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Was denn?

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11 Die freie Auswahl

Sommer 1985 
Amsterdam 

Wir beluden Schiffe mit Sandsäcken, hunderte von aufeinander gestapelten Paletten passten in die großen Frachträume. Ich war als Zeitleiharbeiter in das westliche Hafengebiet Amsterdams geschickt worden. Davor stand ich mehrere Wochen in einer Brotfabrik am Fließband, davor an einer gigantischen Druckmaschine, die eine ganze Fabrikhalle füllte und Zeitungen und Magazine druckte. Ich fand Fließbandarbeit grauenhaft, sie stumpft die Sinne ab und lähmt den Geist.

Im Vergleich zu den Jobs am Fließband war die Arbeit im Hafen spannend wie ein Krimi. Unser Arbeitsplatz war eine Lagerhalle im Aziëhaven. Die Halle lag direkt am Kai, sie war riesig, man hätte darin bequem ein halbes Dutzend Jumbojets parken können. Nachdem mich meine Kollegen, vier mit allen Hafenwassern gewaschene Amsterdamer Arbeiter, ein paar Tage misstrauisch beäugt hatten, durfte ich mit einem Gabelstapler in der Halle herumgurken. Ein Heidenspaß! Dagegen waren die Autoscooter auf der Kirmes pillepalle. Wenn gerade kein Schiff zu beladen war, füllten wir an einer kleinen halbautomatischen Förderanlage Sand in Papiersäcke. Die rund 50 kg schweren Säcke stapelten wir auf Paletten, sechs Lagen pro Palette, und umwickelten das Ganze auf einer Drehscheibe mit selbsthaftender Folie damit die Säcke auch bei rauem Seegang beieinanderblieben. Anschließend stapelten wir die Paletten aufeinander.

Der Sand war kein normaler Sand, sondern ein sehr feines Mineral-Metallgemisch. Manche Gemische dienten der Weiterverarbeitung zu Schmirgelpapier, andere Zusammensetzungen wurden bei der Herstellung von Schweißstäben zugesetzt. Wir nannten das feinkörnige Gemenge einfachheitshalber Sand, denn das Zeug sah aus wie Sand. Einer der Kollegen soll angeblich einen Eimer »Sand« zuhause in die Voliere seiner Kanarienvogelzucht eingestreut haben; die Vögel seien kurz danach verendet, erzählte mir der rothaarige Vorarbeiter Steef.

Das lose Sandgemisch kam mit Frachtschiffen aus Australien. Wir löschten die Ladung über ein fahrbares, motorgetriebenes Transportband. Der Sand wanderte aus dem Frachtraum des Schiffes in unsere Halle, wo er sich zu fußballfeldgroßen Bergen auftürmte. Wir brauchten einige Wochen, bis wir den Sandberg abgetragen, in Säcke gefüllt und auf Paletten gestapelt hatten. Jemand musste diesen Ablauf auf den Tag genau koordinieren, denn sobald wir mit den Paletten fertig waren, kam ein russisches Schiff eingelaufen, um die Fracht abzuholen. Die Besatzungsmitglieder trugen pelzbesetzte Wintermäntel, auch im Sommer. Wahrscheinlich kamen sie über das Nördliche Eismeer nach Amsterdam. Sie durften ihr Schiff nicht verlassen und empfingen an Bord kleine Gruppen von Prostituierten, die auf ihren Stöckelschuhen vorsichtig das Fallreep hochbalancierten.

Je länger ich den zyklischen Ablauf der Sandverfrachtung, die zuverlässig dem gleichen Schema folgte, beobachtete, desto rätselhafter erschien mir die Angelegenheit. Ich zerbrach mir wochenlang den Kopf über der Frage, warum Menschen Sand um den halben Globus von Australien in die Niederlande bringen, um ihn dort in Säcke zu füllen. Warum konnten die Russen das nicht selbst erledigen? Warum holten sie den Sand nicht direkt in Australien ab? Die Niederländische Ostindien Kompanie war während ihres Goldenen Zeitalters eine globale Wirtschaftsmacht. Vielleicht lag in den historischen Handelsbeziehungen die Erklärung für den dubiosen Sandtransport.

Die Arbeit im Hafen gefiel mir. Leider fragte mein uitzendbureau eines Tages ohne Vorankündigung, ob ich ab sofort in einer Coca-Cola-Fabrik arbeiten könne; für die Hafenarbeit sei in den kommenden Monaten keine zusätzliche Hilfskraft erforderlich. Der internationale Sandhandel unterlag offensichtlich saisonalen Schwankungen.

