Alles, was Menschen voneinander trennt,
ist das Ergebnis ihrer Gedanken.
Der menschliche Geist, der den Augen des Körpers vertraut,
sieht sich als eine individuelle Person.
Er glaubt einer Sippe oder Gruppe mit ähnlichen individuellen Merkmalen anzugehören
und sich hierdurch von anderen zu unterscheiden.
So erschafft der Geist aus Unkenntnis das Ego
und ersetzt das Reale durch eine Imagination.
Das Ego ist nichts weiter als ein Gedankenstrom.
Er beurteilt andere Körperpersonen nach ihrem äußeren Erscheinungsbild.
Alle Dinge und Lebewesen werden ununterbrochen bewertet und systematisch geordnet.
Dieses ist vertraut und jenes fremd.
Das Leben wird in Objekte aufgeteilt, jedes Objekt bekommt einen Namen.
Aus Trennungsgedanken entstehen Trennungskonzepte.
Auf diese Weise verleugnet das Ego die Existenz des wahren Selbst.
Es ist vollkommen unerheblich, wie man sich kleidet oder wie man aussieht.
Es gibt nur eine Aufgabe, die im Leben jedes Menschen Bedeutung hat.
Die Überwindung der Illusion, das Erkennen des Wahren.
Dies ist der eigentliche Sinn des körperlichen Lebens.
Hier und Jetzt
Um in den Niederlanden studieren zu können, musste Lulan zunächst einen Sprachtest absolvieren. Die Anforderungen an das Sprachniveau, das getestet werden sollte, waren durchaus anspruchsvoll. Um sich darauf vorzubereiten, las er die Abenteuer des weltberühmten Reporters Kuifje und dessen Hund Bobby (in den deutschsprachigen Ausgaben bekannt als Tim und Struppi). Außerdem schlug er Cora vor, sich auf niederländisch zu unterhalten, was zu Beginn dermaßen ungewohnt war, dass es ihnen albern vorkam; sie mussten bei jedem zweiten Satz kichern.
Als Lulan die niederländische Sprache anwendbar beherrschte, erschlossen sich ihm sprachliche Subtilitäten, die ihm zuvor samt und sonders entgangen waren.
Erinnerungen
13.06.1995, Amsterdam
Die niederländischen Studenten waren weitaus mündiger als ich es aus Münster, ja selbst aus Oldenburg, gewohnt war. Der Umgangston war direkt und salopp. Manchmal konnte er auch ziemlich schnodderig sein.
In einem der ersten Seminare, an denen ich teilnahm, erklärte ein jungenhafter, graugelockter Professor die Unterschiede verschiedener Selektionsmechanismen. Er versuchte es zumindest, denn ein Student meldete sich mit einer Frage (hier ins Deutsche übersetzt):
„Ich verstehe das mit dem Selektionsfaktor nicht! Wie muss ich mir die disruptive Selektion konkret vorstellen, wo gibt es sowas in der wirklichen Natur?"
Der Prof gab eine langwierige Antwort, die nicht besonders erhellend war.
„Ich habe das jetzt immer noch nicht verstanden", meinte der Student, „man kann doch einfach mal annehmen, dass die braunen Mäuse mehr gefressen werden. Oder nicht? Gibt es dafür nicht konkrete Beispiele?"
Der Dozent machte einen weiteren Versuch. Er gab sich sichtlich Mühe, konnte aber komplexe Zusammenhänge nicht transparent erklären. Seine Erwiderung war lang und kompliziert.
„Sorry", sagte der Student. „Ich kapiere es einfach nicht!"
Jetzt warf der Professor die Flinte ins Korn: „Besser kann ich es nicht erklären!"
Worauf der Frager erwiderte: „Wenn du es nicht erklären kannst, kann ich auch zuhause bleiben und die Antwort in einem Buch nachlesen!"
Woher kommen die Niederländer? Was hat Menschen in vorchristlichen Epochen veranlasst, sich in kalten Sumpflandschaften häuslich einzurichten? Ohne Thermounterwäsche holt man sich dort sonst was weg. Sie mussten furchterregende Feinde gehabt haben, denen sie die Sümpfe vorzogen!
„De Batavieren zakten de Rijn af [1]", erläuterte mir Cora anhand einer bekannten Stilblüte aus ihrer Schulzeit.
Die westgermanischen Bataver sollen sich um 50 v. Chr. nach einer Stammesfehde mit den Chatten im Rheindelta niedergelassen haben. Ihr Ursprung liegt im Dunkeln der germanischen Wälder. Angeblich haben sie einst an der mittleren Weser gelebt; rein theoretisch könnten die Niederländer also aus Möllbergen stammen.
