08.06.1994
Amsterdam, 23:05 Uhr
Emils Geburtstag
Türkisener Himmel über der Stadt, hoher Junihimmel. Grad eben noch war es Winter, scheint mir, mit dunklen, kalten Nächten.
Die Zeit rauscht vorbei. Die Zeit drängelt.
Ich denke an mein Studium, ein Auslandsjahr in Amsterdam. Ich, der ich nie dazu gehören wollte, der die Hauptstraßen vermied und eigene Wege ging! Nun lebe ich in einer großen Stadt und plane quasi eine Karriere (so muss ich es ehrlicherweise wohl nennen). Bin jetzt x-fach integriert, Teil der Gesellschaft. Wie finde ich das?
Ich weiß keine Antwort auf das komplexe Chaos der Welt. Was ist die Aufgabe der Nonkonformisten mit Helfersyndrom, wenn die Masse der Mitmacher am Abgrund entlang taumelt? Ich weiß es nicht. Die Wahrheit hochhalten wie eine heraldische Fahne? Mit wehenden Bannern unbeirrt weiterlaufen, mit eiserner Entschlossenheit an selbstgewählten Idealen festhaltend?
Niemals aufgegeben?
Wofür? Wozu? Es macht ja doch keinen Unterschied! Oder?
Durch die Straßen hallt die Stimme eines betrunkenen Sängers, den ich schon oft gehört, aber noch nie gesehen habe; er singt immer den gleichen Song, eigentlich ist es kein Song, mehr ein langgezogenes Rufen, ein Klagelied. Ein Wehgesang.
20.07.1994
Amsterdam, 21:40 Uhr
In weiter Ferne, so nah, dieser magisch-schöne Film handelt von der Zeit. Und von der Liebe.
Habe ihn gerade im Kino gesehen.
„Wir sind nicht die Botschaft! Wir sind die Botschafter!
Wir sind immer bei euch, wir lieben euch, in weiter Ferne so nah!
Wer sich beeilt, hat keine Zeit.
Für den, der es eilig hat, vergeht die Zeit schnell.
Wer keine hat, verliert sie.
Für den, der in sich ruht, steht sie still.
Wer sie sich nimmt, bekommt sie.
01:20 Uhr
Draußen höre ich wieder den betrunkenen Rufer lallen, diesmal scheint er ein Liebeslied zum Besten zu geben.
„… by nature … love, make love …but look, my love…"
Ich kenne jetzt seinen Namen, weiß wie er aussieht. Mattijs ist jeden Tag betrunken; seine Kleidung ist verdreckt und seine Augen haben eine extreme Fehlstellung, wodurch er dem Schauspieler Martin Feldman ähnlichsieht. Es macht mir Angst zu sehen, wie hemmungslos der Mann Alkohol trinkt. Ich trinke selbst zu viel, Mattijs dahingegen muss das obere Maximum eines Kampftrinkers erreicht haben. Er trinkt jeden Tag, sozusagen durchgehend. Mehr ist kaum möglich.
Ich sehe ihn häufig morgens auf dem Dappermarkt, blass und erschöpft von der nächtlichen Zecherei. Manchmal reden wir kurz, ich gebe ihm etwas Tabak. Sein rechtes Auge blickt unentwegt in den Himmel, das linke sieht mich an; wenn er spricht klingen seine Sätze vorzüglich artikuliert. Ich kenne sein Schicksal nicht, doch es rührt mein Herz ihn in diesem Elend zu sehen.
Ich glaube, ich habe Angina Pectoris. Enge in der Brust, Herzschmerzen. Ich sollte jetzt ins Bett gehen!
2:00 Uhr
Ich höre immer noch Mattijs durch die nächtliche Stille lallen.
„… so far … we're so down …why are we so hard?"
Tiefer Seufzer, lange Pause, dann wieder sein Sprechgesang, sich entfernend, die Straße entlang, und wieder zurück, lauter werdend. Das Rufen einer betäubten Seele.
22.07.1994
Amsterdam
Bin bei Dr. Mattern gewesen, weil ich zum zweiten Mal nach 20 Minuten Schwimmen Herzstiche hatte, sehr stark, konnte keinen Atem mehr holen, und meine Schilddrüse wirkte geschwollen, spannte eng um meinen Hals. Ich bin aggressiv und unruhig.