In der Coca-Cola-Fabrik zu jobben war purer Stress. Wir ent- und beluden LKW, hievten mit Gabelstaplern Leergut-Paletten von den Wagen und tauschten sie gegen Paletten mit befüllten Cola-Kisten aus. Aus einem mir rätselhaften Grund musste alles rasend schnell über die Bühne gehen. Dazu kam, dass die LKW-Kompartimente für die Paletten nur wenige Zentimeter Spielraum boten; wenn man die Fächer nicht beim ersten Versuch gerade ansteuerte, wurde ein langwieriges Korrekturmanöver unumgänglich. Um Zeit zu sparen, verzichteten die erfahrenen Kollegen darauf, die Kistentürme auf den Paletten mit Bindfäden zusammen zu halten. Dadurch gerieten die acht Türme – jeder mit fünf aufeinander gestapelten Kisten – beim Anheben und Fahren bedrohlich ins Schwanken. Als mir die erste Palette mit 40 Leergutkisten durch ein zu scharfes Abbremsen von der Gabel krachte, verzog keiner der Arbeiter eine Miene. Bei meinem zweiten Betriebsunfall waren die Kisten befüllt und 480 Liter Coca-Cola flossen durch die Halle. Es gab eine schöne Sauerei, und die Kollegen fuhren mich böse an. Das war zugleich mein letzter Arbeitstag in diesem Betrieb.

Die Jobberei hing mir zum Hals heraus. Ich musste für die uitzendbureaus rund um die Uhr verfügbar sein. Sie riefen oft ohne Vorankündigung an und beorderten mich zueinem neuen Einsatzort, wo ich nicht selten bereits eine Stunde nach dem Anruf erscheinen musste. Als ich einmal erwiderte, ich würde es in einer Stunde nicht schaffen, reagierte die Mitarbeiterin am Telefon sofort unwirsch und machte mir Druck. Wenn ich nicht verfügbar sei, könnten sie mich nicht verlässlich einplanen.


16.05.1986
Amsterdam, Zeitarbeitsjob in der Albro-Brotfabrik

Leben am Band

Ich habe jene ausgelacht, die im Neonlicht stehen, Tag für Tag, Nacht um Nacht. Schichtarbeiter in Fließbandhallen. Der marokkanische Immigrant, fünfzehn Jahre am Band!

Du hast die freie Wahl!

Der türkische Vorarbeiter, achtundzwanzig Fabrikhallenjahre! Das Lachen blieb mir im Halse stecken.

Tu, was immer du willst!

Ich habe nicht verstanden, wie willfährig sie ihr Leben verschwenden, mit geisttötender Schichtarbeit. Die klaglosen Mitmacher, ihres heilenden Schlafs beraubt, die einfach machen, immerzu machen, was niemand von ihnen verlangt. Denen man als Tagesrest ein paar freie Stunden lässt. Die dreiundvierzig Jahre lang, bis zum Ruhestand, die Bänder am Laufen halten. Wahnsinn am laufenden Band.

Heilig! Heilig! Heiliges Leben! Ich will sie nicht vergessen! Auch nicht die langen Nächte, die schleppenden Stunden, im Lärm der Pressluftmaschinen. Funkelnde Marokkaneraugen, die einzige Wärme im kalten Licht.

Dieser Irrsinn! Diese Missachtung! Dieses unfassbare Missverständnis! Ein Schmerz! Mein Gott, wie weh das tut!


06.02.1987
Amsterdam

Nichts ist gut oder schlecht allein. Alles ist beides, mal mehr, mal weniger. Das Surren einer Mücke in schlafloser Nacht! Die eine Bemühung, an die ein Wesen sein Leben verschwendet! Der junge Priester, der jahrelang davon geträumt hat, das Wort Gottes zu den „Wilden", den eingeborenen Waldindianern, zu bringen, und der nach einer unglückseligen Atlantiküberquerung mit letzter Kraft das amerikanische Ufer betritt, wo er noch am Tag seiner Ankunft von den Kriegern eines feindlichen Stammes erschlagen wird. Er hatte sich geweigert sein silbernes Kruzifix gegen drei Biberfelle einzutauschen.

Alles Leben ist heilig, fürwahr! Nicht die kleinste Geste ist ohne Sinn im Heiligen Plan!

Du willst alles verstehen? Verdammt bist du, dass du verstehst! Indem du verstehst, vergisst du schon!

Ich schreibe diese Zeilen, um sie nicht zu vergessen, um nicht mehr danach fragen zu müssen. Meine Angst: Ich vergesse zu schnell! Sobald ich vorangehe, vergesse ich. Ich muss etwas Bleibendes erschaffen, damit ich mich selbst erinnern kann. Alles, was ich ahne, ist real. Ein jeder kann machen, was er will. Ein jeder bekommt, was er nötig hat.

Ich habe Angst vor den Folgen meines Handelns. Ich höre und sehe schlecht.


11.02.1987
Amsterdam

In Konstanz kam mir 1984 in meinem Zirkusbauwagen zum ersten Mal der Gedanke ein universitäres Studium zu beginnen. Ich griff den Gedanken in Amsterdam wieder auf. Es dauerte ein paar Tage, dann sah ich alles übersichtlich geordnet vor mir, und mein Entschluss stand fest. Ich ließ mir die Anmeldeformulare eines Kollegs für Erwachsenenbildung in Oldenburg zuschicken. Der zweite Bildungsweg bot Schulabbrechern wie mir eine Chance. Ich hatte Oldenburg als meine neue Heimat ausgewählt, zum einen lag es relativ nah an Amsterdam, aber auch, weil es mich von jeher an die Küsten des Nordens zog.