Die Sitten und Gebräuche »des Holländers« blieben für mich über viele Jahre ein undurchschaubares Mysterium. Mein Verstand versuchte die Besonderheiten, die Andersartigkeit der Niederländer zu ergründen. Das kleine Nachbarland im Nordwesten ähnelt Deutschland auf den ersten Blick, und mir kamen die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten schnell geläufig vor. Um so erstaunlicher war es, als ich nach und nach entdeckte, dass es zahlreiche Unterschiede gab, von denen manche subtiler Natur waren, andere hingegen das Potenzial eines Kulturschocks besaßen.
Ich konnte sie nicht deuten, die Niederländer. Selbst unkompliziert scheinende Verhaltensregeln dieses Volkes verstand ich falsch. Nehmen wir exemplarisch die Anredeformen; ich brauchte vier bis fünf Jahre bis ich ansatzweise begriffen hatte, wann man Mitmenschen duzte und wann nicht.
Im deutschen Normensystem waren die Gepflogenheiten der Anrede für jederman einleuchtend geregelt. Man wusste ohne lange nachzudenken, wann jemand zu siezen war und wann man zum Du übergehen durfte.
Wenn zwei Deutsche auf einer einsamen Insel stranden, wartet der/die Jüngere bis der/die Ältere anbietet sich zu duzen. Falls ältere Mitbürger einmal aus Sturheit oder aus Prinzip ungebührlich lange beim Sie bleiben, können die Jüngeren einem alten Brauch folgend vorschlagen, Brüderschaft miteinander zu trinken; dieses Angebot können die Älteren nicht ohne Gesichtsverlust ausschlagen. Hierdurch lassen sich schnell und einfach unpassende Situationen vermeiden, auch im beruflichen Alltag („Herr Koslowski, holen Sie mir mal die rote Rohrzange aus dem Wagen. Aber zackig!") oder wenn sich bei Loriot zwei Herren eine Badewanne teilen müssen. Erst seit der Verbreitung des Internets und der multikulturellen Durchmischung der Gesellschaft befinden sich die deutschen Anrederituale in einem Prozess sukzessiver Auflösung. („Hallo Herr Rai, wie geht es dir?", ruft meine charmante chinesische TCM-Ärztin, wenn ich ihre Praxis betrete.)
Auch in den Niederlanden gab es eine förmliche Anrede, das »u«, und das informelle Pronomen, »jij« oder »je«. Die informelle Form wurde wesentlich häufiger verwendet, was mich, den kulturfremden Ausländer, in den ersten Jahren zu der Annahme verleitete, dass man in »Holland« seine Mitmenschen nach Belieben duzen darf. Diese grobe Vereinfachung erwies sich als Vau-Eff: völlig falsch!
In den Niederlanden kann man nach einer formellen Begrüßung innerhalb weniger Minuten zum »jij« übergehen. Ohne Brüderschaft zu trinken. Wenn man als Kunde ein Geschäft betritt, lautet die Standardbegrüßung „Kann ik u helpen?". Der Verkäufer, sagen wir ein Schuhverkäufer, bleibt zunächst bei der formellen Anrede und wechselt ungefähr nach dem dritten Paar Schuhe, das man anprobiert, jählings in den informellen Modus. Entweder nach dem dritten Paar oder auch, sobald man als Kunde etwas Persönliches verlauten lässt, etwa, dass man Schuhe mit flachen Absätzen bevorzuge. Eine derartige Mitteilung reicht aus, um vom Schuhverkäufer geduzt zu werden.
Das mag soweit einfach klingen, ist es aber nicht! Denn diese Regel gilt nicht für jeden und nicht überall - und genau das stürzt den richtliniengewohnten Deutschen in Verwirrung. Wer zu welchem Zeitpunkt in den Niederlanden lieber nicht geduzt (oder gesiezt) werden sollte, wer auf keinen Fall geduzt werden darf, lässt sich nicht mehr analytisch erfassen. Diese Feinheiten unterliegen emotionalen Erwägungen, dafür braucht man Feeling. Wenn man es nicht hat, sollte man es entwickeln. Oder die Gebärdensprache erlernen.Der Ansturm deutscher Touristen, der seit den 60er Jahren stetig anwuchs, sorgte für eine delikate Komplikation der bikulturellen Beziehungen. Die Strände der Provinzen Zeeland und Holland sind vom Ruhrgebiet aus schnell zu erreichen, der Kurztrip kostet nicht viel, und seit den 80er Jahren wimmelt es an den niederländischen Nordseestränden von deutschen Touristen. Diese sind auf dem Gebiet der subtilen Kommunikation von Haus aus oft unerfahren, auch fehlt ihnen das feine Gespür für historische Empfindlichkeiten („Wo iss hier dat Foltamuseum?").