Dr. Mattern meinte, das Herz sei es nicht, Herzbeschwerden habe man während einer Anstrengung, nicht danach, es könne sehr gut ein Krampf gewesen sein oder etwas mit der Lunge. Sie schien an meiner Schilddrüse interessiert zu sein und schlug vor, mein Blut untersuchen zu lassen, doch in Anbetracht meines anstehenden Versicherungswechsels von Deutschland in die Niederlande ziehe ich es vor, damit vorerst noch zu warten.
30.07. – 06.08.1994
Samstag
Eine Woche in Marrum, Ostfriesland, mit Cora, Schwesterherz Carola und Schwager Carsten. Sehr schön! Wir haben ein Ferienhaus gemietet, spielen an den Abenden gemütlich Canasta oder Scrabble. Und rauchen und trinken. Wenn das Wetter wieder schön wird, wollen wir mit dem Boot nach Ameland oder Schiermannikoog, von den herrlichen, leeren Stränden genießen.
Dienstag
Nach dem Sex habe ich Schmerzen in meinem linken Hoden.
Donnerstag
Wieder Schmerzen, die nicht abklingen.
Freitag
Ich kann in meinem linken Hoden ein Knötchen ertasten. Es ist hart.
Samstag
Wieder in Amsterdam, die Schmerzen verschwinden nicht. Ich denke, ich sollte am besten in ein Krankenhaus gehen, aber in welches? Ich bin noch bis Ende September in Deutschland versichert.
07.08.1994
Sonntag
Ich werde mit Carola und Carsten nach Krefeld fahren, um dort einen Urologen aufzusuchen.
08.08.1994
Montag, Krefeld
Dr. Stryer überweist mich direkt in ein Krankenhaus, die Sache scheint Eile zu haben. Ich klammere mich an die Möglichkeit, dass es eine Nebenhodenentzündung ist. Dr. Stryer denkt das nicht. Ich gehe mittags mit Carola in eine Pizzeria.
14:00 Uhr, Krankenhaus.
Sie sagen, ich solle mir keine Sorgen machen, es sei heilbar. Ich bin verdutzt, könnte es nicht auch eine Nebenhodenentzündung sein? Ja natürlich, sagen sie, das hoffen wir auch. Der nette, kleine Dr. Motzek untersucht mich mit Ultraschall. Sie sagen sie müssten durch die Leiste zum Hoden, um nachzusehen, was es sei. Falls es eine Entzündung sei, sei alles gut und sie würden mich dann einfach wieder zunähen. Wenn es ein Tumor sei oder sie nicht wüssten, was es sei, müssten sie meinen linken Hoden herausnehmen.
Dienstag
Operation von 8:00 bis 10:00
Aus der Narkose erwacht liege ich da und habe surrealistische Träume, den ganzen Tag lang. Carola ist bei mir. Wie schön! Wie durch einen Nebel sehe ich Dr. Motzek an mein Bett treten. Er nimmt meine Hand und sagt „Den Hoden mussten wir rausnehmen." Ich nicke. Ich weiß es schon längst.
Hier und Jetzt
Von der Diagnose Anfang August bis zur ersten Chemotherapie im September vergingen nur wenige Wochen. Lulan bekam einen Chemikalien-Cocktail, der Cis-Platin und BEP enthielt. Er fand, dass die vier Zyklen der »Chemo« die schlimmste Folter waren, die sein Körper jemals erlitten hatte. Die körperlichen Qualen waren mit keinen ihm bekannten Schmerzen oder Leiden vergleichbar. Wenn Lulan versuchte sie zu beschreiben, sprach er von der „Hölle auf Erden", von einer diffusen, extremen Unruhe „kurz vor dem Wahnsinn", die er nicht mehr aushalten könne.
Selbst Coras Besuche, die er voller Freude erwartete, konnten keine Ablenkung von der Chemo-Marter bewirken. Sie kostete Lulan zunehmend Kraft und Konzentration; ihn beherrschte der verzweifelte Drang mit dem Kopf gegen die Wand zu hämmern oder aus dem Fenster zu springen.
Die Chemikalien, die die sich schnell teilenden Tumorzellen vernichten sollen, sind hocheffizient. Leider wirken sie im Allgemeinen unspezifisch, das heißt, sie können nicht zwischen gesunden Körperzellen und Krebszellen unterscheiden, und somit werden alle sich teilenden Zellen in den Geweben und Organen abgetötet, beispielsweise Haar- und Schleimhautzellen (was den Haarausfall während einer Chemotherapie erklärt), aber auch Nerven- und Stammzellen. Es findet praktisch eine kontrollierte Vergiftung statt.
