Hier und Jetzt
Nach seinem Vision Quest und den spirituellen Höhenflügen während der Wanderzirkuszeit mit dem Hexenkessel wohnte Lulan in Amsterdam bei Cora. Sie hatten eine helles Altbau-Apartment mit großen Fenstern in der Ersten van Swindenstraat; die Wohnung lag in der dritten Etage, und bot einen erhebenden Weitblick auf ein Himmelspanorama in nordwestlicher und südöstlicher Richtung. Lulan sah oft den vorbeiziehenden Wolken bei ihren Verformungen zu. Er konnte das stundenlang machen, ihm wurde nie langweilig dabei.
Um zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen, stellte er sich bei uitzendbureaus als Leiharbeiter auf Abruf zur Verfügung. Cora, die verglichen mit ihm einen geradlinigen Weg verfolgte, hatte nach ihrem Lehramtsstudium eine Stelle am Montessori Lyceum Amsterdam angenommen. Sie erzählte Lulan voller Begeisterung von ihrer neuen Arbeit und erwähnte häufig ihre Kollegen und Kolleginnen, Charles Habets, Conny Rueb und Wim Ruijsendaal, der einige Jahre später die Leitung des Lyceums übernahm.
Lulan gefiel die unaufgeregte, fokussierte Art, wie Cora vom Studium zu ihrer ersten Arbeitsstelle gefunden hatte, und er fand ihren geregelten Tagesablauf angenehm beruhigend. Seine mentale Enstspannung hatte zur Folge, dass er nach ein paar Wochen in den Nächten endlich wieder ohne Unterbrechung durchschlafen konnte. Nur das Feuer seiner spirituellen Ambitionen brannte unvermindert weiter. Er wollte mehr davon und begann nach Informationen zu suchen. Der Athenaeum Boekhandel am Spui hatte auf der dritten Etage eine Abteilung für esoterische Literatur. Dort wurde er fündig. Er schaffte sich einige Bücher an, die Chakren und die meditative Arbeit mit Chakra-Energien beschrieben (Langendijk, 1982 und 1983). Lulan begann regelmäßig zu meditieren.
Zu Beginn konzentrierte er sich primär auf sein Wurzel- oder Basis-Chakra, das im Bereich des Damms zwischen Genitalien und Anus liegt. Dieses Chakra bot sich an, weil es als Erstes geöffnet werden wollte. Lulan konnte die Energie im Wurzel-Chakra am deutlichsten wahrnehmen, sie strahlte von diesem Körperbereich in alle Richtungen aus. Über dem basalen Chakra ruht die Kundalini-Schlange. Lulan wollte sie erwecken.
13.04.1985
Amsterdam
Kundalini ist in esoterischen Kreisen der Insider-Tipp. Ich brauchte eine Weile, bis ich kapiert hatte, was Kundalini denn nun genau war und worum es dabei ging. Es schien auf okkulte, Jahrtausende alte Rituale aus der tantrischen Lehre zurückzugehen, streng gehütete Geheimwisse, die ehrfürchtig erwähnt wurden. Keiner sagte klipp und klar, was Sache war, man munkelte nebulös von der "aufgerollten Schlange" und betonte verschwörerisch, wie gefährlich Kundalini sein könne.
„Der wahre Trip zum großen Glück, Alter, ha ha! Völlig irre, aber Vorsicht! Bloß nicht alleine damit herumdoktern! Es kann auch mal richtig schiefgehn! Man muss echt aufpassen!", meinte Achim, der uns auf der Hexenkessel-Tour eine Zeit lang begleitet hatte.
Ich las in meinen neuen Büchern, dass die Kundalini-Energie direkt über dem Basis-Chakra läge, um die Wirbelsäule aufgerollt wie eine Schlange [1]. Eine Schlange aus purer Energie. Sie schliefe dort bis man sie erweckte. Und wenn sie erwachte, stiege sie auf, die Energie-Schlange, aufwärts durch alle Chakren bis zum Kronen-Chakra. Dort würde sie sich mit der kosmischen Seele vereinigen - und der Meditierende würde die Sphäre höchsten Glücks erlangen. Das Nirwana.
„Ein mega-cooles, wahnsinniges High-Gefühl, wird behauptet! Nur muss dein Geist vorher gereinigt werden!", fügte Achim noch warnend hinzu.
Es kursierten zahlreiche Anleitungen und Übungen, die alle das Ziel hatten, die Schlange zu wecken. Sogar Kundalini-Kurse konnte man belegen.