Überstunden

Hier und Jetzt

Von 1987 bis 1990 holte Lulan am Oldenburg Kolleg im Reich der Friesen sein Abitur nach. Nach der muffigen Schulzeit am Bessel-Gymnasium 10 Jahre zuvor erschien ihm das Kolleg wie eine wahr gewordene Utopie. Deutschland hatte sich in den zehn Jahren von 1977 bis 1987 grundlegender verändert als in den 30 Jahren nach der Feuerzangenbowle. Dass Schule Spaß machen konnte lag jenseits von Lulans Imagination. Das Oldenburg Kolleg versöhnte ihn mit der Welt.

Die meisten Lehrer waren jung, und die Älteren waren jung im Geist. Sie behandelten ihre Schüler respektvoll und kommunizierten mit offenem Visier. Ihr unverkrampfter Enthusiasmus war inspirierend. Einer objektiven Wahrheitsfindung verpflichtet sein, dabei kontroverse Standpunkte berücksichtigen - Lulan gefielen ihre kritischen Denkansätze, die nicht vor Konventionen haltmachten und unbeirrbar sogar profane Selbstverständlichkeiten in Frage stellten. Die Kolleg-Lehrer schulten seinen Geist, lehrten ihn analytisch zu denken, sich selbst und andere in einem größeren gesellschaftlichen Kontext zu sehen. 


Erinnerungen
1988, Oldenburg-Kolleg

Es gab einen genialen Mathelehrer, dem es gelang, mein verunglücktes Zahlenverständnis vom Kopf wieder auf beide Beine zu stellen. Herr Ott konnte schwierigste mathematische Zusammenhänge so erklären, dass sogar ich sie verstand. Wenn jemand einmal nicht mitkam und nachfragte („Woher kommt in der Gleichung jetzt das zweite x?"), reagierte Herr Ott mit einem gleichmütigen Schulterzucken.

„Wo soll das Problem sein? Ist doch ganz einfach!"

Und dann bewies Herr Ott, dass alles tasächlich ganz einfach war. Er war restlos überzeugend, ich verstand alle Formeln und sogar deren Herleitungen. Mathe war faszinierend. Also entschied ich mich Mathematik als ersten Leistungskurs und Prüfungsfach zu belegen. Ich traf die Wahl mit Angstschweiß auf der Stirn, denn meine Erfahrungen am Bessel-Gymnasium waren traumatisch und hatten mich negativ geprägt. Auf dem Abi-Zeugnis hatte ich am Ende in Mathe die vollen 15 Punkte stehen, schwarz auf weiß.

„War doch kein Problem!", höre ich Herrn Ott sagen, wenn ich an ihn zurückdenke. Er hat ein Denkmal in meiner Ehrenhalle bekommen.

Auch die Namen der anderen will ich nennen, die Namen der Lehrer des Oldenburg Kollegs, die mich und andere mit ihrem Engagement infiziert haben, auch auf die Gefahr einer versehentlichen Unvollständigkeit hin, die einzig und allein meinem defizitären Gedächtnis geschuldet wäre:

Susanne Morgenroth (für einen passionierten Sturm auf die Bastille), Michael Weih (für mehr Mündigkeit; gib uns mehr davon!), Bernd Beime (Parallelklasse), Gerd Ahlrichs (für die Sonatenhauptsatzform und die standhafte Verteidigung klassischer Musik gegen das Trallala der Trivialmusik), Burkhardt Schöningh (für solide Grundlagen der englischen Grammatik), Herr Ott (Mitglied meiner persönlichen Ruhmeshalle, für kristallklare Wachheit bei der 47. Ableitung nach dem Mensa-Essen), Herr Lange (für seine Beratungen und Ratschläge), Frau Claudius-Enkemann (Guten Morgen ohne Sorgen!), Herr Bönecke (für die galante Gutmütigkeit, mit der er meine verbissene Goethe- und Schiller-Verdrossenheit ertrug) und Herr Eva (für sein Lachen und … down by the river Saile).


09.08.1988
Oldenburg

Ein warmer, locker bewölkter Sommertag. Wir haben Bio-Unterricht in der sechsten Stunde. Die Fenster stehen weit offen.

„Was ist Leben?", möchte Frau Hellmich wissen. Die Klasse bleibt stumm.

Leben ist das Aufglühen einer Feuerfliege in der Nacht, fällt mir treffenderweise ein, aber ich behalte dieses Zitat von Crowfoot lieber für mich. Es ist nicht die Antwort, auf die Frau Hellmich wartet. Sie denkt mehr an Organismen. Crowfoots Definition ist »ganzheitlich«, er bezieht neben dem Organismus auch dessen Aufglühen und die Nacht mit ein. Der Indianer hatte recht, es leben nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Tage und Nächte. Jeder Tag hat seine eigene Atmosphäre, er atmet wie ein lebendiger Organismus. Heute ist Donnerstag. Fliegen summen durch die träge Stille. Das Mensa-Essen war gut. Sehr schmackhaft. Es liegt mir angenehm im Bauch.

„Was ist Leben, was ist Bewegung?", hakt Frau Hellmich nach. Sie heißt Frauke mit Vornamen und ist kaum älter als ich. Dies ist ihre erste Anstellung nach dem Referendariat.

Durch die geöffneten Fenster sehe ich den Fahnenmast des Kollegs in der Sonne glänzen. Er steht auf einem gemähten Rasenstück, an das der Hausmeisterbungalow angrenzt.

