Das Gefühl auf der Stelle zu treten,
nicht weiter zu kommen,
ist nichts weiter als ein Ausdruck dafür,
dass entscheidende Entwicklungsschritte nicht erfolgen.
Viel Zeit kann eingespart werden,
wenn man sich der inneren Führung anvertraut.
***
Hier und Jetzt
Die Entwicklung, die sich aus seiner Masterarbeit ergab, gefiel Lulan nicht. Nicht im Geringsten. Durch die Beschreibung der neuen Bogidiella-Art ergab sich eine Zwangsläufigkeit, die er nicht beabsichtigt hatte. Die Masterarbeit legte ihn fest, sie schränkte ihn ein. Der Seifenblasentraum, als Meeresbiologe mit Buckelwalen zu tauchen, war in noch weitere Ferne gedriftet. Wenn man ein Biologiestudium abgeschlossen hat, und nicht direkt in die Arbeitslosigkeit abgleiten möchte, kann man entweder als diplomierter Biologe einen Job auf dem Arbeitsmarkt suchen, oder man wird Doktorand. Die erste Option war wenig erfolgversprechend, denn Lulans Masterarbeit wies bereits einen fachlichen Schwerpunkt aus. Er war jetzt ein Taxonom, spezialisiert auf sehr seltene, winzig kleine, weiße, augenlose Krebstierchen des Grundwassers. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Taxonom einen Job als Landkreisökologe oder Labormikrobiologe ergatterte, ging gegen Null, trotz der teuren, langjährigen und langwierigen universitären Ausbildung. Denn die breite Thematik des Studiums sollte die frischen Master- oder Diplombiologen ja gerade für alle fachlichen Disziplinen des Berufs qualifizieren.
Also machte sich Lulan die Suche nach einer Doktorandenstelle. Er musste nicht lange suchen. Sein Chef am ZMA war ihm wohlgesonnen und setzte sich für ihn ein. Fred Schram war 1997 bereits ein international renommierter Paläontologe und Crustaceologe. One of the big boys. Er unterhielt ein umfangreiches Kontaktnetzwerk in seiner Heimat, den USA, und war, was die Forschung betrifft, immer auf dem neuesten Stand.
Eines Tages kam er in Lulans Studentenzimmer, um ihm mitzuteilen, dass er eventuell eine Stelle für ihn habe. Prof. John Holsinger an der Old Dominion University in Norfolk, Virginia, habe gerade Fördergelder für ein Forschungsprojekt bewilligt bekommen. Die Bewilligung sah die Einstellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters vor.
Professor Holsingers Forschungsgebiet umfasste die Taxonomie, die Biogeografie und die Morphologie grundwasserbewohnender Organismen. Lulan kannte seinen Namen, denn er hatte mehrere von Holsingers Publikationen in seiner Masterarbeit zitiert. Holsinger gehörte zu den führenden Spezialisten für sehr seltene, winzig kleine, weiße, augenlose Amphipoden des Grundwassers. Das passte nahtlos zu Lulans Profil als Bewerber auf Holsingers freie Dorktorandenstelle. Allerdings untersuchte John Holsinger nicht die Tango-tanzenden Bogidielliden, sondern andere Amphipoden-Familien, die vornehmlich in Nordamerika verbreitet waren. Seine Veröffentlichungen deuteten außerdem auf profundes Fachwissen auf dem Gebiet der Speläologie (Höhlenforschung) und der Geomorphologie hin.
Lulan nahm per Email Kontakt mit Professor Holsinger auf. Dessen Antwort war leger und entgegenkommend. Holsinger stellte gezielte Fragen zu Lulans Bogidielliden-Arbeit. Nach drei oder vier Email-Nachrichten kamen die beiden ins Geschäft. Holsingers Angebot stand, er wollte Lulan haben.
Jetzt wurde die Sache ernst, Lulan musste sich entscheiden, vielmehr mussten sie sich zu zweit entscheiden, denn Lulan hatte nicht vor, sich ohne Cora auf einem anderen Kontinent niederzulassen.
Coras Arbeit am Amsterdamer Montessori Lyceum war ihr Traumberuf. Lulan war angesichts der Chance in den USA zu arbeiten ganz aus dem Häuschen und versuchte sich so gut es ging zurückzuhalten; er wollte Cora nicht zu einer Entscheidung drängen. Nach einigen Tagen mit langen Was-ist-wenn-Gesprächen fand auch Cora die Voraussicht, in den USA zu leben und zu arbeiten, durchweg ansprechend. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hatte beide seit ihren Kindertagen, seit Lassie, Fury und der Bezaubernden Jeannie, einen besonderen Reiz auf sie ausgeübt. Sie mussten schnell zu einer Einigung gelangen, Holsinger würde die Doktorandenstelle zeitnah besetzen wollen.
Cora sagte ja. Sie war bereit ihre eigene Wunschkarriere zugunsten Lulans Promotion zeitweise zu unterbrechen. Dafür war er ihr unendlich dankbar. Doch auch nachdem das Vorhaben entschieden war, wägten sie weiterhin pro und kontra ab, versuchten alle Konsequenzen und Optionen zu berücksichtigen. Wochenlang. Die Auswanderung barg einige Risiken. Für seine Promotion würde Lulan drei Jahre benötigen. Er schätzte die Chance, danach in den USA eine Postdoktorandenstelle zu bekommen, durchaus hoch ein.
Die beiden setzten alles auf eine Karte, lösten ihren Haushalt auf und verschifften ihr restliches Hab und Gut als Containerfracht nach Norfolk. Sie hatten vor, permanent in den USA zu bleiben.
Lulan würde zunächst allein in die USA fliegen. Cora wollte später nachkommen, wenn Lulan eine Wohnung gefunden und sich ihre finanzielle Situation geklärt hätte. Sie hatten ausgerechnet, dass das Doktorandengehalt, rund 1000 Dollar, nicht ausreichte, um zu zweit über die Runden zu kommen.
Anfang Mai 1997 flog Lulan zum zweiten Mal in seinem Körperleben über den Atlantik. Von New York ging es weiter in südlicher Richtung, nach Virginia. Der Himmel über Norfolk zeigte ein strahlend reines Blau; es war nicht eine Wolke zu sehen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn, während er mit seinem Handgepäck Richtung Old Dominion University stapfte, wo er die nächsten drei Jahre als Doktorand des berühmten Speläobiologen Prof. John R. Holsinger wissenschaftliche Forschungen betreiben wollte.
Old Dominion bedeutet „alte Herrschaft" und ist der ursprüngliche Name für Virginia, der ersten und ältesten Kolonie der englischen Krone in Nordamerika. Virginia war im 17. Jahrhundert die fünfte Dominion, neben England, Schottland, Irland und Frankreich, auf die die englischen Herrscher Anspruch erhoben. Der Name Virginia ist ausgewählt worden, um Königin Elisabeth die Erste, The Virgin Queen [1], zu ehren.
Der Campus der ODU lag in einem großflächigen Areal im nördlichen Stadtgebiet und bot eine für niederländische Verhältnisse geradezu sündhafte Weitläufigkeit. Es war eine Stadt für sich. Auf sauber versorgten Grasflächen standen vereinzelte Bäume und Baumgruppen: blühende Magnolien, Akazien, Zedern, Ahorne und große Eichen. Der Weg zum Department of Biology war wie ein Spaziergang durch eine elegante Parklandschaft; später erfuhr Lulan, dass die ODU bereits fünf Mal die Auszeichnung Tree Campus verliehen bekommen hatte.
Die Architektur des Campus war hingegen eher zweckmäßig und nüchtern. Man hätte die rechteckigen Gebäudeklötze rundheraus als hässlich bezeichnen können, aber Lulan hatte nur Augen für die Andersartigkeit dieser Hemisphäre, für das Flair des Südens. John Holsinger empfing ihn in seinem Lab [2], einem kleinen, schmalen Raum, der Lulan kaum größer vorkam als sein Studentenzimmer am ZMA.
Ist doch seltsam, dachte er, dass man in dem kleinen, überbevölkerten Reich der Niederlande großzügiger mit der Einteilung von Arbeitsplätzen verfährt als in den USA.