1983 hatten zwei Typen aus einer WG bei Petershagen einen Kundalini-Workshop besucht. Sie berichteten mir, dass sie ihre neu erlernte Technik zukünftig als frühmorgendliches Ritual praktizieren wollten. Ich stellte mir vor, wie sie im Lotussitz gemeinsam meditierten und war dann doch einigermaßen von den Socken, als ich eines frühen Morgens (sie hatten mich zum Frühstück eingeladen) mit ansah, dass ihr Kundalini-Programm weder sitzend durchgeführt wurde, noch Gemeinsamkeiten mit mir bekannten Meditationstechniken besaß. Eher im Gegenteil. Die Zeremonie wurde von ohrenbetäubender, aufpeitschender Musik begleitet und die beiden sprangen konvulsiv tanzend durch ein leer geräumtes WG-Zimmer. Einer der Tänzer riss sich in seiner Ekstase spontan sogar die Kleider vom Leib und begann zu urinieren, während er mit schwingenden Armen splitterfasernackt durch den Raum hüpfte. Er ließ quasi alles raus. Ich hatte ja schon einiges gesehen, aber man lernt bekanntlich nie aus. Na gut, okay, dachte ich. Vielleicht ist dies eine besonders effektive Kundalini-Technik. Erlaubt ist schließlich nicht nur, was gefällt, sondern was zum Ziel führt. Jedenfalls solange man die Würde anderer Menschen dabei nicht anpinkelt.
Die Bücher, die ich im Athenaeum gekauft hatte, enthielten detaillierte, seriöse Anleitungen zu verschiedenen Energieübungen. Nach einigen Wochen konzentrierter Meditationen erwachte die Schlange. Einfach so, ohne Vorzeichen.
Uuuuuhuhu! Wow! Was war das denn?
Der Vergleich mit einer erwachenden Schlange traf authentischer zu, als ich erwartet hatte. Mir war, als würde sich im Lendenwirbelbereich ein Tier bewegen und entlang meiner Wirbelsäule aufsteigen. Oder als flösse eine heiße Flüssigkeit durch feine, bisher unbenutzte Kanäle, megagalaktisch angenehm und mit nichts Bekanntem vergleichbar.
Leider währte es nicht lange; ich nehme an, dass der Prozess vorzeitig abbrach, weil ich überrascht und erschrocken reagierte.
Ein paar Tage später stieg die Kundalini-Energie noch einmal empor. Der Aufstieg der Schlange war dieses Mal diffuser und weniger akzentuiert.[1] Aus dem Sanskrit: kundala oder kundalin bedeutet »gerollt«, »gewunden«.
Hier und Jetzt
Was spirituelle Selbstversuche betrifft, war Lulan in Amsterdam unbekümmert und vertrauensselig in Neuland vorgestoßen. Sein Vertrauen in die Gutartigkeit spiritueller »Kräfte« war nach seiner Visionssuche im Wendland enorm gewachsen. Er glaubte, das metaphysische Erfahrungen natürliche Vorgänge sind, und dass im Prinzip auch ein unwissender Mensch in der Lage sein sollte, die Geheimnisse seiner eigenen Natur zu entdecken.
Dennoch sollten Körperpersonen, die auf diesem Gebiet unerfahren sind, Shakti-Meditationen [1] in Begleitung eines erfahrenen Gurus durchführen. Man darf spirituelle Energien niemals forcieren oder missbrauchen. Die spirituelle Erweckung ist ein Prozess des Lassens und des Loslassens.
Eines von Lulans Büchern aus dem Athenaeum beschäftigte sich mit Chakren und Auren, denen bestimmte Farben zugeordnet wurden. Die Autoren schrieben, dass es möglich sei, diese Farben zu sehen. Auch Lulan konnte »Dinge« sehen, seit er die Begegnung mit der blauen Wolke hatte. Manchmal beobachtete er, wie farbige Fünkchen um Gegenstände herumtanzten, bei anderen Gelegenheiten waren Pflanzen oder Tiere von einem weißen Schein umgeben oder es erschienen leuchtende Farben in den Gesichtern von Menschen in seiner Nähe.
______________________________[1] Shakti gilt in der tantrischen Philosophie als die weibliche, dynamische Form der kosmischen Energie, neben der Gottheit Shiva, die die männliche Seite repräsentiert. Shakti ist die schöpferische Kraft der Manifestation; sie ist das Energiepotential, welches in Menschen erweckt werden kann. Wenn Kundalini-Shakti aus dem ruhenden Zustand erwacht, erfährt der Mensch den glückseligen Moment der Erweckung seiner wahren Natur.