Rainer meldet sich. „Wenn etwas lebt, muss es in der Lage sein sich fortzubewegen", sagt er.

Rainer ist ein netter Kerl. Er beteiligt sich immer am Unterricht, selbst wenn der Rest der Klasse mit einer Gehirnhälfte schläft. Frau Hellmich nickt erfreut, „Ja, das ist schon richtig. Aber was ist mit Pflanzen? Die sind doch unbeweglich? Oder?"

Die Klasse schweigt. Auch Rainer sagt nichts. Lange Pause.

Ich sehe durch die offenen Fenster wie Herr Feye, unser Hausmeister, aus dem Hauseingang seines Bungalows kommt und sich seinen grauen Kittel zuknöpft. Seine spiegelblanke Glatze über der hohen Stirn gleißt im Sonnlicht. Herr Feye dürfte Ende vierzig sein; hinter den dicken Gläsern seiner Kassenbrille blinzeln verschmitzte, schalkhafte Augen. Der Hausmeister hält seinen Oberkörper leicht vornübergebeugt. Seine Arme muten an wie zu lang geratene, mächtige Greifzangen, wenn er sie nicht vor der Brust verschränkt oder in die Hüften stemmt (seine bevorzugte Körperhaltung). Herr Feye ist ein uriger Typ.

Rainers Stimme holt mich zurück in den Klassenraum. Seine Antworten klingen wie Fragen: „Pflanzen können zum Licht hinwachsen? Mit Ranken, zum Beispiel?"

Jetzt klammert sich Frauke Hellmich geduldig an das Einmaleins ihrer pädagogischen Ausbildung. „Ja, das ist richtig! Gut!", lobt sie bestätigend. „Aber man kann ja jetzt Ranken nicht mit einem Tier vergleichen, das zielgerichtet hin- und herlaufen kann. Es muss noch mehr geben, was »Leben« ausmacht. Denken Sie mal nach!"

Schweigen. Pause. Die Luft, die durch die offenen Fenster in den Klassenraum strömt, hat eine betörend entspannende Note.

In der Nähe des Haupteingangs der Schule muss etwas vorgefallen sein. Herr Feye starrt angespannt in diese Richtung; er hat seine beiden Fäuste auf seine Hüften gestützt und schaut verärgert drein. Was ihn empört, kann ich nicht ausmachen, es liegt außerhalb des Blickfelds, den die geöffneten Fenster freigeben. Schlagartig kommt Bewegung in die verschlafene Szenerie, der Hausmeister eilt im Laufschritt auf den Haupteingang zu.

Im Bio-Raum hebt Imke ihre Hand. Imke hat eine feine, sauber artikulierende Stimme. „Ich denke, dass Lebewesen sich fortpflanzen. Fortpflanzung gibt es nur bei Lebewesen."

„Sehr gut! Das ist richtig!", lobt Frau Hellmich. „Bewegung, Fortpflanzung. Das unterscheidet Lebewesen von, sagen wir mal, Steinen. Aber sind denn dann Zellen, die sich durch Teilung vermehren, auch eigenständige Lebewesen?"

Draußen kommt von links ein schwarzer Hund in das menschenleere Fahnenmast-Panorama gelaufen. Es ist der Köter des Hausmeisters, ein Kleinspitz, doch ich möchte mich hier nicht festlegen, denn seine äußeren Merkmale weisen einige auffällige Anomalien auf. Sein Kopf ist aberwitzig klein; er wird von einer langen Mähne umsäumt, die einem hochgeschlagenen Mantelkragen ähnlichsehen. In seinem kleinen Hundekopf quellen die Augen stark vergrößert hervor, so dass das Weiß der Augäpfel aufleuchtet. Der Hund hat was mit der Schilddrüse, denke ich. Zusammen mit den leicht hochgerutschten Lefzen, die die Eckzähne teilweise freigeben, verleihen die irren Kugelaugen dem Spitz einen cholerischen, leicht dämonischen Ausdruck. Ich meine in dem Tier eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Klaus Kinski zu erkennen. Nicht einmal ein vertrauensseliges Kleinkind würde diesen Wauwau begrapschen. Die universelle Signalsprache der Natur ist unmissverständlich, Fass' mich bloß nicht an, warnt der Hund.

Direkt hinter mir wagt sich Ruth an die heikle Beantwortung der Frage nach Leben auf der zellulären Ebene. „Es kommt darauf an, würde ich sagen. Körperzellen, die sich teilen, sterben ab, wenn man sie isoliert. Aber es gibt Einzeller, die eigenständig leben."

„Ja, sehr gut. Das ist richtig!", meint Frau Hellmich. „Was ist denn der entscheidende Unterschied zwischen Körperzellen und Einzellern?"

Ruth antwortet ohne lange zu grübeln, sie ist gut in Form. „Ich würde sagen, dass sich Einzeller ihre Nahrung selbst besorgen. Körperzellen bekommen das, was der Körper ihnen gibt. Einzeller nehmen gezielt, ich meine aktiv, Nährstoffe aus ihrer Umgebung auf."