Holsinger war ein unterdurchschnittlich kleiner Mann mit starker Körperbehaarung und dicken Brillengläsern. Er war extrem kurzsichtig. Als er Lulans Einreisedokumente begutachtete, berührte seine Nase fast das Papier. Der kleine Professor machte einen sympathischen Eindruck auf Lulan, die beiden kamen sofort ins Gespräch.
Lulans zukünftiger Arbeitsplatz bestand aus einem Stuhl, einem PC und 50 cm Regalfläche über dem PC. Direkt neben ihm, auf Ellbogenabstand, arbeitete Li Shen aus China an seiner Dissertation.
Am nächsten Morgen fragte John, ob Lulan bei der Disputation [3] seines Doktoranden Yong Chang anwesend sein wolle. Das wollte er auf jeden Fall; in zwei bis drei Jahren würde er seine eigene Dissertation verteidigen müssen, und es konnte nicht schaden, schon mal die Nase in den Wind zu halten.
Die Disputation ist die letzte Hürde, die Doktoranden nehmen müssen, bevor sie ihre Urkunden überreicht bekommen und Doktorhüte aufsetzen dürfen. Heutzutage ist die doktorale Verteidigung ein zeremonieller Abschluss des Doktorats. Dass ein Disputant mit dem Urteil „nicht bestanden" nach Hause geschickt wird, ist nicht als Option vorgesehen, theoretisch jedoch durchaus denkbar. Die ausschlaggebenden Prüfungsleistungen, die Begutachtung der Doktorschrift und vielfach auch die letzten Fachprüfungen, werden vor der Disputation abgeschlossen. An der ODU dauerte das entscheidende, benotete Abschlussexamen erheblich länger als die Disputation.
Zu einer Disputation werden nur Doktoranden zugelassen, deren Schriften beziehungsweise Examina mit „ausreichend" oder besser bewertet worden sind. Obgleich die Verteidigung also in der Praxis ein reines Scheingefecht ist, lieben es manche Professoren, die Disputanten mit scharf formulierten Fragen noch einmal tüchtig ins Schwitzen zu bringen. Vermutlich möchten sie noch ein letztes Mal zeigen, wo der Hammer hängt.
______________________________[1] Die Jungfräuliche Königin.
[2] Umgangssprachliche Abkürzung für Labor, womit in den USA wissenschaftliche Arbeitsräume im weiteren Sinne bezeichnet weden.
[3] Eine Disputation ist die Verteidigung der Doktorarbeit, der Dissertation, gegenüber einer Gruppe von GutachterInnen bzw. ProfessorInnen, die den Promotionsausschuss bilden.
Erinnerungen
09.05.1997, ODU, Department of Biology
Anders als in Amsterdam, wo die Verteidigung der Doktorschrift noch häufig von einem Pedel zeremoniell begleitet wird, und die Professoren in ihren prächtigen Talaren auf einer Empore thronen, fand die Disputation von Yong Chang in einem nüchternen Ambiente statt. Man hatte sich in einem kleinen Seminarnebenraum versammelt. Die Anwesenden saßen eng aneinander gedrängt um einen Tisch herum.
John begrüßte die Ausschussmitglieder und teilte mit, dass sich zwei der Professoren entschuldigen ließen, da sie anderweitig dringende Angelegenheit wahrzunehmen hätten.
Upps, gleich zwei Profs sind nicht erschienen? Die Sache gab mir zu denken. Als Yong Chang begann, seine Doktorarbeit mittels PowerPoint-Folien zu präsentieren, verstand ich, warum die beiden Ausschussmitglieder ihre Teilnahme abgesagt haben könnten. Yong Chang war kaum zu verstehen, seine Englischkenntnisse waren allenfalls rudimentär. Er sprach in Halbsätzen, die er jeweils einmal wortwörtlich wiederholte, dabei begleitete er seine Erläuterungen mit heftig nickenden Kopfbewegungen, als wolle er so die Gültigkeit seiner Thesen untermauern. Womöglich sagte er der Deutlichkeit halber alles zweimal. Ich hörte dem Chinesen konzentriert zu, verstand aber offen gestanden dennoch nur die Hälfte des Vortrags.
Schließlich kamen die Fragen der Ausschussmitglieder. Yong Chang geriet tüchtig ins Schwimmen, seine Antworten flatterten kreuz und quer an den Fragezielen vorbei. Er begann mir leid zu tun. Den Mitgliedern der Prüfungskommission vermutlich auch, denn ihre Fragen wurden leichter.
„Could you please define the taxon »Amphipoda« for us?", fragte ein kahlköpfiger Professor mittleren Alters.
„What? What iese the taxon Amphipoda?", antwortete Yong Chang mit einer Gegenfrage.
„Yeah! Tell us what amphipods are. How can we recognize amphipods?"
„Recognize amphipods? Iese crustaceans, amphipods iese crustaceans!"
„Yes, but what kind of crustacean? Can you give us a definition or a diagnosis?"
Yong Chang konnte nicht sagen, was Amphipoden sind! Er konnte die Krebsgruppe, die er vier Jahre lang untersucht hatte, nicht definieren! Ich musste schlucken. Doch damit nicht genug! Als Nächstes geschah etwas Unerhörtes, das sogar den Rahmen einer ritualisierten Disputation sprengte:
John Holsinger erhob sich, um anstelle des schwitzenden Yong Chang die Fragen des Prüfungsausschusses zu beantworten. Er griff seinem leidenden Doktoranden unter die Arme. Ich saß regungslos auf meinem Stuhl, nach außen hin gleichmütig, innerlich aber entsetzt und irritiert. Ich war mir ganz sicher, dass Yong Chang das Unvorstellbare geschafft hatte - nämlich seine Disputation in den Sand zu setzen. Der Chinese würde durchfallen müssen, hatte verkaspert, was eigentlich eine zeremonielle Ehrenrunde sein sollte. Tjunge! Das war ja ein interessanter Auftakt im Land der wissenschaftlichen Spitzenforschung.
Am nächsten Morgen trat mir John freudestrahlend entgegen.
„That defense was great, wasn't it?", meinte er fröhlich. „How did you like it?"
Ich war zu baff, um John meine wahren Gedanken mitzuteilen. Was ich am Tag zuvor miterlebt hatte, lag meines Erachtens jenseits der tolerierbaren Regularien einer Disputation.
„Yes! Great! Great defense!", murmelte ich und stellte eine Frage über das heutige Wetter, um wieder in tieferes Fahrwasser zu gelangen.
Die ersten Studenten, die ich an der ODU kennenlernte, waren keine Amerikaner. Sie kamen aus aller Herren Länder, ein bunter Haufen fröhlicher Doktoranden und Ingenieure. Beyhan aus der Türkei, Rohit aus Indien, Jayha aus Sri Lanka, Emir aus Bosnien, Eric aus Berlin und Bob, als einziger Einheimischer, der sich mit Eric ein Apartment teilte. Eric studierte Aerospace Engineering; er war der amtierende Präsident der International Student Association und organisierte zusammen mit einigen anderen die Aktivitäten für die Internationals. Aus dieser Studentengruppe wurde im Laufe des Semesters ein Freundeskreis, wir gingen gemeinsam ins Naro Expanded Cinema auf der Colley Avenue oder genossen unser Dinner in der angenehmen Abendkühle im No Frills.
02.11.1997
Norfolk
Als Cora und ich Eric zum ersten Mal in seinem Apartment besuchten, öffnete Bob uns die Tür.
„Zeafroid!", meinte Bob und streckte mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. Ich blätterte in Lichtgeschwindigkeit durch meine virtuelle Vokabelliste, ich konnte Bobs Wort nicht schlüssig einordnen. Darum schwieg ihn lächelnd an, bis Eric mir dezent zuraunte, Bob habe mich gerade auf Deutsch begrüßt. ‚Sehr erfreut' habe Bob gesagt, ob ich es nicht verstanden hätte? Bob habe lange geübt, bis es ihm leidlich akzeptabel über die Lippen gegangen sei.