Während der Chemo erhielt Lulan mitfühlenden Beistand von allen Seiten. Man schickte ihm Karten, Bücher und kleine Geschenke, um ihm zu zeigen, dass man an ihn dachte. Die Aufmerksamkeiten rührten ihn und gaben ihm Kraft und Mut.
Die Chemo ging buchstäblich an die Substanz seines Körpers, saugte ihn leer und hinterließ eine kraft- und willenlose Hülle. Von der kleinsten Anstrengung wurde ihm übel vor Schwäche. Selbst sprechen kostete mehr Energie als ihm zur Verfügung stand. Er sprach nur noch wenig, mit leiser Stimme; nach ein paar Sätzen kam die Übelkeit. Lulan brauchte Hilfe, und er begann über alternative Heilmethoden nachzudenken. In der Regenerationspause, noch vor dem letzten Zyklus, fuhr er zum Oibibio.
Das Oibibio war 1994 ein spirituelles Zentrum in einem Neorenaissance-Gebäude, dem Mercurius Gebouw, an der Amsterdamer Prins Hendrikkade, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof. Der stattliche Bau besaß sieben Etagen, vom Souterrain bis zum Dachgeschoss. Der Unternehmer Ronald Jan Heijn, Sohn von Albert Heijn, dem Inhaber der gleichnamigen Supermarktkette, hatte Millionen in dieses Projekt investiert. Es war die Umsetzung einer Vision, und das Resultat war wahrlich respektabel. Das Haus war bis in den letzten Winkel mit großer Liebe zum Detail renoviert worden. In der Farbgestaltung der großen und kleineren Behandlungsräume herrschten Rot- und Orangetöne vor. Im Souterrain des Hauses erstreckte sich ein weitläufiger New-Age-Laden, im Erdgeschoss darüber befand sich ein Bistro-Café und auf der Dachterrasse gab es einen Sauna-Wellnessbereich. Das Herzstück der Innenarchitektur bestand aus einem großen, offenen Atrium, dessen dezente Wasserspiele über mehrere Etagen für eine angenehme, subtile Akustik sorgten. Oibibio hatte sogar einen eigenen Radiosender.
Der Motor, der Oibibio antrieb, war der therapeutische Bereich, der drei oder vier Etagen belegte. Das Angebot war an Vielfältigkeit kaum zu überbieten. Neben Reiki-Methoden enthielt das Behandlungsprogramm unter anderem klassische Homöopathie, Physiotherapie, Osteopathie, Tai-Chi-Kurse, Aura Reading, Tarot Counseling, Holistic Pulsing, Psychosynthese und Cranio-sacrale Therapien.
Lulans Wahl fiel auf Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und Licht-Heilung. Die Stundentarife der Oibibio-Therapeuten waren recht happig, was teilweise auf das Geschäftsmodell zurückzuführen war, denn die Therapeuten waren keine Angestellten des New-Age-Zentrums - sie mussten die Behandlungsräume des Hauses selbst anmieten.
Lulans Eltern und die Geschwister seiner Mutter, allesamt nicht üppig betucht, unterstützten ihn finanziell, dadurch konnte er sich die teuren Therapiestunden erlauben.
Alex Wu praktizierte im Oibibio TCM. Seine wachen Augen lasen die Zeichen von Lulans Körpers, während er dessen Pulsgelenke abtastete. Alex begutachtete die Iris der Augen, die Anatomie der Zunge, aber auch Hautfarbe, Stimme und die Gesamterscheinung des Körpers. Dann teilte er Lulan seine Befunde mit. Das Qi, die Vitalenergie, brenne im Sparflammenbereich, meinte Alex. Die Nieren arbeiteten sehr schwach und die Funktion der Schilddrüse sei gestört. Damit hatte er Lulans Vertrauen gewonnen. Er hatte Alex lediglich die Geschichte mit dem Hodenkarzinom erzählt, nichts von seiner Schilddrüsenunterfunktion und auch nicht, dass ihm seine Nieren gelegentlich Probleme bereiteten.
Alex' Behandlung stützte sich auf drei Kernkomponenten der TCM: Akupunktur, Kräutertees und Qi Gong. Er erwies sich als ein sehr erfahrener Akupunkteur; für eine Behandlung benötigte er nur wenige Nadeln. Die Wirkung war eindrucksvoll, Lulan spürte wie Kraft und Energie in seine Beine strömte. Die wahrnehmbare Energiezunahme hielt jeweils ein bis zwei Tage an.