Der Spitz ist währenddessen damit beschäftigt, den Fuß des Fahnenmastes abzuschlabbern. Die entschlossene Hingabe seines Verhaltens lässt erahnen, dass er hier nicht zum ersten Mal leckt. Auch die bräunliche Verfärbung am unteren Teil des Mastes deutet darauf hin. Der Hund arbeitet wie besessen, als könne er nicht genug bekommen. Genug von was? Der Mast besteht aus Aluminiumguss oder einer aluminiumhaltigen Legierung, die zusätzliche Substanzen enthalten könnte. Entweder macht die Legierung abhängig, oder sie wirkt lindernd bei Schilddrüsenfunktionsstörungen. Oder beides.

Der glupschäugige Spitz leckt hemmungslos, ein gelblichweißer Schaum entsteht, der seine Schnauze und den Fuß der Fahnenstange bedeckt. Während der Hund wie ein Berserker den Aluminiummast malträtiert, beginnt er wimmernde Laute von sich zu geben, ob aus Lust oder Leid ist schwer zu sagen. Einige in der Klasse rutschen beunruhigt auf ihren Stühlen hin und her.

Jetzt hält der Kläffer jäh inne, legt mit rollenden Augen kurz seinen Kopf in den Fellkragen, um wie ein geölter Blitz nach rechts aus dem Bild zu sprinten. Zeitgleich betritt von links kommend der Hausmeister den Rasen. Beim Fahnenmast bleibt er zunächst mit baumelnden Armen unschlüssig stehen, dann scheint er etwas zu sagen und zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf seinen Bungalow. Als nichts passiert, ruft er lauter, es klingt wie „Benny", und sein langer Arm ist unerbittlich auf die Eingangstür seines Hauses gerichtet. Nach ein paar langen Sekunden kommt der Kleinspitz lässig angetrabt, würdigt seinen Herrn keines Blickes und verschwindet mit erhobenem Köpfchen im Bungalow.

Im Klassenraum fasst Frauke Hellmich die erarbeiteten Kriterien des Lebendigen zusammen. „Wir haben also Bewegung, Fortpflanzung und die aktive Aufnahme und Verarbeitung von Nährstoffen. Das bezeichnen wir als Stoffwechsel. Also, Leute, …"

Ich verpasse den Rest von Frau Hellmichs Fazit der Stunde, denn von der Straße kommend rollt jett ein Fahrradfahrer in die Einfahrt de Schule. Es ist Herr Rebel, der Direktor des Kollegs. Die äußerliche Erscheinung des Mannes entspricht einem harmonischen Gleichklang von adretter Biederkeit und konservativer Seriosität. Herr Rebel trägt einen makellosen, beigefarbenen Trenchcoat mit geschlossenem Gürtel (wie in Kaufhauskatalogen abgebildet), dazu eine passende Tweed-Schiebermütze. Auf dem Gepäckträger seines blitzblanken Herrenfahrrads transportiert der Schulleiter eine teure Lederaktentasche (auch sie funkelnagelneu).

Herr Rebel steigt vor der Garage von seinem Rad. Er bewegt sich steif und linkisch und sieht sich suchend um, lehnt das Rad an die Garagentür, geht ein paar Schritte auf den Haupteingang zu, zögert, kehrt wieder um und nimmt die Aktentasche vom Gepäckträger des Fahrrads. Von rechts kommt Herr Feye und begrüßt seinen Chef händeschüttelnd. Die beiden unterhalten sich ein paar Sätze lang, wobei sie mit jedem Dialogwechsel simultan ihre Haltung ändern. Wenn der Hausmeister seine Fäuste in die Hüften stemmt, greift sich der Direktor an seine Krawatte.

Nachdem Herr Rebel das Hauptgebäude betreten hat, öffnet der Hausmeister die Garagentür und schiebt das Rad des Schulleiters sorgfältig an seinen angestammten Platz.

Noch drei Minuten bis zum Ende der Bio-Stunde. Frau Hellmichs Stimme erreicht wieder mein Ohr.

„… und diese Kriterien unterscheiden lebende Organismen von unbelebter Materie!"

In Gedanken spinne ich die Schlussworte der Lehrerin weiter. Welche Kriterien unterscheiden Schulleiter von Hausmeistern? Warum tragen deutsche Hausmeister graue Kittel? Es gibt keine diesbezüglichen Vorschriften oder Dienstbekleidungsregeln, da bin ich mir relativ sicher. Auch mein Vater trägt sie treu und brav, er hat einen ganzen Schrank voll grauer Kittel. Er trägt sie sogar bei privaten Arbeiten im Haus und im Garten.

Dass es sich um ein typisch deutsches Kulturrelikt handelt, dürfte jedem klar sein, der sich einmal in unseren Nachbarländern umgesehen hat. Oder generell in irgendwelchen anderen Ländern. Selbstverständlich kennt man auch woanders Uniformen und einheitliche Garderoben für bestimmte Berufe. Das Weiß der Mediziner gibt weltweit einheitlich den Ton an, dicht gefolgt von den Bäckern, auch in weiß, allerdings – und das ist wichtig - durch Accessoires und Formvarianten von den Ärzten unterscheidbar.

Wahrscheinlich wollte man an deutschen Schulen vermeiden, dass der Hausmeister nicht versehentlich für einen Lehrer gehalten oder gar mit dem Schulleiter verwechselt wurde.