Die himmelblauen Sonnentage in Norfolk strahlten zu allen Jahreszeiten. Ich war voller Elan, alles war aufregend anders, und ich genoss jeden neuen Tag in im »Land der Tapferen und Freien«. Doch es gab auch einige Entwicklungen, die weniger rosig verliefen. Noch von Amsterdam aus hatte ich die Einzelheiten meiner Doktorandenstelle mit John Holsinger ausgehandelt. Wir besprachen unter anderem meine Gehaltsfrage; es würde genau 1000 Dollar geben, das war das übliche Gehalt für Doktoranden und dieser Betrag war auch in seinem PEET Grant [4] festgelegt. Daran ließ sich nichts ändern und damit war ich auch vollauf zufrieden. Es ging vielmehr um die Frage der Lebenshaltungskosten für zwei Personen, 1000 Bucks reichten gerade für das Nötigste. John sah die Sache unproblematisch; er habe Beziehungen und für Cora einen Job zu finden sei kinderleicht („a piece of cake"), es gäbe überall jede Menge Jobs.
Cora kam am 26. Juni in Norfolk an. Was für ein Freudentag! Das strahlend schöne Sommerwetter hatte sich inzwischen allerdings in eine Hitzewelle verwandelt - 43 Grad im Schatten. Cora staunte nicht schlecht. Ich hatte ein kleines Apartment direkt am Campus mit unserem Amsterdamer Resthaushalt eingerichtet. Außerdem hatte ich für ein paar hundert Dollar einen uralten grauen Dodge mit durchgehender Vordersitzbank erworben. Der Wagen verlor Öl, ansonsten funktionierte er zuverlässig. Wir kreuzten mit dem Dodge durch Norfolk und Hampton Roads und besuchten alle möglichen Sehenswürdigkeiten. Am Abend fuhren nach Virginia Beach und liefen die Promenaden und Strände entlang. Zum krönenden Abschluss des Tages gab es ein Candlelight Dinner in einem kleinen Restaurant direkt am Strand.
Leider hatte John noch keinen Job für Cora gefunden. Wir versuchten höflich zu bleiben und ihn nicht unter Druck zu setzen, er musste doch wissen, dass wir mit meinem Gehalt nicht auskamen. Erst viel später verstanden wir, dass die europäische Tugend der bescheidenen Zurückhaltung in den USA meistens fehl am Platz ist.
Nach zwei weiteren Wochen hatte John noch immer keine Stelle für Cora gefunden, es tat sich nichts. Erschwerend hinzu kam, dass die Beantragung ihrer Arbeitsgenehmigung stagnierte; mal fehlte ein Formular, mal ein beglaubigtes Zeugnis aus den Niederlanden. Der Antrag für Coras H-1B-Visum kam nicht von der Stelle, die bürokratischen US-Mühlen mahlten träge.
An einem Montagmorgen teilte ich John mit, dass ich mir ab sofort einen zweiten Job suchen müsse, da das Geld nicht mehr reiche. Dieser Vorstoß zeigte sofort Wirkung, John stand vor mir und legte den Kopf schief, seine Augen blinzelten mich hinter den dicken Gläsern seiner Brille ein paar Sekunden lang an. Das machte er jedes Mal, wenn er kurz aus einem seiner Monologe erwachte, um eine Situation in sich aufzunehmen. Es schien als würde er den Augenblick einscannen. „Alright!", sagte er nach einer Weile, „Don't worry! We will find a job for her. Let me make some phone calls!"
Holsinger hing ab jetzt täglich am Telefon, um sein die zahlreichen Kontakte seines Adressbuchs nach Jobmöglichkeiten abzuklappern. Das ging freilich nicht im Galopp, man hatte lange nichts voneinander gehört. John war eine unglaubliche Quatschtüte, der mich als gestandenes Plappermaul locker in den Schatten stellte. Er konnte ohne Pause durchschnattern und war nie um ein Thema verlegen.
„Hi! This is John Holsinger speaking! How are you doing? … Yeah, fine! Just fine! How is Bill doing over there? Is he still going on field trips with his ecology class?"
Die kürzeren Anrufe dauerten durchschnittlich 45 Minuten.
Nach ein paar Wochen kam allmählich Bewegung in die Sache. Mittlerweile wusste das halbe Biologie-Department, dass dieses reizende Ehepaar aus Europa am Hungertuch nagte. Die Menschen waren rührend um uns bemüht. Nur einen Job für Cora hatte niemand im Angebot. Wenigstens besorgte John mir sehr gut bezahlte Kurzzeitjobs. Zum Beispiel bei einer Firma in Washington D.C., die händeringend Übersetzer suchte. Italienisch, Schwedisch, Polnisch, Deutsch – die üblichen Sprachen, die man in internationalen Gebrauchsanleitungen findet. Wie unglaublich schnell und effizient sich Dinge regeln lassen, wenn Geld keine Rolle spielt! Man hatte bereits einen Flug für mich gebucht, auch ein Hotel („Would the Marriott be fine with you?"), und am nächsten Tag saß ich in einer Turbopropmaschine nach Washington.
Die Firma stellte spezielle Scanner her, raumgroße Maschinen, die in Krankenhäusern, in Architekturbüros, an geologischen Instituten und dergleichen zum Einsatz kamen. Wir waren sechs Übersetzer, die Firma hatte Europäer aus verschiedenen Ländern einfliegen lassen, allesamt Doktoranden an US-Universitäten. Unsere Aufgabe bestand darin, an großformatigen PC-Monitoren über eine Eingabemaske die englische Bedienungsanleitung der Scannersoftware in unsere Muttersprache zu übersetzen.
„There is a coffee machine down the aisle. You better get going now, because we need to complete the translations by tomorrow night."
Okay! Yes, Sir! Die Sache war also supereilig. Und längst nicht so einfach wie ich angenommen hatte! Ich starrte auf den Bildschirm und begann zu schwitzen. Sie hatten uns zwar mit Wörterbüchern versorgt, aber wie lautete die korrekte deutsche Bezeichnung für Scroll Bar? Das stand 1997 in keinem Standardwörterbuch. Schieberegler? Ich wusste es nicht, meine gesamten, bei aller Bescheidenheit ganz passablen PC-Kenntnisse basierten auf einer englischsprachigen Terminologie. Wie hießen Option Buttons auf Deutsch? Check Boxes? Menu Items? Drop Down Menus? Was ich dann tat, ist mir heute noch außerordentlich unangenehm, denn es verstieß gegen sämtliche meiner Ordnungs- und Präzisionsprinzipien. Ich übersetzte die englischen Fachbezeichnungen in deutsche Begriffe, die ich mir ausdachte! Ich tat dies nach bestem Wissen und Gewissen, trotzdem las sich das Ergebnis meiner Sprachbastelei wie Kauderwelsch.
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Jetzt verstand ich, wie die bizarren Texte der Bedienungsanleitungen asiatischer Elektroartikel zustande kamen.
Das Arbeitszimmer von Professor Rose lag im gleichen Flur wie Johns Lab. Rose war ein liebenswerter Mann um die sechzig; wenn er mit milder, leiser Stimme zu mir sprach, ergriff mich jedesmal eine tiefenentspannte Gelassenheit. Bob Rose gehörte einer der zahlreichen Kirchen an, die es überall in den USA gab. Ich weiß nicht mehr, welche es war, die Ghent United Methodist Church, die Trinity Presbyterian Church oder die Emmanuel Episcopal Church. Jedenfalls saßen Mitglieder seiner Kirche im Vorstand der bekanntesten Norfolker Musikschule, der Academy of Music an der Colonial Avenue. Man habe dort eine bezahlte Nebentätigkeit für Cora, erzählte Dr. Rose, sogar ein günstiges Apartment sei gerade frei geworden. Wir sollten einfach mal dort vorbeischauen, man würde uns erwarten.
Die Räumlichkeiten der Academy of Music belegten die ersten beiden Etagen eines imposanten viktorianischen Hauses im historischen Stadtbezirk Ghent. Das Haus, dem große Bäume Schatten spendeten, war eine architektonische Schönheit. Nachdem wir uns kennengelernt hatten, machte uns der Direktor Steve Kolb ein Angebot, dessen Großzügigkeit uns überraschte. Er bot uns an, drei ungenutzte Räume im Dachgeschoss des Hauses als Apartment einzurichten. Er verlangte keine Miete, denn das Apartment war zum Treppenhaus hin offen, es besaß keine eigene Eingangstür. Als Gegenleistung sollten wir abends eine Runde um das Grundstück nebst angrenzender Kirche drehen und nach dem Rechten sehen.
„Just have a walk around the perimeter and make sure everything is in good order."