Man spricht deutsch und geht davon aus, dass man verstanden wird. Was bleibt einem auch übrig, wenn man keine Fremdsprache beherrscht? „Drei Pommes weiß und vier Pils!" heißt auf niederländisch „Drie patat en vier biertjes!"
Kaum einer kommt auf den Gedanken höflich nachzufragen, ob man deutsch sprechen könne. Doch ungeachtet aller Vorbehalte fließt in niederländischen Adern jahrhundertealtes Händlerblut. Man weiß, wovon eine gute Geschäftsgrundlage abhängt und verkneift sich hinsichtlich der touristischen Okkupationswelle kritische Anmerkungen und bleibt höflich. Jedenfalls im Regelfall, denn als ich nach meinem Sprachkurs niederländisch verstehen konnte, bekam ich mit, dass nicht jede kurze Erwiderung zuvorkommend gemeint war. Bemerkungen, die als Witz gemeint waren, klangen auf einmal nicht mehr ganz so spaßig.
„Was du nicht sagst! Davon habe ich ja gar nichts gewusst!", bemerkte ich auf einem Familientreffen gegenüber einem niederländischen Gesprächspartner.
„Ja, ja", frotzelte dieser daraufhin, „das ist typisch für euch Deutsche! Ha, ha, ha!"Hier und Jetzt
Am ZMA bekam Lulan einen eigenen Arbeitsraum, einen kleinen Nischenraum neben dem Parkeingang. Durch die großen Fenster hatte er einen Blick auf den Oosterpark, den zu genießen er niemals müde wurde. Hier saß er 1996 und arbeitete sich in die Thematik seiner Masterarbeit ein, die er zusammen mit seinem Betreuer Ronald Vonk ausgesucht hatte.
Zuvor hatte Lulan in der Säugetierabteilung des ZMA für Dr. van Bree Zahnabweichungen nordatlantischer Robben untersucht. Es war ein siebenwöchiges Studienmodul, seine erste größere, eigenständige Arbeit - endlich, nach fünf Jahren wiederkäuender Büffelei!
Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift für Säugetierkunde publiziert. Seine erste ernstzunehmende Veröffentlichung! Dafür verbrachte er mehr als die Hälfte der sieben Wochen in den Kellergewölben des ZMA und arbeitete sich systematisch durch die umfangreiche Sammlung von Robbenknochen. Lulan wusste selbst nicht, warum, aber Knochen faszinieren ihn, insbesondere Schädel. Die Robbenschädel hatten einen angenehmen aromatischen Geruch nach Meer und Harzöl.
Nach der Robben-Arbeit hatte er gehofft, an anderen Meeressäugern weiterarbeiten zu können. Leider hatte das ZMA weder Delfine noch Schweinswale im Angebot. Eine Abteilung des Museums beschäftigte sich mit der Ökologie heimischer Vögel. Die anderen Arbeitsgruppen hatten sich auf verschiedene wirbellose Tiergruppen spezialisiert, sie erforschten unter anderem Hornkieselschwämme, Insekten, Vielborstige Würmer und Krebstiere. Lulan entschied sich für die Krebstiere, nicht, weil er Crustaceen spannender fand als andere Wirbellose, sondern weil sich Fred Schrams Forschungsteam jung und dynamisch präsentierte. Schrams Masterstudenten, Doktoranden und Postdoktoranden (Postdocs) waren hochmotiviert bei der Sache, trotzdem herrschte in den Arbeitsräumen eine entspannte, heitere Atmosphäre.
Die inhaltliche Ausrichtung der Arbeitsgruppe von Prof. Schram war der phylogenetischen Systematik gewidmet. Lulan durfte – zusammen mit anderen Studenten - zum ersten Mal an »richtigen« Forschungsfragen arbeiten. Sie untersuchten die Evolution von rezenten und fossilen Gliederfüßern, den Arthropoda, und innerhalb dieser Gruppe schwerpunktmäßig die Krebstiere (Crustacea). Das fachliche Handwerkszeug, das sie erlernten, war die Rekonstruktion von Stammbäumen, die die Verwandtschaftsbeziehungen und die Evolution einer Gruppe von Lebewesen wiedergeben.
