brust! [2]

______________________________

[1] Eine Kurzform für »Guten Morgen«, mit der wir uns im Hexenkessel als Running Gag allmorgentlich begrüßten.

[2] Originalübersetzung ägyptischer Hieroglyphen aus der Zeit Thutmoses des Dritten (um 1450 v. Chr.):
"Mein Sohn, mein Rächer, Men-Heper-Re, er lebe ewig! Ich glänze durch Liebe zu dir. Es schützen meine Hände deine Glieder mit dem Schutz des Lebens. Wie süß (ist) deine Freundlichkeit gegen meine Brust. Ich stelle dich in mein Heiligtum. Ich wundere mich über dich. Ich lege deine Macht (und) Furcht vor dir in alle Länder, die Angst vor dir an die Grenzen der Stützen des Himmels."

Mein Eigenheim

Hier und Jetzt

Sie kreuzten mit dem Hexenkessel eineinhalb Jahre lang quer durch Deutschland. Ihre mittlere Reisegeschwindigkeit lag bei 18 bis 20 km/h. Wenn sich die aus 13 Wohnwagen und deren Zugmaschinen bestehende Karawane in Bewegung setzte, verursachte sie innerhalb kürzester Zeit eine radikale Entschleunigung des Straßenverkehrs. Um kilometerlange Schlangen und Verkehrsinfarkte zu vermeiden, fuhren sie in kleineren Gruppen. Wo immer sie fuhren - sie fuhren vorn! Nach ihnen kam der Rest des Staus.

Michas Gespann hatte eine Gesamtlänge von über 20 m. Sein Magirus zog seinen wuchtigen, überlangen Zirkuswagen mit Vollgummibereifung, und - dahinter gespannt - auch noch das Café Chamäleon, einen kleinen Einachser mit ausklappbarer Seitenwand.

Lulans ehemalige Baubude hatte sich in ein buntes Zirkusgefährt verwandelt. Die Hartgummiräder hatte er gegen weichere Autoreifen ausgetauscht und zusätzliche Sprossenfenster, einen Lichterker und eine Küchennische mit Schiebetür eingebaut. Die Außenhaut hatte einen weißen Anstrich erhalten, die Fenster- und der Türrahmen waren rot lackiert.

Den Rhythmus des Zirkuslebens empfand Lulan als ein berauschendes Abenteuer, befriedigender hätte er seinen Drang nach Ungebundenheit nicht ausleben können. Wenn ihnen ein Stellplatz oder seine Umgebung besonders gut gefiel, blieben sie ein paar Tage länger als üblicherweise, manchmal zogen sie erst nach einigen Wochen weiter.

Lulan liebte die aufgeregte Wachheit, wenn sie früh aufstanden, um alles einzupacken und für die Weiterfahrt zu sichern, den Wagen an die Zugmaschine zu hängen und noch einmal Licht und Bremsen zu überprüfen. Den Ort des Stillstands, an den man sich allmählich zu gewöhnen begann, wieder zu verlassen, weiterzuziehen, so dass man selbst zum Pol der Stille wurde und der Welt beim Vorbeigleiten zusah. Dieses beschwingte Kribbeln - auf dem Deutz zu thronen, mit einem selbstgebauten Eigenheim im Schlepptau durch einen himmelblauen Traum zum nächsten Gastspiel zu tuckern – es war einfach richtig geil! Die wiederkehrenden Zirkus-Routinen lösten Glückswellen in Lulan aus, als läge ihm das Nomadendasein im Blut.

Sicherlich trug die Beglückung eines freien Lebens zu seinem Höhenflug bei, zweifellos auch der eine oder andere Joint. Doch da war noch etwas anderes. Lulan kannte es von der Stille der Bohnhorster Wälder und den Mondspaziergängen in Friedewalde, die süße Seligkeit, wenn jeder Atemzug alle Fasern des Körpers belebt.

Diese tiefe Schwingung bemerkte nicht nur Lulan, sie erreichte auch andere Körperpersonen im Hexenkessel. Man hörte es an ihrem Lachen, sah es in ihren leuchtenden Augen, in der anhaltenden Freude, die ihnen in die Gesichter geschrieben stand. Sie genossen die gemeinsame Verwirklichung einer abenteuerlichen Schwärmerei. Die Zirkusmenschen waren für einander da und überwanden die Mechanismen der Trennung. Wann immer das geschieht, entsteht eine besondere spirituelle Verbindung. Zwei, die sich lieben, können die ganze Welt verzaubern. Wie viel mehr kann nicht erreicht werden, wenn Liebe viele Menschen verbindet?

Die Schwingung dieser Energie war im Hexenkessel allgegenwärtig. Sie ließ Lulan leicht wie eine Daunenfeder dahinschweben. In diesem Bewusstseinszustand schlummerte ein immenses Potential, das jedem zur Verfügung stand. Lulan sah, wie einfach es war, dieses Ziel zu erreichen. Ihnen stand das gesamte Universum offen!

Warum nahm die meisten Menschheit diese fabelhafte Möglichkeit nicht in Anspruch? Warum suchten sie nicht nach diesem Schatz, wenn er so leicht zu finden war?

Nach einem ihrer Auftritte unterhielt sich Lulan mit Klaus, dem Geiger, und erzählte ihm von seinen Überlegungen.

„Stell dir vor es geht - und keiner kriegt es hin!", sagte Lulan abschließend, und er sah an den aufblitzenden Augen des Geigers, dass dieser sofort verstand, was gemeint war. Klaus komponierte am nächsten Tag ein Lied mit Lulans Bemerkung als Refrain.

Stell dir vor es ge-he-heht, und keiner kriegt es hin!