Man müsste die Merkmale des Lebendigen um ein weiteres Kriterium erweitern: Lebewesen sind in der Lage ihre äußere Erscheinung zu verändern, wenn die Umstände es erfordern oder durch die Veränderung Vorteile erlangt werden können. 


17.05.1989
Porta- Westfalica

Mama hat es endlich getan. Sie hat zwei Koffer gepackt und ihn verlassen. Nach 31 Ehejahren. Alle haben gewusst, dass es einmal so kommen würde. Alle, nur er nicht. Jetzt ist er am Boden zerstört. Hat sein Gesicht verloren. Verletzter Stolz. Er will nicht mehr leben.
Nach 31 Ehejahren. Besser spät als nie. Ich bin jetzt 30. War sozusagen von Anfang an dabei. Sie hat mir sicherlich dutzende Male erzählt, wie diese Ehe zustande gekommen ist. Ein echtes Drama, das heute kaum mehr denkbar wäre.

Ich erkenne mich in ihren Rückblicken wieder.
Sie ist sechzehn. Überschäumend vor Lebenslust. Das Leben, das verheißungsvoll vor einem liegt, wenn die Kindheit endet. Sie ist hübsch, sieht gut aus. Die Eltern können sie nicht halten, sie will zum Tanz, begehrt werden, selbst begehren. Tanz auf dem Dorf, verschwitzte Körper, rote Gesichter im Festzelt. Sie findet diesen jungen Mann attraktiv, weil er ernst und seriös ist, ein Kavalier. An jemanden binden möchte sie sich noch nicht. Er ist neun Jahre älter, macht ihr den Hof. Er will sie. Dann, zu später Stunde, nach dem Tanz, ein Schützenfestdrama. Ein anderer junger Mann versuchte mit »seinem« Mädchen anzubändeln. Er prügelt sich, wegen ihr, danach »gehen sie miteinander«. Er meint es ernst, doch sie ist sich nicht sicher, möchte am liebsten nur tanzen, frei sein. Nach zwei Monaten macht sie Schluss. Er versucht einen Suizid, liegt danach im Krankenhaus.

In der kleinen Dorfwelt weiß jeder Bescheid. Ihre Eltern, die Kriegsflüchtlinge aus Pommern, diese Unglückskrähen namens Krey, machen ihrer jungen Tochter Druck. Du gehst jetzt zu ihm ins Krankenhaus! Du bringst uns keine Schande ins Haus! Sie sträubt sich, ist noch ein junges Mädchen, und das ist in den fünfziger Jahren ihr Pech. Ihre Eltern möchten vor allem keinen Anstoß geben, bloß nicht auffallen.
Sie geht schließlich zu ihm ins Krankenhaus, das falsche Signal, ein entscheidender Fehler. Sie kann nicht nein sagen. In den Wochen nach Weihnachten haben sie Sex, sie wird prompt schwanger. Jetzt gibt es keinen Ausweg mehr, also heiraten sie, drei Monate vor der Geburt meines Körpers. Eine erzwungene Ehe, auf Sand gebaut, ein Schritt, den man nicht aufhört zu bereuen, tagein, tagaus, einunddreißig Jahre lang.

Jetzt hat sie ihn also nach 31 Jahren verlassen. Ich habe seit Langem irgendwie geahnt, dass dieser Tag einmal kommen würde. Nicht nur, dass sie ihn verlässt, damit hatten in ihrer Familie sowieso alle gerechnet. Schon als ich 18 war, sah ich dieses Szenario voraus, eine Situation, die mir keine Wahl lassen würde. Ich ahnte, dass ich dem Mann, um den ich immer einen weiten Bogen gemacht habe, beistehen musste. Ein Albtraum. An an der Seite meines Vaters sein zu müssen, wenn es ihm einmal richtig dreckig ginge. Ihm ausgerechnet in einer Lage emotionaler Verzweiflung näher zu sein als jemals zuvor – allein die Vorstellung löste panikartiges Entsetzen in mir aus.

Nun ist es soweit, der Moment ist gekommen. Ich habe keine Wahl, es gibt kein zurück mehr, es muss sein. Ich bin in der großen Hausberger Wohnung mit ihm. Er irrt durch die Räume wie ein angeschossenes Tier, bekommt aufblitzende Zornausbrűche. Ich zucke zusammen, als er in der Küche laut fluchend Geschirr zerschlägt. Es ist grauenhaft, ich spüre den Drang zu flüchten. Stattdessen sehe ich mir wahllos Sendungen im Fernsehen an, Autorennen, egal was, Hauptsache ich kann dem Drama ein paar Stunden entrinnen.

Aufatmen, als Carola nach ein paar Tagen kommt, zu zweit ist es leichter. Als Papa nicht mehr mit uns spricht, wissen wir Bescheid - er will sich umbringen! Stundenlanges Schweigen, dann hören wir, wie in der Küche wieder etwas krachend gegen die Wand fliegt, begleitet von grässlichen Flüchen. Eine Körperperson in verzweifelter Agonie. Der Zerstörungsrausch des verletzten Egos. Wir versuchen ruhig zu bleiben, nicht in Panik zu geraten. Mein Vater sieht andere nicht, er nimmt ihre Bedürfnisse oder Befindlichkeiten nicht war. Es geht nur um ihn. Man könnte es für Rücksichtslosigkeit halten, in Wahrheit ist es Hilflosigkeit.