Seit den 1990er Jahren verwendet man zunehmend DNA-Daten für Stammbaumanalysen. Zu den bekanntesten Ergebnissen phylogenetischer Analysen gehört die Entdeckung des Denisova-Menschen als mögliche vierte Art der Gattung Homo, die vor 40.000 Jahren neben Neandertalern, Flores-Menschen und modernen Menschen lebten.
Durch Stammbaumanalysen konnten außerdem einige konventionelle Hypothesen der Biologie widerlegt werden. So klassifiziert man heute die Vögel als Nachkommen und enge Verwandte der Saurier oder sieht die Crustacea nicht mehr als Gruppe einer separaten Abstammungslinie, da einige Krebstiere enger mit Insekten verwandt sind als mit anderen Krebstieren.
April 1996
Amstelveen
Ronald Vonk ist in meinem Alter, Jahrgang 58. Ich habe heute den ganzen Tag mit ihm zusammen auf seinem Botter gearbeitet. Der Name der alten, einmastigen Küstenfischerboote (wörtlich übersetzt »Stumpfer") bezieht sich auf den flachen Boden, mit dem in seichten Gewässern fahren können; als Stabilitätsausgleich besitzen sie zwei große Seitenschwerter.
Ronald hat sich das Boot aus reiner Abenteuerlust angeschafft, um in den Ferien mit seiner Frau Yvonne und den drei Kindern auf den Westeinderplassen („und einmal auch auf der Nordsee") segeln zu gehen. Im hohen Kopf des Botters bietet eine gemütliche Inneneinrichtung mit offener Kombüse und mehreren Kajüten genügend Platz für die Familie.
Viele der Aufbauten sind aus massivem Eichenholz, das aber an einigen Stellen verottet ist und ersetzt werden muss. Ich hatte angeboten, hierbei zu helfen, denn mein Vater hat mich mit einer ansehnlichen Sammlung von Stechbeiteln in diversen Größen und Formen, verschiedenen Hobelarten (unter anderem eine Rauhbank sowie Sims-, Schlitz-, Putz- und Doppelhobel, alle scharf) sowie einem guten Dutzend Schraubzwingen ausgestattet.
Nachmittags kommt Ronalds ältester Sohn Milan vorbei, um uns zur Hand zu gehen. Er ist erst 10, geht aber mit großem Ernst und auch recht geschickt an die Arbeit. Als wir eine Pause machen, erzählt er mir, dass er gelernt habe, wie man ein Segelboot steuert.
Hier und Jetzt
Man hatte Lulan als Thema einer Masterarbeit angeboten, eine Familie von Krebstieren zu untersuchen, die ausschließlich in unterirdischen Gewässern vorkam. In seiner kleinen Kammer am Oosterpark versuchte er sich mit der Biologie dieser ein bis zwei Millimeter großen Tierchen anzufreunden, Lebewesen ohne Streichelfaktor. Wer um alles in der Welt interessierte sich für Grundwasser- und Sandlückenkrebse? Außerdem hatten die Winzlinge unaussprechliche Namen, die Lulan an die extraterrestrischen Völker der Star-Trek-Filme erinnerten. Bogidiellidae! Xystriogidiella! Kerguelenella! Sogar der vorläufige Titel seiner Masterarbeit klang verschraubt und weltfremd.
Cladistic analysis of Mediterranean subterranean crustaceans of the family Bogidiellidae (Amphipoda) [3]
Das Thema roch nach akademischer Resteverwertung, und Lulan registrierte Anflüge von Lustlosigkeit, noch bevor er mit der Arbeit begonnen hatte.
Als Ronald ihm überraschend eine Sammelexkursion in die Türkei in Aussicht stellte, begann die Sache ein wenig schmackhafter zu werden. In Südanatolien waren einige Jahre zuvor zwei zerfledderte Exemplare einer neuen Bogidielliden-Art in Grundgewässern unweit der südlichen Mittelmeerküste gefunden worden. Sein Auftrag würde darin bestehen weitere Exemplare zu suchen, um gegebenenfalls eine neue Spezies beschreiben zu können. Lulan begann Fachartikel über die Krebse zu lesen; analog zu den Familiennamen klangen die Artnamen wie Salsa- oder Tangoeinlagen: Bogidiella capricornea, Bogidiella calicali. Cha-Cha-Cha!