Die Kräuter, die er von Alex bekam, waren der abenteuerlichste Teil seiner Behandlung. Alex kramte eine halbe Ewigkeit in einem alten Bauernkleiderschrank herum, um Lulan eine Mischung zusammenzustellen. Der Schrank enthielt ein unüberschaubares Sammelsurium von getrockneten Pflanzenteilen, teils in Plastiksäckchen, dazu lose Rindenstücke, Pilze in Gläsern und zu Pulver zermahlene Substanzen in Tupperdosen. Alex versicherte Lulan, dass seine Pflanzen und Pilze hochpotente Heilmittel seien, die ihm aus China zugeschickt würden.
Er erhielt acht verschiedene Zutaten, ihm unbekannte Wurzeln, Rinden und Kräuter, außerdem eine komplizierte Anleitung für die Zubereitung. Anders als die Tradition der abendländischen Heilkräutertees schien die chinesische Kräuterkultur hochkonzentrierte Sude zu bevorzugen. Lulan musste seine Substanzen in einem mit Wasser randvoll gefüllten Topf zuerst aufkochen, danach 20 Minuten lang köcheln lassen und den Sud zum Schluss durch ein Sieb abgießen. Das Gebräu war eine schlammig-braune Suppe, die möglichst heiß getrunken werden sollte. Der erdige bis sumpfig-modrige Geschmack des Suds war extrem streng und in Lulans gewohntem Sinnesspektrum nicht enthalten. Die ersten Tassen kippte er mit zugehaltener Nase in sich hinein. Nach ein paar Tagen kam er zu seinem Erstaunen auf den Geschmack. Sein »Kräutertee« enthielt etwas, das nach mehr schmeckte.
Einmal pro Woche bekam er von Alex eine Akupunkturbehandlung und bei Bedarf neue Kräuter (es gab nie die gleiche Mischung). Dienstagabends gab Alex außerdem im Oibibio Qi Gong-Unterricht. Qi Gong bedeutet sinngemäß »Mit Energie arbeiten« oder »Energie bearbeiten«. Alex nannte seine Übungen „Himalaya Qi Gong", eine von ihm entwickelte, wenig bekannte Variante, deren Reiz in der abwechslungsreichen Dynamik der Figuren liegt.
Lulan wurde sein Schüler. Ihm gefiel das ganzheitliche Konzept von Qi Gong, die Kombination von körperlichen Bewegungsmustern mit der gezielten Steuerung von Energieströmen. Alex meinte Qi Gong sei durchaus effektiver als die TCM-Behandlungen. Er empfahl, täglich 30 Minuten zu üben. Lulan folgte diesem Rat und praktiziert bis heute Qi Gong. Inzwischen hat er verschiedene Techniken dazugelernt und gibt gelegentlich selbst Unterricht.
Parallel zu den TCM-Behandlungen nahm Lulan die Unterstützung einer weiteren Therapie in Anspruch. Aus dem großen Angebot unterschiedlichster Heilmethoden wählte er das Licht. Denise de Haan arbeitete als Lichtheilerin im Oibibio.
Während der Behandlung ließ Denise ihre Hände in kreisenden Bewegungen um Lulans Körper herum wandern, vom Kopf bis zu den Füßen, entlang der Bauch- und Rückenseiten. Er saß auf einem Stuhl mit Leinwandbespannung und fühlte durch den dünnen Stoff die intensive, wohltuende Wärme, die von den Händen der Heilerin ausstrahlte.
Denise meinte, er könne einfach still sitzen bleiben und ihr Healing genießen; wenn ihm danach sei, könne er auch mit ihr reden. Lulan redete. Er plapperte drauf los, erzählte von seinem Studium, dem Leistungsstress, seinen Trinkgewohnheiten, und dass er oft verzweifelt und wütend sei. Er redete wie ein Wasserfall, Denise stellte dann und wann eine Frage, und nach ein paar Behandlungen dürfte sie einen lückenlosen Gesamteindruck von Lulan bekommen haben.
Wenn er nach Denises Lichtbehandlung zu den Tram-Haltestellen am Hauptbahnhof lief, schwebte Lulan mehr als er ging. Er war high wie nach einem Joint, jedoch ganz ohne Drogen.
So ging es ihm nach jeder Lichtbehandlung, die er von Denise erhielt. Ihre Hände reinigten seine Aurahüllen. Auf einer höheren Ebene berührte Denise ein Samenkorn, das im Verborgenen lag; es ging unbeachtet, unerkannt auf, wuchs dem Licht entgegen, bis er es nach einigen Monaten entdeckte. Jeder Mensch trägt solch ein Samenkorn in sich.