Wir finden eine Nachricht, die er auf dem Küchentisch hinterlassen hat. Ein kleiner Zettel. Bin auf dem Dachboden, steht darauf. Wir wissen, dass der große Dachboden im Schulgebäude gemeint ist. Wo er sich eine Tischlerwerkstatt eingerichtet hat. Wir sehen uns an, haben den gleichen schrecklichen Gedanken. Unser Vater hat sich aufgehängt und baumelt jetzt an einem Dachbalken in seiner Werkstatt. Was sollen wir jetzt machen? Wir müssen wohl oder übel hinübergehen und auf alles gefast sein.

Unser Vater hängt nicht in seiner Werkstatt an einem Seil. Er steht an seiner Hobelbank und isst einen Apfel, während er Holzleisten sortiert. Wann es Mittagessen gebe, möchte er wissen. Er käme dann rüber in die Wohnung. Wir bitten ihn, keine Zettelnachrichten mehr zu hinterlassen, wir hätten uns tüchtig erschrocken. „Oh, ja?", sagt er, „kommt nicht wieder vor!"
Er hält sich an sein Wort, wir finden keine weiteren Zettel. Stattdessen bekommen wir einen Anruf. Papa ist mit dem Krankenwagen in die Intensivstation gebracht worden. Man hat ihn in seinem Auto gefunden, der Motor lief noch. Am Auspuffrohr hatte er einen Schlauch befestigt, den er in den Innenraum hängen ließ.

Im Krankenhaus läuft alles ab wie in einem Film. Carola und ich erhalten jeweils einen grünen Kittel und eine OP-Haube, ebenfalls grün. Wir ziehen die Sachen über und fahren mit dem Fahrstuhl hoch zur Intensivstation. Der Fahrstuhlinnenraum ist groß, bietet ausreichend Platz für zwei fahrbare Bahren. Eine Wandseite ist vom Boden bis zur Decke verspiegelt. Wir sehen uns beide im Spiegel nebeneinanderstehen, mit giftgrünen OP-Kitteln, grünen Chirurgenhauben und todernsten, sorgenvollen Gesichtern. Wir beginnen in perfekter Synchronie im gleichen Augenblick loszulachen. Unser Anblick ist irre absurd, purer Slapstick. Zum Schießen. Zwei als Chirurgen verkleidete Komiker auf dem Weg zur Intensivstation. Wir sind Akteure in einer surrealen Gaga-Szene, sie könnte von Monty Python sein.
„Wo ist Dr. Cleese?", frage ich, Carola lacht sich schlapp, versteht meine Anspielung sofort. Wir haben den gleichen Humor.
„Oh Mann, wenn uns einer so sieht! Wir sind gleich oben!", prustet sie. Das macht alles noch schlimmer, die Tränen rollen uns über die Gesichter, wir können nicht mehr aufhören, schaffen es gerade noch mit äußerster Anstrengung halbwegs gefasst auszusehen.

Ein junger Assistenzarzt kommt auf uns zu.
„Ihr Vater schläft jetzt", sagt er, „er hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Wir mussten ihm den Magen auspumpen, er hatte zusätzlich noch Schlaftabletten genommen. Aber keine Angst, davon hätte er hundert schlucken können, ohne dass es lebensbedrohlich geworden wäre."

Wir nehmen wieder den Fahrstuhl ins Erdgeschoss, Bruder und Schwester als Monty-Python-Chirurgen.
„Tja", sage ich zu Carolas Spiegelbild, „wir haben uns also für ein kurzes Arztgespräch maskiert!" Und sofort gackern wir wieder los.



Erinnerungen
1990, Oldenburg

Herr Brossmann ist ein überaus inspirierender Kunstlehrer. Ich wähle Kunst als eines meiner Prüfungsfächer. Brossmann bietet mir Herausforderungen, die ich dankbar annehme. Es entstehen mehrere Zeichnungen und Malereien, die ich als Arbeiten für die obligatortischen Leistungsnachweise einreiche, unter anderem Dreaming Girl und Man from Guadeloupe. Nebenbei, sozusagen privat, male und zeichne ich weitere Bilder: Moonhunter, die RGB- und Eye-Serien. die ersten Marylin-Arbeiten und Only Me, außerdem zahlreiche Skizzen und Entwürfe.


Die Ereluchteten (1991)


Hier und Jetzt

Nach dem Abi stand ein längerfristiger Richtungswechsel an. Lulan konnte sich nicht entscheiden. Was sollte er studieren? Kunst als Studium hatte er abgehakt, er befürchtete dadurch seine Freiheit im kreativen Ausdruck zu verlieren.

Es gab drei Themenbereiche, die ihn gleichermaßen interessierten: die Produktion von Filmen und Dokumentationen, dann die prähistoriche Archäologie und schließlich ein Biologiestudium. Es wurde die Biologie. Die Wahl fiel ihm schwer, der Gedanke sich festlegen zu müssen, widerstrebte ihm. Erst als er sich selbst versprach, mit der Biologie aufzuhören, sobald er keinen Spaß mehr an dem Fach haben würde, bewarb er sich um einen Studienplatz. Sein Versprechen diente in erster Linie seiner Beruhigung; er konnte sich nicht vorstellen, dass er es irgendwann einlösen würde.