Nach ein paar Tagen hatte er dann doch Feuer gefangen und zusammen mit Ronald plante er seine Exkursion in die südliche Türkei. Da die finanziellen Zweit- und Drittmittel des ZMA nicht im Überfluss strömten, beschlossen Cora und Lulan, die Exkursion mit einem vierwöchigen Urlaub zu kombinieren. Sie luden Emil ein, sie zu begleiten. Lulans Onkel arbeitete inzwischen als Lehrer an einer Gelsenkirchener Gesamtschule mit gemischten deutsch-türkischen Klassen; er wollte die Gelegenheit nutzen die Türkei näher kennenzulernen.Im Kofferraum des Lada lagen Lulans Grundwasserpumpe, verschiedene Planktonnetze und Probenfläschchen, in ihrem Apartment hatte er ein kleines Feldlabor eingerichtet. Die Pumpe war ein schweres Ungetüm; sie bestand aus einem 120 cm langen, soliden Eisenrohr, in dessen unteres Ende zahlreiche, circa 5 mm große Löcher gebohrt worden waren. Dieses zugespitzte Rohr wurde mit einem schweren Hammer gut einen Meter in das Erdreich getrieben, wo immer man Grundwasser vermutete. Auf das obere Ende wurde eine gewöhnliche Handpumpe aus Gussmetall gesteckt, und dann galt es durch ungleichmäßige Schwengelbewegungen Grundwasser hochzupumpen und in Eimern aufzufangen. Wenn man Glück hatte, befanden sich weiße, wurmartige Tierchen im Pumpwasser. Grundwasserkrebse! Wenn man Glück hatte!
Die Pumpe samt Hammer wog schätzungsweise 12 kg. Lulan schleppte sie in einer stabilen Armeetasche mit sich herum. Auf dem Flughafen wurde er mit der Tasche zur Seite gewunken. Er hatte das erwartet, denn die Pumpenteile erinnerten auf den ersten Blick an eine Bazooka.
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[3] Kladistische Analyse von mediterranen Grundwasserkrebsen der Familie Bogidiellidae (Amphipoda). Amphipoden sind Flohkrebse, die Amphipoda repräsentieren eine Ordnung innerhalb der Höheren Krebstiere.
Erinnerungen
14.07.1996, Side
Meine Pumpe war keine ordinäre Pumpe, nein, es war eine biophreatische [4] Handpumpe. Naturwissenschaftler können der Versuchung nicht wiederstehen, ihre Untersuchungsobjekte mit gebildet klingenden Begriffen aufzuwerten. Sie latinisieren oder gräzisieren (vergriechischen) sogar die Namen ihrer Werkzeuge. Die Bezeichnung »Grundwasserpumpe« oder gar einfach nur »Pumpe« könnte Laien auf die Idee bringen, dass der damit hantierende Wissenschaftler mit einer stinknormalen Arbeit beschäftigt ist.
"Was machen Sie denn da mit Ihrer Pumpe, wenn ich fragen darf?"
„Das ist eine biophreatische Unterdruckpumpe. Damit beprobe ich die Meiofauna der interstitiellen Sedimente."
„Ach so! Ah ja. Das klingt ja hochinteressant! Und ich dachte schon, Sie pumpen hier das Grundwasser ab. Ha, ha!"
Ob Lebewesen oder Gegenstände, der Wissenschaftler etikettiert die Welt und verpasst den Dingen komplizierte Fachbegriffe, die hauptsächlich Seinesgleichen verstehen. Und wenn zwei oder mehr Objekte in einer Beziehung zueinanderstehen, wird gerne eine Regel aufgestellt, beispielsweise die Gloger'sche Färberegel:
Verwandte Tierarten oder Tiere einer Art sind in feuchtwärmeren Klimaten dunkler als Artverwandte in Gebieten mit niedrigerer Luftfeuchtigkeit.
Oder die Bergmann'sche Größenregel:
Die Größe und das Gewicht von Säugetieren und Vögeln derselben Art sind in kälteren Regionen größer als in wärmeren Gebieten.
Der Vollständigkeit halber seien auch die Allen'sche Proportionsregel genannt:
In kälteren Regionen sind Körperanhänge wie Ohren oder Beine bei warmblütigen Säugetieren kleiner als bei verwandten Tieren in wärmeren Gebieten.
… die Hesse'sche Herzgewichtregel:
Säugetiere und Vögel in kälteren Regionen besitzen ein größeres Herzgewicht und -volumen als Artgenossen in wärmeren Gegenden.
… und meine Lieblingsregel, die Rensch'sche Haarregel:
Bei Säugetieren in kälteren Regionen sind die Oberhaare länger und die Unterhaare zahlreicher als bei Artverwandten in wärmeren Zonen.
Manche dieser Regeln definieren banale Allerweltsweisheiten, so dass sich die Vermutung aufdrängt, dem Urheber sei es in erster Linie um die Verewigung seines Wirkens gegangen.