Liebe, dachte er erstaunt, Denise füllt mich bis zum Rand mit Liebe. Nach langer Zeit summte sein Körper wieder, jeder Schritt war leicht und unbeschwert, als liefe er auf Wolken.
Lulan erhielt ein weiteres Geschenk von Denise. Es war ein Satz, den sie beiläufig in ihre Bemerkungen einflocht, und der erst nach einigen Wochen zu ihm durchdrang:
Geniet maar een beetje!
Denise wiederholte alle Modulationen dieser Botschaft während ihrer Behandlungen. Ihre Sätze blieben in Lulans Gedächtnis hängen:
„Geniet maar een beetje!"
„Ga maar gewoon lekker ontspannen!"
„Je hoeft helemaal niets."
„Het is allemaal niet erg!" [1]
Im November zog er mit dem Rest seiner verbliebenen Kraft den allerletzten Chemo-Zyklus durch. Sein Körper war eine leere, tote Hülle. Bereits nach dem zweiten Zyklus stand er kurz davor, die Tortur abzubrechen. Doch es siegte die Logik der Vernunft, er hielt die Behandlung durch.
Die Ärzte an der Antonie-van-Leeuwenhoek-Klinik hielten eine vollständige Heilung für möglich. Er habe den Tumor in einem sehr frühen Stadium entdeckt. Leider sei die Chemo-Therapie nicht so erfolgreich wie erhofft verlaufen, da es noch zwei oder drei vergrößerte Lymphknoten gebe. Diese müssten unbedingt operativ entfernt werden.
Der Behandlungsplan sah vor, dass Lulan sich für ein paar Wochen von der Chemo-Therapie erholen sollte. Am 23. Dezember, einen Tag vor Weihnachten, sollte die OP stattfinden. Was die Ärzte sachlich OP nannten, kam Lulan vor wie eine Art Ausweidung. Es waren zwar nur zwei Lymphknoten vergrößert, diese lagen unglückseligerweise auf der Rückseite des Körpers oberhalb der Nieren. Da man entlang der Wirbelsäule in unmittelbarer Nähe der Stränge des Peripheren und Zentralen Nervensystems nicht operieren konnte ohne irreparable Schäden zu riskieren, würden sich die Chirurgen über die Bauchseite Zugang verschaffen müssen. Sie würden die Bauchdecke vom Schambein bis zum Hals aufschneiden, alles an Eingeweiden und Organen kurzfristig herausnehmen und auf die Seite legen, um ungehindert an den Lymphstrang zu gelangen. Sie wollten den Strang in ganzer Länge entfernen, um auszuschließen, dass nicht unentdeckte Metastasen zurückblieben.
Lulan war schockiert. Das sind zur Abwechslung mal richtig beschissene Neuigkeiten, dachte er. Die OP roch nach purem Elend. Die Entfernung einer Lymphbahn im Rumpfbereich würde ein lebenslanges Handicap mit sich bringen. Einen Teilverlust des Lymphsystems, das wichtige Aufgaben der Immunabwehr übernimmt und den Flüssigkeitstransport reguliert, kann ein Körper in dieser Größenordnung nicht mehr kompensieren. Er ist dauerhaft auf unterstützende Therapien angewiesen.
Was sollte er machen? Die Metastasen im Körper zu behalten war keine Option.[1] Genieß einfach ein bisschen! Entspann dich einfach so richtig! Du musst überhaupt nichts. Es ist alles nicht schlimm. Genieß einfach ein bisschen!
22.12.1994
Amsterdam
Wenigstens die Aussicht ist erste Sahne. Ich liege in einem Saal in der obersten Etage der Antonie-van-Leeuwenhoek-Klinik und wartete auf meine OP. Ich bin ratlos und starre auf die Flimmerkiste ohne wahrzunehmen, was da gerade läuft. Wir sind zu siebt hier im Saal, sechs alte Herren und ich.
Ob die Männer auch auf ihre OPs warten, ist mir nicht klar. Drei der Alten haben Chemos gegen Lungenkrebs hinter sich. Sie haben dünne, ausgemergelte Körper; um die paar Minuten bekommt einer von ihnen einen qualvollen Hustenanfall. Ich falle fast aus allen Wolken, als zwei der Männer auf die Dachterrasse gehen und sich Zigaretten anzünden. Nicht zu fassen! Aber vielleicht sind sie in einem Alter, in dem es sowieso nicht mehr darauf ankommt.