In Konstanz war Deutschland zu Ende. Noch bevor sie die Stadt erreichten, wussten sie, dass der Tag der Trennung kommen würde. Die Alpen waren ein unüberwindbares Hindernis für ihre altersschwachen Trecker.

Auf der langen Fahrt durch dieses Land waren drei Kinder zur Welt gekommen. Zirkuskinder. Eine Weile träumte die Gruppe davon, nach dem Winter weiterzufahren, überzusetzen nach Afrika, um dort mit dem Hexenkessel auf Tour zu gehen und aufzutreten.

Die Tage vergingen tatenlos, ohne Auftritte. Drei oder vier von ihnen hatten Verpflichtungen, denen sie an ihrem Wohnsitz nachkommen mussten, und so löste sich der Hexenkessel am Fuß der Alpen auf.

Einige wollten länger in Konstanz zu bleiben, Joey und Ellie verkündeten nach Australien auswandern zu wollen, die restlichen Gaukler verschlug es in alle vier Richtungen des Himmels.

Nur Micha schaffte es im kommenden Frühjahr über die Pyrenäen, wo er und seine Familie sich auf der spanischen Seite niederließen und Wurzeln schlugen. Er zeigte Lulan drei Jahrzehnte später ein Panoramafoto, auf dem sein Zirkuswagen inmitten steiler Berggipfel stand, aufgebockt auf einem schmalen felsigen Grat. Vor der gewaltigen Gebirgskulisse wurde die massive Kiste zu einem winzigen, fehlplatzierten Spielzeug. Michas Wohnwagen war mit sieben Metern länger und schwerer als die anderen Zirkuswagen, er hatte außerdem eine Überbreite von 2,50 m. Wie er mit diesem Ungetüm die Gipfel der Pyrenäen erklommen konnte, war ihm mittlerweile selbst ein Rätsel.

Die Wagen des Hexenkessels standen seit Tagen still in Konstanz. Lulan trank einen Darjeeling und sah aus dem Fenster auf eine graue Mauer, an der sein Gespann auf eine Handbreit Abstand parkte. Wie sollte es weitergehen? Er war frei wie eine Krähe und konnte gehen, wohin er wollte. Er brauchte nicht viel für das Nomadenleben, hin und wieder Brennstoff für den Deutz und für seinen Körper.

Der Junge, der alles zugleich wollte, hatte seine Träume ausgelebt. Lulan kam sich vor wie Hans im Glück. Doch es gab auch eine Schattenseite, die das Hexenkessel-Abenteuer für ihn mit sich gebracht hatte. Die Tournee mit dem Zirkus war wie ein endloses Festival. Die Nächte waren kurz, er fand zu wenig Schlaf, aß unregelmäßig und war überwiegend high. Trotz der beflügelnden spirituellen Energie war der berauschende Lebensstil auf Dauer enorm kräftezehrend. Der stoffliche Körper ist an physikalische und physische Gesetze gebunden. Lulan hatte beträchtlich an Gewicht verloren. Sein Körper war ausgemergelt und gab unmissverständliche Warnsignale ab, er verlangte nach Ruhe. Außerdem stellte seine Versorgungssituation ein Problem dar, Lulan lebte von der Hand in den Mund und befürchtete, eine Fabrikarbeit am Fließband nicht vermeiden zu können, ein Ausblick, der ihm nach dem Genuss des freien Lebens im Hexenkessel wie eine bittere Pille vorkam, die er auf keinen Fall schlucken wollte. In Konstanz zog Lulan zum ersten Mal in Betracht, das Abitur nachzuholen.

Und es gab noch eine weitere, weit wichtigere ungelöste Angelegenheit, die seine Beziehung zu Cora betraf. Seit ihrer letzten Trennung tobte ein Konflikt in Lulan. Er war hin- und hergerissen, zermürbt von widersprüchlichen Gedanken und gegensätzlichen Gefühle.

Cora und Lulan hatten seit mehreren Jahren ein LAT-Verhältnis, eine Living-Apart-Together-Beziehung. Lulan glaubte an das Dogma der „freien Liebe", ein Überbleibsel der antiautoritären Bewegung der 60er Jahre, die Besitzansprüche und Eifersucht als Merkmale der bürgerlichen Klassengesellschaft brandmarkte. Affären mit anderen Frauen hielt er für modern und zeitgemäß.

Als ihm Cora nach seinen wiederholten Seitensprüngen eines Tages ihr Techtelmechtel mit einem israelischen Rucksacktouristen beichtete, litt er vor Eifersucht wie ein Hund. Die Heftigkeit seiner Reaktion gab ihm zu denken, und er unterzog das Konzept der freien Liebe einer inneren Revision.

Und dann - an dieser grauen Mauer, die ihm die Sicht und den Weg versperrte - sah er nach monatelangem Hader mit sich selbst, dass es eine sehr simple Lösung gab. Mit einem Mal erschien alles logisch. Lulan erkannte, dass er nicht beides haben konnte, nicht flüchtige, sexuelle Affären und die Frau, die er von ganzem Herzen liebte. Die Klarheit dieser Gedanken erleichterte ihn auf der Stelle. Dies war das Ende eines jahrelangen, inneren Kampfes.

Für jedes Problem, das der Ego-Geist kreiert, gibt es mindestens eine Lösung. Menschenprobleme bringen ihre Lösungen sozusagen gleich im Handgepäck mit, man übersieht sie nur sehr leicht. Auch bei Lulan hatte es lange gebraucht, bis er die auf der Hand liegende Antwort erkannte. An einer grauen Mauer in Konstanz fielen die Würfel - er würde seinen Deutz und den Wohnwagen verkaufen und zu Cora nach Amsterdam ziehen. 

10 Die blaue Wolke und die Erweckung der Schlang...
8 Das Medizinrad
 

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