Wir nahmen das Angebot erleichtert und hocherfreut an; der Wegfall der monatlichen Mietzahlungen entlastete unser knappes Budget, so dass mein Stipendium für uns beide knapp ausreichte. Für eine komfortablere finanzielle Basis suchten wir weiter nach einer Arbeit für Cora.
Der Chef einer kleinen Dienstleistungsfirma am Military Highway hatte auf Coras Email-Bewerbung reagiert. Er suchte eine Übersetzerin und lud uns beide zu einem Kennenlerngespräch ein; er wünschte sich ausdrücklich, dass auch ich dabei anwesend sei. Wir nahmen in gespannter Erwartung vor seinem Schreibtisch Platz. Der Chef stellte uns zunächst einige harmlose Fragen, um dann mit salopper Dreistigkeit in unsere persönliche Sphäre vorzudringen. Er wollte wissen, wie lange wir verheiratet seien, wie wir in Europa unser Leben verbracht hätten, warum wir in die USA gekommen seien und was genau ich an der ODU denn eigentlich erforschte. Es folgte eine längere Ansprache, in der er erläuterte, warum man heutzutage vorsichtig sein müsse, wenn man neue Mitarbeiter beschäftigen wolle. Man könne Menschen, die man nicht kenne, nicht ohne Weiteres blindlings vertrauen, das sei töricht, obwohl er sehen könne, dass wir anständig seien. Zum Ende seiner Ausführungen stellte er eine Frage, die wir im Traum nicht erwartet hätten. Ob wir einverstanden seien, wenn er zusammen mit uns und seinen Mitarbeitern ein Gebet spräche.
Hilfe, dachte ich, was kommt jetzt? Ich will das nicht, ein gemeinsames Gebet! Doch ich äußerte keine Einwände, das Angebot abzulehnen war keine Option.
Es kam dann ein Mitarbeiter zum Gebet. Wir standen zu dritt etwas steif in einem Halbkreis um den Chef herum; der schloss seine Augen und bat den Herrn um seinen Segen für uns und für unseren weiteren Weg. Das Gebet zog sich kosmologisch in die Länge, geschlagene fünf Minuten. Mir fällt beim besten Willen nicht mehr ein, was der Mann im Einzelnen gesagt haben mochte. Ich war zu sehr von der Befremdlichkeit der ungewohnten Situation abgelenkt. Wir haben nach dieser Begegnung nichts mehr von dem Firmenchef vernommen, die Bewerbung verebbte in Stillschweigen. Irgendetwas an mir oder an Cora (oder an uns beiden) muss den Mann misstrauisch gestimmt haben.
Im Herbst wurde Cora eine Stelle als Zweitlehrkraft an der Ghent Montessori School angeboten. Steve Kolb hatte ein gutes Wort für sie eingelegt. Das inoffizielle soziale Netzwerk der amerikanischen Mittelschicht hatte sich einmal mehr als zuverlässig erwiesen. Ich stellte mir vor, dass die Ursprünge der bereitwilligen Nachbarschaftshilfe in die Epoche der ersten Siedler zurückreichten, als man in harten Zeiten aufeinander angewiesen war.
Die finanzielle Durststrecke war mit Coras neuem Job für uns vorüber. Wir mieteten ein eigenes Apartment in der Colonial Avenue, wenige hundert Meter von der Musikakademie entfernt. Das Apartment war bescheiden, aber wir hatten nun immerhin ein großes Arbeitszimmer mit einem zusätzlichen Bett für Gäste.
Nach den verpflichteten, mehrstündigen Aufnahmeprüfungen, den Diagnostic Exams, konnte ich endlich mit meiner Arbeit loslegen. John hatte eine beachtliche Sammlung von neuen Grundwasserkrebs-Arten aus Nord- und Südamerika, die ich nun für die taxonomischen Erstbeschreibungen vorbereiten durfte.
Professor John Holsinger vermittelte mir die Besonderheiten der Taxonomie, die ich von ihm erlernte wie ein traditionelles Handwerk. John war ein Vollbluttaxonom, ein Morphologe aus echtem Schrot und Korn. Gute Taxonomie gründet sich auf Detailgenauigkeit und Präzision sowie auf formale und inhaltliche Konsistenz. Die Arbeit lag mir. Ich war in meinem Element, wenn ich die Objekte meiner Umwelt systematisch ordnen konnte. Ich bin sogar bereit einzugestehen, dass ich im Kompetenzbereich Ordnen und Sichern einen Spleen entwickelt habe. John Holsingers Penibilität übertraf meine Ordnungsliebe locker um mehrere Einheiten. Von der Anordnung der Stifte auf seinem Schreibtisch bis hin zur Reihenfolge der Formalien in taxonomischen Beschreibungen musste alles exakt genauso sein, wie er es gewohnt war. John Holsinger litt unter einem zwanghaften Ordnungswahn.
Als ich eines frühen Morgens vor ihm in unserem Arbeitsraum eintraf, borgte ich mir einen der Bleistifte, die auf seinem Schreibtisch aufgereiht lagen. Ich kritzelte mir eine kurze Notiz in meinen Taschenkalender und legte den Bleistift wieder zurück zu den anderen (jeder einzelne war perfekt angespitzt). John kam ein wenig später hereingeschneit, mit beschlagener Brille und dem viel zu großen, schnittigen Fahrradhelm noch auf dem Kopf. Er lief zu seinem Schreibtisch und schien zu erstarren.
„What happened to my pencils?", rief er, und seine Stimme klang, als wäre er Opfer eines Meteoriteneinschlags. Ich hatte den Bleistift nicht so zurückgelegt, wie er hätte liegen müssen. Erst als ich ihm beichtete, ich hätte den Bleistift für fünf Sekunden ausgeliehen, beruhigte sich John langsam wieder.
Man konnte mit John Holsinger über Hinz und Kunz plaudern, ohne dass es langweilig wurde. Gleichwohl ging jede dieser anregenden Konversationen einem unentrinnbaren Mechanismus folgend in einen Vortrag über. Wie die meisten Amerikaner liebte John Anekdoten, und sein Vorrat an Geschichten konnte sich sehen lassen. Es gab einige Platten, die er jeden zweiten oder dritten Tag auflegte. Er wiederholte seine Stories wortwörtlich, unverändert, und ich kannte nach einem Jahr sein gesamtes Repertoire, einschließlich der Plotwendungen. In der Rangfolge seiner Lieblingsgeschichten stand obenan (1) seine Teilnahme an einer internationalen Fachtagung für Grundwasserökologen in Schlitz, 1975, (2) eine legendäre Sammelexkursion auf Haiti, an der unter anderem der von John hochverehrte Lazare Botosaneanu teilgenommen hatte, (3) die Beschreibungen der Höhle bei Pennington Gap in Tennessee, in der er seit 26 Jahren zu Thanksgiving herumkraxelte, (4) die Biogeografie und die Anatomie von Grundwasseramphipoden der Familien Hadziidae und Crangonyctidae sowie (5) die geologischen Besonderheiten der weltweit bekanntesten Karstgebiete und den darin gelegenen Karsthöhlen.
Die Art und Weise, wie John seine Geschichten erzählte, glich einem genüsslichen Ritual. Oder einem Klischee, denn ich stellte mir vor, wie er sich abends mit einem Glas schottischen Whisky ans Kaminfeuer setzte, um nonchalant von den Gefahren einer Höhlenexpedition zu berichten. John brauchte keinen Whisky, um sich zu entspannen. Er lehnte sich an das Regal mit seiner Amphipoden-Kollektion, legte seinen Kopf ein wenig schief - und begann mich auszufragen!
Das Ausfragen war die Einleitung, die er brauchte, um seine Erzählung aufbauen zu können. Üblicherweise wollte er von mir wissen, wie es um Botosaneanu in Amsterdam bestellt war.
„Now, where does Botosaneanu have his office at the museum? Does he still have his own office? I heard that they gave him a small room at the attic? Do you think that he can keep his office there? Now, is it true that the Dutch call him Mr. Boto? You know the Dutch can be pretty blunt sometimes. Dr. Botosaneanu comes from Romania, did you know that? He is a highly respected scientist in his country! They are holding him in high esteem over there!"