Ha, worauf eigentlich?
Worauf kommt es an?
Ich hatte nach meiner OP mit dem Rauchen aufgehört. Jetzt sehe ich den dünnen Greisen beim Rauchen auf der Dachterrasse zu und komme mir besser vor als sie.
Neben mir schläft ein weißhaariger Rentner, der gutmütig und gutgenährt aussieht. Er erhält eine Transfusion. Schlafend. Als der Beutel mit seinem Chemikalien-Cocktail leer tropft, beginnt die Infusionspumpe zu piepen. Der Opa wacht auf und greift ohne eine Sekunde zu zögern zum Telefonhörer. Er hält das Piepen der Pumpe für sein klingelndes Telefon und stellt sich dem vermeintlichen Anrufer mit einer sonoren, distinguierten Baritonstimme vor.
„Deventer?"
Mijnheer Deventers Telefonat währt nicht lange, nach ein paar Sekunden legt er den Hörer still zurück.
Hier und Jetzt
Als sein Bettnachbar, der schläfrige Herr Deventer, probierte mit der piependen Infusionspumpe zu telefonieren, haderte Lulan mit seinem Schicksal. Falls aus dem Röntgenfoto, das man am nächsten Morgen machen wollte, hervorgehen sollte, dass der Lymphknoten geschrumpft wäre, würde er die OP absagen. Die Rahmenbedingungen dieser Entscheidungsfindung waren extrem und setzten Lulan schwer unter Druck. Er würde nur sehr wenige Sekunden haben, um die Röntgenfotos zu begutachten und müsste intuitiv und spontan reagieren. Die Röntgenaufnahmen könnten ein uneindeutiges Bild wiedergeben, wie sollte er sich in dem Fall entscheiden? Außerdem wären die Folgen einer Fehlentscheidung wahrscheinlich desaströs.
Am 23. Dezember erhielt Lulan die letzten Instruktionen vor der OP. Er bat Dr. Gerdes, seinen behandelnden Arzt, noch einmal die kurz zuvor gemachten Röntgenfotos ansehen zu dürfen. Dr. Gerdes hing sie zögernd an die Lichtleiste und meinte, langsam Verdacht schöpfend, dass man auf den Aufnahmen nicht viel sehen könne. Der Arzt sagte noch mehr, doch Lulan hörte ihn nicht mehr. Seine Augen flippten hochkonzentriert von dem neuen Röntgenfoto zu einem etwas älteren. Gleichzeitig ratterten in seinem Gehirn mehrere für rasend schnelle Entschlüsse zuständige neuronale Parallel- und Reihenschaltungen. Es vergingen drei Sekunden. Durch eine relativistische Zeitdilatation (so beschrieb Lulan es später) wurde der gesamte Rest des Universums ausgeblendet. Dann fiel Lulans Entscheidung, glasklar und eindeutig für diesen kurzen Augenblick.
28.12.1994
Hausberge
Der Lymphknoten war kleiner geworden! Nicht viel, doch ich konnte einen Größenunterschied erkennen.
„Der Lymphknoten ist kleiner geworden!", sagte ich, „ich möchte die OP absagen!"
Dr. Gerdes war fassungslos. Er sah auf die Fotos.
„Also ich sehe keinen Unterschied!", sagte er mit gespielter Überzeugung. Wir wussten beide, dass er log. Sein Arzt-Gehirn war auf eine OP fixiert und er war nicht in der Lage, auf die Schnelle in ein anderes Programm zu wechseln. Vielleicht lag die Verkleinerung des Lymphknotens in einem nicht-signifikanten Grenzwertbereich, ein Bereich, der leichtfertige Beschlüsse nicht rechtfertigte. Oder Dr. Gerdes würde in jedem Fall eine OP empfehlen, selbst wenn sich der Lymphknoten auf seine Normalgröße verkleinert hätte.
Ich blieb bei meinem Entschluss, der ein brodelndes Emotionsgemisch in mir erzeugt hatte. Ich war aufgewühlt, voller Panik, zugleich erschöpft und erleichtert, mit einer Prise Trotz dabei.
Um wieder zur Ruhe zu kommen, bin ich über die Weihnachtstage nach Deutschland zu meinem Vater gefahren. Er lebt immer noch in Hausberge und hat, nachdem meine Mutter ihn 1989 verlassen hatte, in der Zwischenzeit seinen vierten Dienstwohnungsausbau abgeschlossen.