Es mögen auch sadistische Motive dahinterstecken, eine regelrechte Regelwut, um Studenten und Schüler zu quälen, die den ganzen Quark für ihre Prüfungen auswendig lernen müssen.
Denkbar wäre auch, dass sich Gloger, Bergmann und Hesse dereinst in einem Biergarten getroffen haben, um zu vorgerückter Stunde den Abend mit einem kicherigen Regelwettbewerb abzurunden.
Letztendlich ist das Entwerfen von Regeln ein kreativer Prozess, den die Verfasser als ergiebige Quelle reiner Freude wiederholt gerne genutzt haben könnten. Diesen Effekt habe ich jedenfalls beim Aufstellen der Vanrij'schen Mittelstufen selbst erfahren.
Vanrij'sche Mittelstufenregeln
[4] Wird einem pubertären Schüler erlaubt, während des Unterrichts sein Smartphone zu benutzen, möchten sofort alle sinnverwandten Schüler und Schülerinnen auch ihre Smartphones gebrauchen.
[83] Stellt sich der kleinste und schwächste männliche Schüler einer Mittelstufenklasse als Kandidat für die Klassensprecherwahl zur Verfügung, bieten sich mehr männliche Mitbewerber an, als wenn der stärkste und größte Schüler kandidiert.
An der türkischen Südküste war die Erde im Sommer 1996 knochentrocken und staubig. Mehr oder weniger schweißgebadet schleppte ich meine biophreatische Pumpe, den Vorschlaghammer sowie diverse Planktonnetze mit selbstgebastelten Auffangvorrichtungen durch die flirrende Hitze. Die meisten der potentiellen Fundstellen, die ich auf meiner Karte eingezeichnet hatte, führten kein Wasser; wo ich kleinere Flussläufe erwartet hatte, stieß ich auf leere, ausgetrocknete Sedimentbetten. Ich fragte mich, ob es in dieser Region während der Sommermonate überhaupt regnete. Wenn es hier tatsächlich Grundwasserkrebse gab, mussten sie tief im Untergrund verborgen hausen.
Die Feldarbeit mit der biophreatischen Handpumpe erregte naturgemäß Aufsehen. Wenn Menschen in der Nähe meiner Pumpaktionen waren, kamen sie neugierig näher. Ich kannte das schon, auch in Deutschland und in den Niederlanden kamen sie herbeigeschlendert, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie man sich Anglern nähert, um deren Fangergebnisse zu begutachten. Sie schauten mir höflich beim Pumpen zu, und ich konnte ihren Gesichtern entnehmen, dass sie sich keinen Reim auf meine Pumperei machen konnten.
„Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?", lautete die Standardfrage.
„Ich hole hier mit der Pumpe Proben aus dem Grundwasser. Im Grundwasser leben unter anderem kleine weiße Krebse, winzig kleine Tierchen. Und die sammel' ich ein, um sie bei uns am Institut weiter zu untersuchen."
Die Reaktionen, die ich auf meine Erklärung erhielt, waren sinngemäß rundweg gleich.
„Ach! Und dafür wird man bezahlt?" Diese lakonische Anspielung vernahm ich mehr als einmal, ebenso die kürzere Variante: „Ach, ja?"
Auch in der Türkei zog die Pumpe Neugierige an, ihre Bewertung meiner Arbeit unterschied sich indes fundamental von denen der deutschen und niederländischen Passanten. Ich hatte mir für meine Erläuterung eigens ein paar türkische Phrasen gemerkt.
„I am taking groundwater samples, taban suyu, with this pump. I am looking for small crustaceans, küçük yengeçler, kerevit, for my studies. I am from Amsterdam University."
Die türkischen Vorbeigänger waren höflich und gaben sich beeindruckt. „Oh, nice!", sagten sie, „This is good! Çok güzel! Very important! Good luck with your project! İyi şanslar!"
In unserem Apartment in Side fand ich bei der allabendlichen Auswertung alles mögliche Getier in meinen Proben, nur waren keine weißen Krebse dabei. Es war einfach zu trocken. Die Grundwasserpegel hatten sich vermutlich tief abgesenkt, zu tief, um der Tierchen habhaft zu werden. Meine Hoffnung vor dem Rückflug noch Bogidielliden zu finden, nahm mit jedem erfolglosen Exkursionstag weiter ab.