Das erste Jahr seines Biologie-Studiums absolvierte Lulan in Münster an der Westfälischen Wilhelms-Universität, nach einem Jahr wechselte er an die Carl von Ossietzky-Uni. Es ging zurück nach Oldenburg. Münster ist ein hübsches, malerisches Städtchen, doch Lulan fühlte sich dort nicht heimisch. Das Studium war hart und streng, es wurde tüchtig ausgesiebt. Lulan hegte - möglicherweise zu Unrecht - das Vorurteil, dass die Stadt und ihre Uni zu sehr nach katholischen Kellergewölben und Burschenschaftsstammtischen rochen. Oldenburg hingegen schien ihn erwartet zu haben. „Moin-Moin!", riefen die Leute aufgeweckt, wenn er einen Laden betrat, und schnackten mit dem neuen Kunden, als würde man sich jahrzehntelang kennen. Er mochte ihre Unkompliziertheit. In Oldenburg konnte er freier atmen als in Münster. Man konnte die Küste riechen. Im Vergleich zu Münster kam es ihm vor, als läge Oldenburg in einem anderen Land, obwohl die Entfernung zwischen beiden Städten nur 160 km beträgt.

An den Wochenenden fuhr Lulan oft mit Cora nach Dangast, um dort im Kurhaus ein Stück des weithin bekannten Rhabarberkuchens zu essen. Aus ganz Norddeutschland pilgerten Liebhaber zum Rhabarberkuchenessen an den Deich.

Ungeachtet der norddeutschen Gelassenheit erwies sich das Studium in Oldenburg als eine unerbittliche Büffelei; in diesem Punkt unterschied sich die Oldenburger Uni nicht von der Wilhelms-Universität. Die Vordiplomprüfungen rückten näher und türmten sich zu einer ernstzunehmenden Hürde auf. Die Biologiestudenten hatten fünf halbstündige mündliche Prüfungen zu absolvieren. Für die Fächer Allgemeine Zoologie, Ökologie, Mikrobiologie, Physik, und Chemie wurde jeweils als Leistungsnachweis der Inhalt eines Fachlehrbuchs sowie der Stoff der Vorlesungen und Praktika abgefragt. Vier Jahre nach dem Abi mussten sich die Studierenden erneut einem rigorosen Ausleseverfahren stellen. Die Guten ins Kröpfchen, die Schlechten ins Töpfchen. 


Portrait Jörg


14.01.1994
Oldenburg

Letzte Vordiplomprüfung, Chemie (oh, merde!).

Um Gott nahe zu sein, muss man nicht sonntags in die Kirche gehen oder regelmäßig in der Heiligen Schrift lesen oder mehrmals täglich beten! Obwohl man ihm durch all diese Tätigkeiten nahe sein kann, sind sie nicht unbedingt erforderlich.

Um Gott nahe zu sein, muss man sein Herz öffnen. 


Hier und Jetzt

Nach den Vordiplomprüfungen meldete Lulan ein Auslandsjahr an der Universiteit van Amsterdam (UvA) an. Seine ausschlaggebende Motivation war, bei Cora sein zu können, doch er fand das Biologie-Programm an der UvA so ansprechend, dass er bereits nach zwei Monaten in den Niederlanden bleiben wollte, um dort seinen Abschluss zu machen.

Viele seiner Studienmodule fanden im Hörsaal des Zoologischen Museums Amsterdam (ZMA) statt. Das Museum war in einem Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert am Oosterpark untergebracht, keine 500 Meter von Coras Wohnung in der Ersten van Swindenstraat entfernt.

Der großzügig gestaltete Altbau besaß noch die ursprünglichen breiten Treppen, hohen Decken und Fensterfronten, die helles Tageslicht hereinließen. Im Erdgeschoss residierte Prof. Frederick R. Schram in einem Arbeitszimmer, das gut und gerne die doppelte Größe ihrer Wohnung hatte. Fred Schram stammte aus den USA; er war 1992 als Lehrstuhlinhaber an die UvA berufen worden und leitete seitdem die Forschungsgruppe Animal Systematics and Zoogeography.

Am ZMA fühlte sich Lulan vom ersten Tag an zu Hause. Es gab einen turnhallengroßen Saal mit Skeletten verschiedener Säugetiere. Hier standen die Gerippe von Elchen, Giraffen, Nashörnern, an der Decke hingen Walskelette. In anderen Teilen der Gebäudetrakte waren Bälge von Vögeln untergebracht, im Keller die umfangreiche Sammlung von Wal- und Robbenschädeln, es gab Dutzende von Räumen mit wirbellosen Tieren, die in Gefäßen flüssig konserviert wurden.

1994 schloss sich Lulan der Arbeitsgruppe von Fred Schram an. Bevor er mit dem Hauptstudium loslegen konnte, kam ihm etwas dazwischen. Sein Körper hatte Krebs. 

12 Mir kam etwas dazwischen
10 Die blaue Wolke und die Erweckung der Schlang...
 

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