Hier komme ich zur Ruhe, ich kann in mich gehen. Ich sitze in Papas großem Fernsehsessel und blickte aus dem Fenster.
Was habe ich nur getan? Was, wenn die Metastasen zu wachsen beginnen und sich ausbreiteten? Tja, Alter, dann ist Schluss mit lustig, dann kann ich gleich mein Testament machen.
Als man mich aus der Antoni-van-Leeuwenhoek-Klinik entließ, gab man mir eine ausführliche und eindringliche Warnung vor den Konsequenzen meines Rückziehers mit auf den Weg. In den Worten der Ärzte klang an, was sie nicht direkt aussprachen, aber dachten. Sie waren der Meinung, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.
Ich sehe aus dem Fenster und habe Angst. Eine Scheißheidenangst. Ich bin im Panikmodus, und im Zustand der Panik geht nichts mehr. Also trank ich mich gestern durch die Schnapsvorräte meines Vaters, wenngleich ich genau wusste, dass exzessiver Alkoholkonsum nicht helfen würde, sondern ganz im Gegenteil, schadet. Mein Kopf ist jetzt noch benebelt. Ich habe Angst langsam in einer Treibsandkuhle zu versinken.
Aber es reicht jetzt mit der jämmerlichen Selbstbeweinerei!
17.01.1995
Antoni-van-Leeuwenhoek Ziekenhuis
Lymphografie. Man hatte vergessen, mich zu informieren, wie die Geschichte im Einzelnen abläuft:
5 Spritzen in jeden Fuß:
4 zwischen die Zehen (Betäubung),
4 auf dieselbe Stelle (blaues Kontrastmittel),
2 auf die Fußrücken (Betäubung für den Einschnitt, der gemacht werden muss, um ein nunmehr blau gefärbtes Lymphgefäß frei zu präparieren).
Dann 2 Stunden liegen, auf einer dieser Krankenhaustotenbahren, in einem dieser schrecklich kalten Krankenhauszimmer. Was für ein Albtraum.
2 Nähte auf jedem Fuß [1].
24.02.1995
Antoni-van-Leeuwenhoek Ziekenhuis
Kontrolluntersuchung. Man konnte nichts mehr sehen! Alles weg, alles sauber!
Weder auf den CT-Scans noch auf den Lymphografie-Fotos!
Ich bleibe gelassen, denn ich hatte mit allem gerechnet. Auch mit dem Schlimmsten! Dr. G. versucht das Ergebnis mit Ungenauigkeiten des Scanners zu erklären.
Die Metastasen sind verschwunden! Was für eine Erleichterung!
_____________________________[1] 2015 fielen mir im hellen Sonnenlicht am Bornholmer Dueodde-Strand zwei weiße Narben auf meinen Fußrücken auf. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, woher sie stammten und vermutete, dass die Narben die Spuren eines Unfalls sein mussten. War mir nicht vor Jahren eine scharfkantige Eisenplatte auf den Fuß gefallen? Aber wieso waren die Narben dann auf beiden Fußrücken? Erst durch die Rekapitulation der abgesagten OP kehrte die Erinnerung an die wahre Ursache der Narben zurück.
Hier und Jetzt
Im Februar waren auf den Röntgenfotos keine vergrößerten Metastasen mehr zu erkennen. Eine Last fiel von Lulan ab. Er war zum ersten Mal froh sich gegen eine OP entschieden zu haben. Dr. Gerdes murmelte unwirsch etwas von Spontangenesungen, die hier und da auftreten könnten. Für Lulan stand unfehlbar fest, dass es die Behandlungen von Denise de Haan und Alex Wu waren, die seine eigenen Heilkräfte mobilisiert hatten.
Wenn er Dr. Gerdes von seinen Oibibio-Therapien berichtete, verzog der Arzt die Mundwinkel, als habe er in einen schimmeligen Apfel gebissen. Für Gerdes waren alternative Therapeuten irrationale, unverantwortliche Kurpfuscher. Lulans vermeintlicher Heilerfolg war in seinen Augen bestenfalls auf einen Placebo-Effekt zurückzuführen.
Der Mediziner nahm kein Blatt vor den Mund. Statt nach Oibibio zu laufen, könne Lulan sein Geld auch gleich zum Fenster hinauswerfen. Dr. Gerdes hielt sich für einen aufgeklärten Wissenschaftler, der sich nicht durch esoterischen Firlefanz beirren ließ. Sein Urteilsvermögen beruhte auf »objektiven Fakten«.