Erinnerungen
1972, Hausberge
Die blaue Wolke kam zu mir als ich vierzehn Jahre alt war und Angst im Dunkeln hatte. Mein Zimmer war ursprünglich Teil des weitläufigen Heizungskellers der Hausberger Schule gewesen. Mein Vater hatte die ebenerdige Dienstwohnung durch den Umbau mehrerer Kellerräume zu Wohnräumen vergrößert. Mein Zimmer war ein sieben Meter langer, fensterloser Schlauch, an dessen Decke ringsum eine Spanplattenverkleidung das grellkalte Licht von 12 Neonröhren abblendete. Papa hatte sich die Idee in einem Krankenhausflur abgeguckt. Das Fehlen von Fenstern deprimierte mich ungemein.
In meinem Schlauchzimmer befand sich eine Tür, die in einen blind endenden Heizungs- und Waschraum führte. Dieser Raum wurde von einer nackten, funzeligen 40-Watt-Glühbirne beleuchtet, die die Rumpelkammer in ein schummriges Halbdunkel tauchte. Beleuchtungstechnisch waren die beiden nebeneinanderliegenden Räume zwei Gegenpole.
Die Tür zum Waschraum war mir unheimlich. Ich hatte die beklemmende Befürchtung, dass jemand hinter der Tür stehen könnte, keine lebende Person, sondern ein Geist, der aussähe wie eine lebende Person. Ich sah sie nicht, sah sie nie, diese Geistergestalt, und dennoch bildete ich mir ein, dass da jemand hinter der Tür stand. Ich konnte die Anwesenheit von etwas fühlen! Während der gesamten zwei Jahre, die ich in dem Schlauchzimmer hauste, grauste es mich, wenn ich Waschraum betreten musste. Es gab für mich nur eine Methode die Tür zu öffnen: Mit aufgestellten Rückenhärchen holte ich mehrmals tief Luft und riss sie dann ruckartig weit auf. Ein schneller Blick in alle Ecken, da war niemand! Aufatmen!
Die blaue Wolke hing spät abends in der Luft, mitten in meinem Neonröhrenzimmer. Ich war gerade in mein Bett gekrochen und sah sie von dort aus in drei Meter Entfernung regungslos unter der Decke schweben; sie war länglich oval, circa zwei Meter lang. Ihr Blau war psychodelisch. Ich kann die Farbe schwer beschreiben, es gibt sie nicht. Es war ein intensiv strahlendes, tiefsattes Blau, zwischen Kobalt und Indigo. Die Wolke wirkte organisch, als würde sie leben. Sie schoss ansatzlos, ohne Vorwarnung, auf mich zu und durch mich hindurch, wie ein gewaltiger Energiestoß, weder angenehm noch unangenehm (wie beispielsweise ein Stromstoß). Trotzdem verkrampfte sich mein gesamter Körper, er wurde bretthart, und das erzeugte eine sehr unangenehme Verspannung. Die ganze Sache dauerte insgesamt circa fünf Sekunden, es war keine Halluzination, sondern ein reales Ereignis. Ich konnte die blaue Wolke nirgendwo einordnen, ich kann es bis heute nicht. Zuerst dachte ich an UFOs, verwarf den Gedanken aber wieder – er ergab keinen Sinn.Hier und Jetzt
Selbst Siddha Jan Esmann, der alle möglichen Energietransformationen der Körperhüllen deuten kann, wusste mit Lulans blauer Wolke nichts anzufangen, als Lulan ihm 2019 davon berichtete.
Die Wolke erschien nie wieder, doch die Energiestöße blieben seitdem; sie kamen in unvorhersehbaren Abständen, ungefähr einmal pro Jahr und stets nachts, während Lulan schlief. Er lernte mit jedem Mal sich ein wenig mehr zu entspannen, bis er in der Lage war die Energie einfach durch sich hindurch zu lassen. Das funktionierte sogar im Tiefschlaf. Obwohl der Körper schlief, war Lulans Geist sofort hellwach, nicht durch den Energiestrom, sondern bereits kurz vorher. Mit den Jahren nahmen die Energieträume ab, der letzte hochenergetische Stoß erfolgte 2005, danach wurden die Ströme sanfter und harmonischer, einige lösten sogar Glückseligkeitsereignisse aus.
In Amsterdam probierte Lulan verschiedene Meditationstechniken aus. Eines seiner Bücher enthielt Übungen, die den Leser schrittweise und behutsam an Außerkörperliche Erfahrungen (AKE oder OBE) heranführten.
Die Erklärungen für Out-of-Body-Experiences variieren, je nachdem, ob das Phänomen von einer neurobiologischen, psychologischen oder spirituellen Perspektive aus beleuchtet wird. Die spirituelle Sichtweise kann sich auf jahrhundertealte Überlieferungen aus unterschiedlichen Kulturen berufen, sogar einige ägyptische Hieroglyphen scheinen AKE darzustellen. Allerdings bieten selbst spirituelle Erklärungsansätze kein einheitliches Bild; einige Quellen beschreiben AKE als Seelenwanderung, andere gehen davon aus, dass Menschen aus mehreren feinstofflichen Hüllen bestehen, die zusammengenommen eine individuelle Körperperson projizieren. Eine dieser feinstofflichen Körperhüllen, der Astralkörper, löse sich demzufolge während einer AKE vom physischen Körper.