Meine Antworten auf Johns wiederholte Erkundigungen nach Lazare Botosaneanu waren kurz und hätten auf eine Briefmarke gepasst. Selbstverständlich wusste ich, wer Dr. Botosaneanu war. Er war wie John ein namhafter Speläologe und Zoologe, ein Naturalist der alten Schule. Ich hatte ihn einmal kurz persönlich getroffen.
In der Woche bevor ich in die USA flog, hatte ich Lazare Botosaneanu besucht, um ihm von meiner Doktorandenstelle bei seinem alten Freund, John Holsinger, zu berichten. Der zerbrechlich wirkende, leicht gebückt gehende Wissenschaftler arbeitete im Gebäude der Entomologen, rund 500 Meter vom Oosterpark entfernt. Sein Arbeitszimmer im Haus der Insektenforscher war hell und weiträumig, gut achtmal größer als Johns Lab, das wir uns zu dritt teilen mussten.
Mijnheer Boto, wie er in unehrbietig von einigen niederländischen Kollegen genannt wurde, empfing mich mit ausgestreckten Armen. Lazare war aufrichtig erfreut Besuch zu erhalten. Er erkundigte sich nach meinem bisherigen Werdegang und gab mir zum Abschied seine Empfehlungen für Professor Holsinger mit auf den Weg. Der höfliche, feinsinnige Rumäne wirkte vereinsamt inmitten der geselligen holländischen Insektenspezialisten, die es mochten, wenn es derb und unflätig zuging und manch ein Scherz nicht mehr stubenrein war.
John wurde meiner Schilderungen auch nach der zwanzigsten Wiederholung nicht überdrüssig. Wie ein kleines Kind das gleiche Märchen noch einmal hören möchte, verlangte es ihn, alle Nachrichten, die Botosaneanu betrafen, wieder und wieder aufs Neue zu vernehmen. Wenn er mit dem Ausfragen fertig war und ich meinen Bericht abgespult hatte, legte John anschließend mit seiner Erzählung los. Er leitete jede seiner Anekdoten wiederum mit einer Frage ein.
„Have I told you how I first met Botosaneanu?", pflegte er zu fragen, als wollte er sich vergewissern, ob er diese Geschichte nicht bereits erzählt hatte. In Wahrheit waren seine Eröffnungsfragen rein rhetorische Höflichkeitsfloskeln, denn eine Antwort war praktisch irrelevant. Selbst, wenn ich bestätigte, dass ich diese Geschichte schon kannte, begann John mit der wortgleichen, detailreichen Schilderung der Abenteuer, die er während der berühmten Feldexkursion auf Haiti mitgemacht hatte.
Fest steht, dass alle Varianten seiner Erzählungen mit der Have I told you-Frage begannen. Ich habe seine Anekdoten hunderte Male gehört, fair geschätzt. Interessanterweise ließ sich die Häufigkeit näherungsweise anhand einer einfachen Formel ermitteln. John gab jeden zweiten Tag eine seiner Stories zum Besten. Die Anzahl meiner Gesamtarbeitstage in Johns Lab geteilt durch 2 ergab nach einem Jahr als Ergebnis 124. Demnach hatte ich diese Einleitungsfrage rund 124-mal gehört.
An anderen Tagen zählte John langwierig alle Teilnehmer der sagenumwobenen Grundwassertagung in Schlitz auf; es müssen zwischen 40 und 60 Wissenschaftler an der Konferenz teilgenommen haben, die Aufzählung ihrer Namen zog sich dementsprechend in die Länge.
Wenn John mit einem seiner Anekdotenzyklen durch war, verfielen wir nicht etwa in die Stille konzentrierter Produktivität. Stattdessen rezitierte Professor Holsinger beliebte Highlights aus seinen Vorlesungen. Oder er beschrieb noch einmal in aller Ausführlichkeit die verschiedenen Höhlen in und um Pennington Gap, das war sein Dauerbrenner.
Was die wissenschaftliche Arbeit betraf, waren wir beide mit feurigem Eifer bei der Sache. Es galt die biogeografischen Rätsel verschiedener Gruppen von Grundwasseramphipoden zu entschlüsseln. Wann (und wie) waren die einzelnen Gruppen in kontinentale Grundgewässer gelangt, weitab von den Küsten früherer Meere, aus denen sie ursprünglich stammen mussten? Ich fand diese Frage spannend und konnte mit John stundenlang darüber diskutieren.
Allerdings fiel mir auf, dass jede Unterhaltung mit ihm in einem Vortrag seiner Lieblingsanekdoten endete. Anfangs hörte ich dem Professor noch interessiert zu, nach einem Monat jedoch nur noch aus reiner Höflichkeit, denn ich begann mir Sorgen zu machen. Die endlose Quatscherei hielt mich von der Arbeit ab. Ich konnte mein selbst gestecktes Pensum nicht einhalten. Johns konstanter Redefluss machte mich zunehmend nervös. Sobald er zu einer seiner Erzählungen anhob, breitete sich in mir eine kribbelige Unruhe aus. So konnte es nicht weitergehen, es musste eine Lösung her.
Die Lösung präsentierte sich in Form eines winzigen Doktorandenzimmers auf der dritten Etage, wo acht dieser identischen Arbeitszellen über einen schmalen Gang vom Hauptflur aus erreichbar waren. Die Räume besaßen keine Fenster, sie waren quadratisch, annähernd kubusförmig, und maßen zwei mal zwei Meter, die Deckenhöhe lag bei zwei Meter zehn.
In Johns Cube befand sich ein Arbeitstisch mit Stuhl, ein leeres Regal und – das Glück war mir hold – ein Computer. Mehr Mobiliar konnte der Kubus nicht aufnehmen.
Um Johns Gesprächigkeit zu entkommen, wechselte ich unter einem Vorwand in den Kubus. Eigentlich war es gar kein Vorwand, ich hatte fürwahr gute Gründe für den Raumwechsel. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass ich für die Periode der Artbeschreibungen eine erhebliche Anzahl von empfindlichen Objektträgern mit Glyzerinpräparaten zur Hand haben müsste; außerdem würden zahlreiche A3-Blätter mit Zeichnungen der Mundwerkzeuge und der Gliederbeinchen anfallen. Im Cube könnten diese Utensilien sicher abgelegt werden; niemand würde versehentlich seinen Kaffee darüber verschütten oder sie verlegen. Sicherheitsargumente zogen bei John jederzeit, er fand meinen Vorschlag sehr vernünftig.
Also verlegte ich meine Mikroskopie-Arbeiten in die fensterlose Zelle. Man schaut beim Mikroskopieren ohnedies in die Röhre. Der Aufenthalt in diesem Kämmerlein war gewöhnungsbedürftig, eine respektable Herausforderung für Klaustrophobiker.
Die Arbeit ging wie erhofft gut voran, ich fertigte pro Tag drei bis vier Bleistiftzeichnungen der sezierten Amphipoden an. Die Kaffeepausen und den Lunch Break verbrachte ich mit John und Li Shen. Ich begann langsam aber sicher Fortschritte zu machen.
Allerdings hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Drei Tage nach meinem Umzug hörte ich ein leises Klopfen, das ich nicht lokalisieren konnte. Da war es wieder, dieses Mal lauter! Ich öffnete meine Zellentür und blickte in den schmalen Gang. Niemand zu sehen! Dann ein drittes Mal, es kam von der verschlossenen Tür am Hauptflur.
Im schmalen Glasausschnitt der Tür sah ich Johns Gesicht, das er dicht an die Scheibe presste; er blinzelte mich freudig lächelnd an und winkte mir zu. Ich musste ein spontanes Auflachen unterdrücken, so urkomisch war dieses Bild.
John war etwas eingefallen, das er gerne mit mir besprechen wollte. Er kam in meine Zelle, ein Wort gab das andere, man kennt das ja, und er blieb eine gute Stunde. Ab jenem Tag klopfte er täglich an die Tür mit dem Glasausschnitt. John langweilte sich allein. Warum er keinen Schlüssel zu den Studentenzellen hatte, habe ich nie erfahren. Ich nahm an, dass man Doktoranden einen Rückzugsraum zur Verfügung stellen wollte, damit sie ihren quasselnden Betreuern entkommen konnten.