Im Frühjahr 1995 war Lulan durch die Chemo-Therapie immer noch empfindlich geschwächt. Nichtsdestotrotz hielt er sich für stark genug, um mit seinem Studium weiterzumachen. Er hatte fast ein Jahr verloren und musste seine Studienzeiten und die BAföG-Fortzahlungen im Auge behalten. Der Tumor war ihm dazwischengekommen.
Diese Krankheit ist mir dazwischengekommen! So dachte Lulan 1995, und diese Haltung reflektiert eine gewisse Kurzsichtigkeit. Denn im Hier und Jetzt existiert nichts, das »dazwischenkommen« könnte. »Dazwischen« impliziert eine Dualität, die nicht wirklich existiert. Der Tumor war Lulans Karriereplänen nicht in die Quere gekommen, er hatte ihm vielmehr ermöglicht ein Wunder zu erfahren und den Irrweg, auf dem er sich befand, zu verlassen.
Die Berichtigung eines Irrtums findet auf der Ebene des Geistes statt. Die Auswirkung einer Ursache ist weder gut noch schlecht. Gut und schlecht, falsch und richtig sind relative Bewertungen des Geistes. Sie ändern sich von Ort zu Ort und im Laufe der Zeit. In China essen sie Hunde lautet der Titel eines dänischen Films. Was heute richtig scheint, kann morgen schon falsch sein.
07.03.1995
Amsterdam
Jetzt spricht jeder über die Wunderheilung. Alex Wu beansprucht den Heilerfolg für sich. Er hat einen Hans de Bie von den NOS-Nachrichten informiert; der sich jetzt bei mir gemeldet hat.
Für mich war es Denise de Haan. Wenn ein Wunder ein Akt der Liebe ist, das zwei oder mehr Körperpersonen zeitweilig miteinander verbindet, dann war es Denise de Haan.
Doch welcher Mensch könnte in diesem Fall die wahren Ursachen einwandfrei identifizieren und benennen?
25.03.1995
Samstag
Hausberge (Mamas Geburtstagsfeier)
Carsten und Carola kommen. Ab 15 Uhr bei Harry, Torte essen. Ich trinke wieder Alkohol, zum ersten Mal seit Weihnachten.
Montag
Bei Oma, mit Edith, Renate und Mama. Es gibt Unmengen Leckeres, alles selbstgemacht, Entenbraten, viele Torten. Abends bin ich bei Mama in der Lahderstraße. Mir wird schlecht. Ich bin leergebrannt, habe keine Energie mehr. Konnte in den letzten Tagen nicht meditieren.
30.03.1995
Amsterdam
Alex Wu merkt sofort, was los ist. Ein starker Energieabfall, er akupunktiert mich. Abends Chi Gong. Meine Zunge ist weniger belegt.
04.04.1995
Amsterdam
Heute ist wieder eine Kontrolluntersuchung. Kommt der Tumor zurück? Freitag steht eine Klausur an. Stress!!! Ich komme nicht mehr gegen die Panik an, auch nicht mithilfe der Meditationen. Habe Verspannungen, Stiche in Bauch und Unterleib, meine Chakren sind dicht.
Lichtbehandlung bei Denise. Sie nimmt mir die Angst und beruhigt mich. Stabilisierung. Sie »magnetisiert« einen kleinen Stoffpandabären für mich. Das Bärchen funktioniert! Sehr gut sogar. Als ich es am Abend auf meinen Bauch lege, setzt sofort eine wohlige Entspannung ein.
07.04.1995
Amsterdam
Klausur. Tentamen. Es ist mehr Stress, als ich dachte. Bevor ich nach Anna's Hoeve zur Uni fahre, lege ich den Pandabären auf meinen Bauch - und siehe da! Er wärmt und entspannt mich zum zweiten Mal! Nach zwei Stunden Klausur bin ich leergebrannt. Ich gehe an die frische Luft und wieder in den Saal, beantworte noch eine Frage. Müsste reichen.
26.04.1995
Amsterdam
Ferien. Ich kann es nicht fassen: eine Last ist von mir genommen, der Druck ist verschwunden. Und die Verzweiflung. Das Studium war purer Stress. Und ich habe es nicht einmal gemerkt.
Meine Seele dehnt sich aus, schwebt durch die offene Balkontür, gleitet durch die milde Abendluft der untergehenden Sonne hinterher. Das Licht ist wahrhaftig in mir. Mein Gott, ich muss weinen vor lauter Glück.
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