Trotz der unterschiedlichen Interpretationen der zugrundeliegenden Prozesse wird der eigentliche Vorgang und Ablauf der AKE von »Betroffenen« mit großer Übereinstimmung annähernd gleich beschrieben: Sie schwebten im Raum, losgelöst vom eigenen Körper, der regungslos in seiner Position verharrte. Das Loslösen, die Dissoziation, vom physischen Körper ist in den meisten Kulturen bekannt, manche Menschen erleben eine AKE spontan, andere führen sie bewusst herbei.
Lulan folgte den Übungsanleitungen seines Buches, das davor warnte, AKE häufiger durchzuführen oder sich auf längere Astralreisen zu begeben. Obwohl Lulans Selbstversuche erfolgreich waren, ist davon abzuraten, Astralreisen ohne Begleitung oder geschulte Vorbereitung zu unternehmen. AKE können psychische Störungen auslösen [1].[1] Die orthodoxen Wissenschaften stufen nichtnachweisbare spirituelle Erlebnisse entweder als Fantasieprodukte oder als Störungen von diversen Gehirnfunktionen ein. AKE gilt als klinisches Symptom, das dem Depersonalisations- und Derealisationssyndrom zugeordnet wird.
02.06.1985
Amsterdam
Es funktionierte! Ich sah mich mit geschlossenen Augen. Mein Körper blieb auf dem Stuhl sitzen, während ich darüber schwebte und »mich« auf dem Stuhl sitzen sah.
Ich war für spirituelle Waghalsigkeiten zu haben, dennoch schien es mir ratsam auf die Stimme der Vernunft zu hören. Mir reichten diese außerkörperlichen Erfahrungen. Ich wusste, wie man diesen Zustand aktiv herbeiführen konnte und wie er sich anfühlte. Mehr wollte ich nicht.
Seit dem Frühjahr habe ich drei metaphysische Energiemomente erlebt: die beiden erwähnten Kundalini-Entladungen und ein Erlebnis, das ich bisher nicht einordnen konnte. Dieser dritte Vorfall war in jeder Beziehung anders, vor allem seine Intensität übertraf die Kundalini-Kraft um etliche Größenordnungen.
Die Energie stieg nicht aus dem unteren Rückenbereich auf, wie bei einer Kundalini-Erweckung. Sie kam von oben. Ich saß auf einem Stuhl am Fenster, in eine tiefe Meditation versunken, und konzentrierte mich auf mein Kronenchakra, anschließend auf das Stirnchakra. Als ich mir vorstellte, dass ein Ring von Energie meinen Kopf auf der Höhe der Ohren umgab, nahm ich im gleichen Augenblick eine Berührung auf meinem Kopf wahr, direkt dort, wo bei kleinen Babys die noch weiche Fontanelle liegt. Die Berührung nahm an Intensität zu und entwickelte sich zu einem starken Druckgefühl. Es kam mir vor, als würden drei prall gefüllte Sandsäcke auf meinem Schädel lasten, das war, so verrückt es klingen mag, das Bild, das mir plastisch vor Augen stand. Ich spürte keine Schmerzen, auch wenn das Druckempfinden besorgniserregend war.
Dann drang etwas in meinen Kopf ein, es war glühend heiß und eiskalt zugleich, doch gänzlich schmerzfrei. Es „floss" wie durch einen feinen Kanal bis in die Mitte meines Kopfes, wo es in einem kleinen Areal (ich nehme an, dass es der Bereich der Zirbeldrüse war) in einer Glücksexplosion endete, deren selige Wellen sich in meinem gesamten Körper ausbreiteten. Ich wusste nicht, wie mir geschah!
Leider hielt der verzückende Glücksmoment nicht länger als einige Minuten an. Ich habe tagelang immer wieder probiert, den Effekt dieser Meditation zu wiederholen – vergeblich!
Hier und Jetzt
Während eines Shaktipat-Intensivkurses in Dublin 2018 erzählte Lulan Siddha Jan von seinen Amsterdamer Energieerlebnissen. Jan antwortete zu Lulans Erstaunen ohne zu Zögern: „Oh, that happens when you disconnect your astral body from your physical body. The reconnection can be very blissful, extremely ecstatic." Dass Lulan AKE praktiziert hatte, hatte er Jan gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Solche Details lassen die Kompetenz eines Gurus erkennen. Leider wusste der Siddha nichts über die blaue Wolke zu sagen.
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