Meine Dissertation bei John Holsinger sollte eine Bündelung von sechs Publikationen zusammenfassen, das hatten wir schriftlich vereinbart. Als ich mit dem Entwurf des ersten Manuskripts fertig war, gab ich es John zur Durchsicht. Das sollte sich sehr bald als schwerwiegender Fehler herausstellen. Er las zwei Tage darin und gab es mir redigiert zurück. Mir fielen beinah die Augen aus dem Kopf!
Das auf weißem Papier gedruckte Manuskript hatte jetzt einen gelblichen Farbton. Jede Seite war mit fettigen Flecken verschiedener Färbungen versehen. Der Text selbst war durchgehend mit dicken Filzstiftstrichen (drei Millimeter!) rot unterstrichen. Durchgehend!
Dazu kamen auf jeder Seite umfangreiche Notizen und Korrekturen, die mit dem gleichen dicken Rotstift auf jeden Zentimeter unbedruckten Papiers gekritzelt worden waren. Das Ganze sah wirklich ungesund aus.
Nun gut, Papier ist geduldig, sagt man. Und ich hätte nach der ersten Bestürzung über ein dermaßen verunstaltetes Manuskript lachen können. Leider hatte der Schreck hier noch kein Ende. John bat mich ihm die digitale Fassung zu überlassen.
„Why do you want the manuscript file from me?", fragte ich ihn alarmiert.
„Oh, well! I just want to make sure that everything is corrected properly. There are just too many mistakes and inconsistencies in there", erklärte John.
„Well, yes. This is just a draft! This is not the final manuscript yet!"„Yeah, but I would like to do it myself. There are too many details that need to be changed. You may miss some of my suggestions, you know."
„I cannot do that, John! This is my dissertation. I need to write it on my own. I am sorry, but I cannot give you the file."
Der Streit zog sich über mehrere Tage hin, ohne dass sich eine Lösung abzeichnete. John war starrsinnig und wollte nicht nachgeben. Die Angelegenheit drohte zu eskalieren. Wir argumentierten beide ab und an in beträchtlicher Lautstärke, was durch die offene Tür bei den benachbarten Kollegen und Kolleginnen einige Besorgnis ausgelöst haben musste.
John hatte sich angewöhnt die Manuskripte seiner chinesischen Doktoranden neu zu verfassen, weil sie die englische Sprache nur lückenhaft beherrschten. Wenn der liebenswerte, nette Li Shen mit mir sprach, klang es, als habe er eine heiße Kartoffel im Mund. Es dauerte relativ lange, bis wir dahinterkamen, dass er beharrlich die Personalpronomen »he« und »she« verwechselte.
„You know my wife call me yestaday night. He tol me wha happen to her fatha in Tsing Tao. She ise ol man, eightytwo.", erklärte er, als wir an einem Samstagmorgen nebeneinander an unseren Rechnern saßen.
"Yes, I see", erwiderte ich zögernd. "Does your wife live in Daqing?"
"No, notte my wife", stellte Li Shen entrüstet richtig, "her fatha! She live in Daqing!"
Der entscheidende Hinweis kam von Cora, und hier machte sich ihre Ausbildung als Fremdsprachenlehrerin für Deutsch und Englisch bezahlt. "Er vertauscht die Personalpronomen", meinte sie sachkundig. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Na klar! Das war es! Diese Entdeckung verhalf der Kommunikation mit meinem Lab Mate Li Shen zu einer ungeahnten Nuancierung..
[4] Förderprogramm PEET: Enhancing Expertise in Taxonomy (Verbesserung des Fachwissens in der Taxonomie).
Hier und Jetzt
Sowohl Yong Chang als auch Li Shen waren unverhohlen erleichtert, dass John sich ihrer Dissertationsmanuskripte annahm. Die beiden Chinesen hatten zu Lulans Erstaunen gar nicht vor als promovierte Biologen tätig zu werden. Beide suchten sich nach ihrer Promotion besser bezahlte Jobs in der IT-Branche.
Bei seinem deutschen Doktoranden biss John indessen auf Granit. Lulan würde dem pedantischen Professor niemals seine Dissertation überlassen. Nach etlichen ermüdenden Diskussionen zog er die Notbremse und teilte John mit, dass er bereit sei seine Doktorandenstelle aufzugeben, falls er seine eigene Doktorarbeit nicht selbst schreiben könne. Lulan meinte es bitterernst, sein Ego kann zu drastischen Reaktionen neigen, wenn es keinen Ausweg sieht.
John war betroffen; er griff zum Telefon, um Lulans ehemaligen Mentor am ZMA, Fred Schram, um Rat zu fragen. Fred gelang es, John Holsinger zu beruhigen und ihn zu bewegen, Lulan die Manuskripte selbst verfassen zu lassen. Freds Vermittlung fruchtete zu Lulans Erleichterung gleich im ersten Anlauf. Erfreuleicherweise war John nicht nachtragend und die beiden kehrten von einem Tag auf den anderen zu ihrer gewohnten Zusammenarbeit zurück.
In Lulans zweitem Jahr an der ODU trat ein neuer Doktorand als Nachfolger von Li Shen bei John Holsinger an. Tom Sawicki ging mit einem breiten, offenen Lächeln auf seine Mitmenschen zu, Lulan mochte ihn auf Anhieb, es klickte zwischen ihnen. Schon nach wenigen Tagen konnte Lulan bei Tom die ihm bestens bekannte Panik und das gleiche Entsetzen beobachten, als Tom seine ersten Manuskript-Korrekturen von John zurückbekam.
Tom Sawicki litt an einer mitelschweren Ansteckungsphobie, er nahm das fleckenübersähte Manuskript mit steinernem Ausdruck entgegen und trug es zwischen zwei Fingern weit von sich gestreckt zu seinem Platz.
Lulan mochte John Holsinger trotz - vielleicht auch wegen - seiner sagenhaften Pingeligkeit. Der Professor war hinter seinen pedantischen Macken ein liebenswerter Mann. Sicherheitshalber hat Lulan ihm nie wieder ein unfertiges Rohmanuskript zu lesen gegeben. Wenn er John nach diesem Vorfall schriftliche Arbeiten zur Korrektur vorlegte, waren diese fortan bis in die kleinsten Details stimmig und druckfähig. Trotz dieser Vorgehensweise malte John die Manuskripte nach wie rot an und verwandelte sie in bunte Fleckenteppiche. Er konnte nicht anders. Lulan akzeptierte die Zwanghaftigkeit seines Doktorvaters, denn er lernte von ihm die Feinheiten der taxonomischen Regularien. Präzision und Konsistenz. Darauf kam es an. Im Gegenzug respektierte John Lulans Wunsch nach einer eigenständig erarbeiteten Dissertation.
Norfolk
Wie in aller Welt kamen die fettigen Flecken auf die Manuskriptseiten? Nachdem Tom und ich Holsi-Baby (so nannte ihn Tom) eines Tages zum gemeinsamen Lunch in die Campus-Kantine begleitet hatten, kannten wir die Antwort auf diese Frage.
John hatte auf seinem Tablett neben dem Salat und dem Chicken Wrap ein halbes Dutzend kleiner Tütchen angehäuft. Sie enthielten Senf, Curry- und Barbecue-Soße, zwei Sorten Ketchup und Joghurt-Dressing. Während John eine seiner Geschichten über die Höhlenfauna der Appalachen erzählte, versuchte er eine der Tüten zu öffnen. Es gelang ihm nicht, seine Konzentration galt zu 95% seiner Erzählung. Irgendwann zerriss die Tüte, und ihr Inhalte spritzte über den halben Tisch und machte auch vor Johns Hemd und Hose nicht halt.
„Gaddammit!" John und wischte fahrig mit einer Serviette an sich herum, wobei er leise vor sich hin fluchte. Dann fuhr er seelenruhig mit seiner Geschichte fort. Als er zum nächsten Tütchen griff, begannen Tom und ich mit leicht zurückgeneigten Oberkörpern einen Sicherheitsabstand einzunehmen. Zu Recht, denn John bekam faszinierenderweise keine der Tüten unfallfrei geöffnet. Er war ein hemmungsloser Herumspritzer, an seinen Fingern klebte nach jeder Mittagspause ein exotisches Soßengemisch. Mit diesen Soßenfingern blätterte John Holsinger nach dem Lunch in unseren Manuskripten herum. Vor dem Umblättern einer Seite pflegte er an seinem Zeigefinger zu lecken, wodurch das Papier nach kürzester Zeit einen gelblichen Farbton annahm. Zusätzlich fuhr er beim Lesen des Manuskripts mit dem angefeuchteten Zeigefinger an den Sätzen entlang, wie man es bei Erst- und Zweitklässlern beobachten kann. Zu guter Letzt bemalte er die Seiten mit seinem roten Filzstift. Das Resultat ähnelte objektbasierter Gegenwartskunst; man hätte es einrahmen und auf dem Virginia Beach Art Market zum Verkauf anbieten können.