Drei Tage vor der Rückreise fuhr ich mit Cora und Emil an einen der leereren Strände, um die letzten Urlaubstage zu genießen. Während die beiden unter ihren Sonnenschirmen lagen, wanderte ich an der Küste entlang. Ich hatte die Bazooka-Pumpe mitgenommen, um spaßeshalber auch mal am Ufer des Meeres ein paar Eimer vollzupumpen. Hier gab es Kiessedimente im Überfluss; bedauerlicherweise war das Grundwasser am Strand weder süß noch brackisch, sondern salzhaltiges Meerwasser. Ich pumpte an einer Stelle mit feinem Kies, erfolglos, und begann Ausschau nach einem neuen Strandabschnitt zu halten. Und dann waren sie plötzlich da – an der Oberfläche des 11. Eimers (ich hatte mitgezählt) trieben zwei winzig kleine, schneeweiße Organismen, die sich extrem langsam krümmend bewegten. Ich hatte inzwischen genügend Sandlückenbewohner gesehen, um zu erkennen, was ich da vor mir hatte. Es waren Grundwasserkrebse, und ich war mir sicher, dass es auch Bogidielliden waren, aber das musste ich erst überprüfen. Und falls es sich um Bogidielliden handelte, waren es Exemplare einer neuen Tierart?
Es waren Bogidielliden, und es waren in der Tat 11 Exemplare einer noch unbeschriebenen Spezies. Mein Fund versetzte mich in einen Zustand gesteigerter Aufregung! Ich durfte einen taxonomischen Namen für die neue Art vergeben und taufte sie Bogidiella arista. Das Epitheton arista stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet die behaarte Ähre eines Getreidekorns; dieser Namensteil bezog sich auf die behaarten hinteren Beinchen der Krebse. Der Länge des Titels meiner Masterarbeit hatte sich durch den Fund der Bogidiella-Art verdoppelt.
Cladistic analysis of 37 Mediterranean Bogidiellidae (Amphipoda), including Bogidiella arista, new species, from Turkey
Ich stand am Fotokopierer im Foyer des ZMA, um meine Zeichnungen für die Veröffentlichung zu reproduzieren. Ein Mitarbeiter kam näher und sah mir interessiert zu. Harry ten Hove hatte bereits von meinem Exkursionserfolg gehört, in seine Augen lag ein verschmitzter0k Ausdruck.
„Wat heb je daar?", fragte Harry und deutete auf meine Zeichnungen.
„Oh, dat is een nieuwe soort grondwaterkreeft", sagte ich bestens gelaunt. „Ik ga nou een nieuwe soort beschrijven!"
Harry schwieg einen Moment und meinte dann mit leichenbitterer Miene: „Tjoh, wat zijn dat toch voor saaie beesten!" [5]
Was? Langweilig! Ich musste lachen. Harry hatte mich einen Augenblick lang aus der Fassung gebracht. Er hatte natürlich vor meiner Exkursion mitbekommen, wie wenig begeistert ich von dem Kleinkrebsprojekt war. Harry selbst arbeitete übrigens an Würmern! Wie spannend sind die denn?
Die ZMA-Mitarbeiter waren ein fröhlich-fideler Haufen. Es wurde viel gelacht am Zoologischen Museum Amsterdam. Vormittags um 10 Uhr versammelten sich alle an einem langen Tisch im Foyer zur Tee- und Kaffeepause. Zwischen 10 und 20 Personen tranken hier ihren Kaffee oder nahmen ein zweites Frühstück zu sich. Als Fremdling mit hierarchisch geprägten Denkmustern hatte ich zu Beginn einige Mühe, den Status der einzelnen Mitarbeiter in das universitäre Sozialgefüge einzuordnen. Ich arbeitete hier schließlich in der Forschungsgruppe »Tiersystematik«, und Systematiker haben beruflich bedingt die notorische Neigung, Lebewesen zu klassifizieren. Dabei machen sie auch vor Mitarbeitern nicht Halt. Die ZMA-Mitarbeiter ließen sich allerdings nicht so ohne Weiteres einordnen. Ich kannte die meisten der Studenten und Doktoranden, ich kannte einige der Professoren und dann wurde es kniffelig.
Es gab mehrere Männer im Professorenalter; zwei von ihnen trugen ungewöhnlich lange Bärte und tranken ihren Kaffee nachdenklich und schweigend; ein anderer war agiler, er hatte einen weißen Haarschopf und balancierte eine Designernickelbrille auf seiner Nase. Waren die Professoren?