Mit Tom kam Lachen und Frohsinn in die Hütte. Der Humor verband uns beide und schaffte eine befreiende Distanz zu Johns kleinlichen Ordnungszwängen. Laut Tom waren es Auswüchse eines Analcharakters, ihm war die uncoole Kleinkariertheit seines Chefs peinlich.
Tom arbeitete nebenbei als PADI Instructor, und Cora und ich nahmen erfreut das Angebot an, einen PADI Open Water-Kurs bei ihm zu absolvieren. Er war ein erstklassiger Tauchlehrer, sehr erfahren, gleichzeitig geduldig und ruhig. Er hatte einen wachen Blick für unsere individuellen Stärken und Schwächen.
Kurz nachdem Tom Sawicki als Johns Doktorand eingestellt worden war, bereitete ich mich auf meinen ersten Flug in die alte Heimat vor. Cora und ich lebten zu diesem Zeitpunkt seit etwas mehr als einem Jahr in den USA. Es sollte nach Amsterdam gehen, welch ein erfreulicher Zufall! In der niederländischen Hauptstadt fand 1998 der 4. Internationale Crustaceen Kongress (ICK) statt, und Johns PEET-Programm stellte uns finanzielle Zuschüsse für Kongressbesuche zur Verfügung. Wir Doktoranden hatten uns für Vorträge angemeldet, John war als Hauptredner eines Symposiums eingeladen worden.
Cora und ich nutzten die Sommerpause, um schon einige Tage vor dem ICK nach Amsterdam zu fliegen. Wir hätten sonst kaum Gelegenheit gehabt, unsere Familien zu besuchen.
Einen Tag bevor der ICK offiziell eröffnet wurde, stand ich mit Cora in der Ankunftszone des Flughafens Schiphol, um John und seine Frau Sheila in Empfang zu nehmen. Wir sahen Sheila zum ersten Mal. Sie war Johns dritte Ehefrau.
John hatte Sheila in den vergangenen zwei Jahren auffallend selten erwähnt und wenn er es tat, klang er nicht gerade begeistert. Er beklagte sich wiederholt über die Ordnung in seinem Wäscheschrank, die Sheila zu seinem Leidwesen angeblich mit starrsinniger Regelmäßigkeit auf den Kopf stellte. John quälte der Verdacht, dass seine Frau ihn damit ärgern wollte.
Sheila muss eine Tochter aus einer früheren Ehe mit in Johns Haushalt gebracht haben. Ich kannte ihren Namen nicht, John erwähnte sie mir gegenüber konsequent als „the daughter". Wenn er von Sheila oder der Tochter sprach, war es immer im Zusammenhang mit seinen Haustieren. Ich erfuhr mehr über seinen Kater Spencer als über seine Frau Sheila:
„Yesterday, Spencer tried to climb up the curtains. Well, at least he tried, he couldn't make it all the way up, because Sheila came in and chased him out with a broom."
Oder:
„The daughter has a budgie. How do you call them in German? Well-an-zit-tisch? That's a funny little guy. He is always trying to annoy Spencer!"
Sheila war einen guten Kopf größer als John, ihr Auftreten war energisch, und ich gewann nach wenigen Sätzen den Eindruck, dass sie keinen Widerspruch duldete. Sobald wir die Begrüßungsfloskeln hinter uns gebracht hatten, legte Sheila Holsinger unverblümt los:
„I don't know how you manage to cope with him. I mean you have to stay with him in this tiny office every day! He drives me insane with his meticulousness. His clothes need to be arranged in a very special way in his wardrobe. Everything has to be in a particular order. Oh dear, I bet you know every bit of it, don't you? He can be so cheap! Did he ever buy you a drink in the cantina? I bet he didn't!"
Sie hatte recht, John war definitiv nicht spendabel. Ich nickte unbeholfen auf Sheilas kompromittierende Fragen und sah aus den Augenwinkeln, wie John mich verlegen und bedröppelt musterte. Sheila fuhr mit ihren Beschwerden fort; sie nahm kein Blatt vor den Mund und stellte John uns gegenüber in ein ziemlich ungünstiges Licht.
Als wir von Schiphol mit der Metro in Amsterdam ankamen, hatte Sheila Lust auf ein Glas Wein. Warum auch nicht? Die Sonne schien, und in den Straßencafés von Amsterdam pulsierte das Leben! Wir suchten uns einen Tisch in einem der Cafés am Dam. Sheila lästerte in einem fort über John, den ich noch nie so schweigsam gesehen hatte. Ich verstand jetzt, warum er stets früh zur Arbeit kam und abends noch lange blieb.
Für den zweiten Tag des ICK hatten John und ich geplant, Lazare Botosaneanu im Entomologischen Institut zu besuchen. Vom Tagungsort an der Binnengasthuistraat bis zum Institut brauchte man zu Fuß 20 bis 30 Minuten. Ich hatte mir vorher überlegt, welche Route wir am besten nehmen könnten, denn ich wollte John einige der Amsterdamer Sehenswürdigkeiten zeigen. Daraus wurde nichts. John war stark kurzsichtig, obendrein war er auch noch trittunsicher. Er lief neben mir mit gesenktem Kopf, den Blick fest auf den Weg vor seinen Füßen gerichtet, und hielt mit dem Ellbogen Körperkontakt zu mir. Er stolperte mehr, als dass er lief.
Soweit hätte ich ja noch Verständnis dafür aufgebracht, dass Holsi-Baby keinen Blick für die Amsterdamer Grachten und die historischen Bauwerke auf unserer Route hatte. Wenn er mir nicht auch noch während des gesamten Wegs von den morphologischen Eigentümlichkeiten der dritten Uropoden [5] verschiedener Amphipoden-Gattungen die Ohren zugesabbelt hätte.
„It's always the damn third uropod! It is highly variable, not only in bogidiellids! You noticed that, haven't you?"
Ich nickte. Ja, hatte ich, aber jetzt näherten wir uns der Mageren Brücke, Margere Brug, normalerweise ein echtes Highlight für US-Touristen.
„Look, this bridge here!", unterbrach ich John. "It's called Meager Bridge!"
John schaute kurz auf und knibbelte mit den Augen. Dann fuhr er mit den Amphipoden-Beinchen fort.
„They are dimorphic, usually only in males, you can find an incredible variability in males, many genera have modified third uropods …"
Wir liefen an der neuen Stopera vorbei, einem Paradebeispiel zeitgenössischer Architektur. Doch John blieb bei seinen Uropoden.
„… never saw any females with modified first or second uropods in any of the other genera. It is always some type of sexual dimorphism that we are looking at …"
Links lag der Waterloo Plein, wo täglich außer an Sonntagen ein buntes Flohmarkttreiben herrschte. Ich erwähnte den Platz nicht mehr, wedelte nur kurz mit dem Arm in die Richtung.
„… and believe it or not, I have never seen a longer third uropod in any other species. The damn thing extends above the thorax, it can be longer than the entire animal! …"
Desillusioniert ließ ich meine minutiös geplante Besichtigungstour innerlich los. Wir streiften den Hortus Botanicus, ich blieb stumm. Es war durch und durch zwecklos.
„… especially, when you prepare the inkt drawings. Always make sure the three uropods are drawn at the same scale …"
„We are on Plantage Middenlaan", fiel ich ihm ins Wort, „the building on the right side over there, that is the Entomological Institute!"
„Oh, there it is already! So this is where Mr. Boto works!", rief John erfreut und blinzelte mich erwartungsvoll an.
Es war phänomenal, er hatte rein gar nichts von der schönen Umgebung wahrgenommen! Wir meldeten uns am Entomologischen Institut an und warteten auf Botosaneanu, der nach ein paar Minuten langsam die breite Treppe herabgeschritten kam. Die beiden Speläologen gaben sich die Hand und sahen einander schweigend in die Augen. Sie hatten sich vor rund zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Schließlich sprach Lazare Botosaneanu die ersten Worte, sein Englisch hatte den charakteristischen Akzent der Südosteuropäer.
„You arr läiht! [5]"
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[5] Das letzte von drei modifizierten Spaltbeinpaaren, mit deren Hilfe Flohkrebse in der Lage sind wie Flöhe zu hüpfen.
[6] You are late! (Du bist zu spät!)
Hier und Jetzt
1998, zum Zeitpunkt des ICK in Amsterdam, war ein Drittel von Lulans Doktorandenzeit verstrichen. An den Wochenenden unternahm er mit Cora Ausflüge entlang der US-Ostküste. Sie wanderten in den Grey Smoky Mountains und entlang der Outer Banks in North Carolina, fuhren über Savannah und Charleston bis nach Alabama, und auf dem Rückweg über Tennessee und Kentucky nach West Virginia. Das Land war atemberaubend schön, Lulan liebte vor allem die Weiträumigkeit der Naturgebiete. Die Menschen, denen sie begegneten, empfingen sie mit einer entwaffnend herzlichen Gastfreundlichkeit, die man in Mitteleuropa eher selten findet.
Trotz alledem vermissten sie Europa, manchmal sogar recht schmerzhaft. Bei Cora kam der Punkt der Umkehr zuerst, einige Monate bevor es Lulan auch erwischte. Anfang Februar 1999 teilte sie ihm geradeheraus mit, dass sie wieder in die Niederlande zurückwolle. Lulan hörte die Worte seiner Liebsten und ließ seinen Blick über die Einrichtung ihres Apartments wandern. Vom kleinsten Küchenmesser bis zur Kiefernkommode - sie hatten ihre Besitztümer hierher verschifft, um sich in diesem Land niederzulassen. Lulan horchte in sich hinein und registrierte, dass er weder enttäuscht noch erfreut war, er konnte keine Verärgerung entdecken, auch besorgt war er nicht. Er war noch nicht soweit. Das Ende seiner Untersuchungen war in Sichtweite gerückt. Sein gesamtes Konzentrationsvermögen galt dem Abschluss seiner Dissertation. Erst war die Promotion angesagt, was danach käme, würde er sehen.
Dem Rat eines älteren Doktoranden folgend hatte er mit John zu Beginn seiner Anstellung Absprachen über den Umfang und die Inhalte seiner Untersuchungen getroffen. Sie hatten daraufhin eine schriftliche Zusammenfassung seines Aufgabenpensums angefertigt.
Als Anfang 2000 der Abschluss endgültig näher rückte, schlug John Lulan täglich neue Forschungsprojekte vor. Diese oder jene Artbeschreibung könne er vielleicht in seiner Dissertation noch mit unterbringen? Oder die Biogeografie verschiedener Amphipoden-Familien vergleichen? Es fiel Lulan nicht leicht, doch er lehnte Johns Angebote dankend ab.
Anfragen dieser Art sind durchaus gängig, ausschlaggebend dabei ist, welche Intention sich dahinter verbirgt. Es gibt Profs, die ihre Doktoranden hemmungslos mit zusätzlichen Themen überschütten, um gefällige (und billige) Nachwuchswissenschaftler an sich zu binden und diese zu ihrem eigenen Vorteil auszumelken. Bei John war es eindeutig anders, er brauchte die Gesellschaft von Menschen, die ihm zuhören konnten und verstanden, wovon er sprach. Mehr als alles andere aber fiel es ihm schwer, liebgewonnene Gewohnheiten aufgeben zu müssen.
Als der Termin der Disputation und Promotion schon feststand, buchten John, Tom und Lulan noch einmal Flüge, um im April 2000 am 10. Internationalen Kolloquium für Amphipoda auf Kreta teilzunehmen. Dies war Lulans zweiter Europa-Trip nach der Teilnahme am ICK in Amsterdam.
Er lief durch die malerischen Gassen von Heraklion, genoss in Straßencafés den herben, aromatischen Geschmack von Espressi - und freute sich zu Hause zu sein.
Zu Hause in Griechenland! Wo Lulan noch nie zuvor in seinen Körperleben gewesen war. Die mediterrane Kultur lag ihm näher als Starbucks und Wendy's. Selbst die griechischen TV-Nachrichten auf den Hotelbildschirmen, Nachrichten, von denen er kein Wort verstand, fand er ansprechender als die die atemlosen Instant News Alerts und stundenlangen Breaking News-Berichte der US-Nachrichten-Shows. Im Gegensatz zu den konform gestylten Pärchen, die, adrett gekleidet und frisiert, mit blendend weißen Zahnleisten in obligatorischen Small Talk-Dialogen ihre Themen abarbeiteten, wirkten die griechischen Sprecher seriös und kompetent.
Ihm fehlten die kleinen Gassen in den großen Städten, die alten Stadtkerne, den Geschmack von Pflaumen im Spätsommer, die Unbekümmertheit, mit der sich am Strand Badegäste entblößten. Lulan fehlte die kulturelle Vielfalt dieses Kontinents. Jetzt war auch er soweit. Es gab keinen Zweifel mehr – auch Lulan wollte zurück nach Europa.
Nach etwas mehr als drei Jahren schloss Lulan im August 2000 seine Promotion mit den üblichen Prüfungen und Zeremonien ab. Er hatte eine Postdoktorandenstelle bei seinem ehemaligen Chef Fred Schram am Zoologischen Institut Amsterdam angeboten bekommen. Cora war heilfroh, dass es zurück in ihre Heimat ging und nicht nach London oder Oslo, oder wohin auch immer sich Lulan sonst noch auf Postdokstellen beworben hatte. Die Stelle am ZMA war auf drei Jahre befristet. Zeitverträge sind ein globales Dilemma vieler akademischer Laufbahnen. In Europa ist diese Entwicklung vergleichsweise stark ausgeprägt. In den meisten Ländern werden an den Universitäten Stellen öffentlich ausgeschrieben. Insider wissen, dass Fremdbewerbungen so gut wie chancenlos sind, wenn es einen oder mehrere interne Bewerber gibt, die im Auswahlverfahren oft subtil bevorzugt werden.
Lulans Kontakt zu John Holsinger brach bedauerlicherweise ab, nachdem er die ODU verlassen hatte. 2006 trafen sie sich noch einmal in Rumänien auf dem 18. Internationalen Symposium für Biospeläologie in Cluj. Sie freuten sich über ihr Wiedersehen, nach all den Jahren, und konnten nicht wissen, dass dies ihr letztes Treffen werden sollte. Lulan stellte John »seinen« Doktoranden Mario Hönemann vor und John machte die beiden mit Dr. Yenumula Ranga Reddy bekannt, mit dem er die Beschreibung einer neuen indischen Bogidielliden-Art publiziert hatte. Der Nachname des Inders wollte dem Professor noch nicht reibungslos über die Lippen kommen.
„Now, is it Ready or Reedy?", hakte er blinzelnd während der Begrüßungsrunde nach. Das war John, wie er leibte und lebte.
2018 musste Lulan oft an Holsi-Baby denken, häufiger als sonst. Er versuchte sich zu erinnern, wie alt John wohl sein könne und stellte sich vor, wie der Professor in seinem ODU Lab nach dem Lunch wie eh und je vor seinem PC-Monitor einnickte. Lulan erwog mehrmals Kontakt zu Holsinger aufzunehmen, ließ es letztendlich aber bleiben. Anfang 2019 erfuhr Lulan, dass John Holsinger auf die große Reise gegangen war.
Die Körperperson John R. Holsinger verstarb am 10. November 2018 im Alter von 84 Jahren.
Lazare Botosaneanu legte seine körperliche Hülle bereits im Jahre 2012 ab; er wurde 85 Jahre alt.Requiēscātis in pace, John et Lazare!
Dona eis requiem, Domine!
Sempiternam requiem!
Foto von John Holsinger extrahiert aus Videoaufnahme der Old Dominion University. Foto von Lazare Botosaneanu aus Nachruf von Jos Notenboom (Lazare Botosaneanu 'Naturalist' 1927 – 2012. Subterranean Biology 10: 61-73, 2012 (2013).
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