Am Kopfende des langen Tisches saß (immer auf demselben Platz) ein dicker, rotgesichtiger Kerl, der Isaac hieß und dessen Physiognomie zu einem Dauergrinsen erstarrt war. Isaac trug breite, bunte Hosenträger und kam sofort mit jedem ins Gespräch. Er säbelte in ungefähr acht von zehn Frühstückspausen mit dem Taschenmesser dicke Scheiben von einer dunklen Wurst ab (vermutlich eine niederländische Blutwurstvariante); damit pflegte er seine Pausenbrote zu belegen. Die Klassifizierung dieses Mitarbeiters war ein klarer Fall, Isaac gehörte offenkundig zur Schar der angestellten Hilfskräfte.
An meinem dritten Tag am Institut sah mich Isaac - sein Taschenmesser in der einen, die Blutwurst in der anderen Hand haltend - mit einem breiten Grienen an und sagte laut und für alle anderen vernehmlich: „Ja hoor! Ik ben ook een doctor!"
Ich lächelte unsicher und nickte bestätigend. Mir fiel keine sinnvolle Antwort ein. Trotz seiner Behauptung, er sei auch ein Doktor (was er auch in den kommenden Tagen nicht nachließ zu erwähnen), war ich mir sicher, dass er kein Doktor sein konnte. Er schien mir eher nicht alle Latten im Zaun zu haben. Ich lag voll daneben, wie ich auf Nachfragen von Ronald erfuhr. Isaac Isbrücker habe - da sei er sich ganz sicher - seinen Doktortitel erlangt. Er sei sogar ein führender Experte für eine bestimmte Gruppe von Knochenfischen, ich meine es waren Panzer- und Schwielenwelse, und würde regelmäßig in Fachzeitschriften publizieren.
Ich irrte mich nicht nur in Isaacs Fall. Die beiden Bärtigen und der Weißschopf mit der Nickelbrille waren entgegen meinen Vermutungen keine Professoren, sie waren sogenannte QUADOs. Das waren Personen, „die wegen ihres großen Abstands zum Arbeitsmarkt" im Rahmen eines subventionierten Sozialprogramms als unterstützende Arbeitskräfte beschäftigt wurden. Man nannte diesen Beschäftigungstyp auch Melkert-Jobs (Melkertbanen).
Am ZMA wurde ich akzeptiert und war Teil des Teams, trotzdem blieb ich der Deutsche. Man ließ nervigerweise wenig Gelegenheiten aus an diesen Umstand zu erinnern.
Durch die träge Mittagsstille dröhnten eines schönen Tages Schläge gegen die Tür meiner Arbeitsnische, die das Gemäuer erschütterten; jemand hämmerte mit den Fäusten auf das Türblatt ein. Ich erschrak mich zu Tode. „Polizei! Aufmachen!" rief eine laute Stimme. Auf deutsch! Dann gackerndes Gelächter, ich hörte, wie zwei Personen wegrannten. Ein nett gemeinter Ulk meiner Kommilitonen. Mit solchen scherzhaften Assoziationen werden Deutsche in den Niederlanden gerne bedacht. Selbst Coras Bruder Coen schmettert die gleiche Warnung heute noch als Standardbegrüßung in unseren hallenden Hausflur, sobald ihm die Tür geöffnet wird.
„POLIZEI! AUFMACHEN!"
Ich liebe Coen, und darum kann ich über seinen durchgeknallten Humor lachen. Manchmal variiert er seine Begrüßung und ruft zur Abwechslung:
„RUHE MIT DER GITARRE!"
Er verarbeitet mithilfe dieses offensiven, eigenwilligen holländischen Humors ein traumatisches Erlebnis, das er als Sechzehnjähriger auf einem deutschen Campingplatz erlitten hatte. Ein deutscher Camper hatte im aggressiven Kasernenhofton Ruhe anbefohlen, als Coen spätabends auf seiner Gitarre herumgeklimpert hatte.
Im Januar 1997 erhielt ich meine niederländische Abschlussurkunde. Ich durfte mich jetzt Master of Science nennen. Das hatte Pep und klang allemal imposanter als »Diplombiologe«!
Ladies and Gentlemen: The Master of the Universe, including Bogidiella Arista, his Deputy from Anatolia!
Ich blieb noch ein paar Monate am Zoologische Museum Amsterdam. Man hatte mir netterweise einen Job angeboten, bis ich meine Doktorandenstelle in den USA antreten würde.[4] Zu den phreatischen Gewässern gehören unterirdische Wasserkörper wie Grundwasser oder Höhlengewässer.
[5] „Was hast du denn da?" - „Oh, das ist eine neue Art von Grundwasserkrebs. Ich werde jetzt eine neue Spezies beschreiben!" - „Junge, was sind das doch für langweilige Tiere!"
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