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Was denn?

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16 Wehe den Zornigen

Überschäumende Wut. Blinder Zorn.

Ignoranz und Selbstverleumdung.

Die Alleinherrschaft des Egos

führt unweigerlich in den Untergang.

***


02.11.2004
8:20, Amsterdam, Oosterpark

Ich bin früh am ZMA und fahre als erstes meinen Computer hoch. Als ich meinen Rucksack auspacke, bemerke ich, dass ich meinen USB-Stick zu Hause vergessen habe. Ohne Daten kann ich nicht weiterarbeiten, ich muss zurück, um den Speicherstift zu holen. Es sind ja nur rund 500 m, ich würde in einer halben Stunde wieder beim ZMA sein. Ich laufe durch den Oosterpark und höre am Ausgang einen scharfen Knall, der vom anderen Ende des Parks zu kommen scheint. Es klingt wie ein Peitschenschlag. Als ich unsere Apartmenttür aufschließe, klingelt das Telefon. Es ist Cora, die von ihrer Arbeit aus anruft. Im Oosterpark seien Schüsse gefallen, ich solle lieber in der Wohnung bleiben.

Ich trinke noch eine Tasse Tee und mache mich etwas besorgt und in alle Richtungen Ausschau haltend auf den Rückweg zum ZMA. Im Oosterpark kann ich nichts Auffälliges bemerken.

Erst am Abend erfahren wir, was es mit der Schießerei auf sich hatte. Theo van Gogh ist in der Nähe des Oosterparks in der Linnaeusstraat ermordet worden. Ein Attentäter hat ihn angeschossen und anschließend kaltblütig hingerichtet. Der Schuss, den ich gehört hatte, wurde von einer Polizeiwaffe abgefeuert; man hat den Attentäter an der Mauritskade gestellt, er ergab sich, als ihn eine Kugel in sein Bein traf. 

Rage

Hier und Jetzt

Theo van Gogh war ein Urenkel des gleichnamigen Bruders von Vincent van Gogh, dem niederländischen Maler und Zeichner. Er wohnte nicht weit von Coras Apartment im Stadtteil Watergraafsmeer. Die Körperperson Theo war ein übergewichtiger Kettenraucher mit einem blonden, ungekämmten Lockenkopf. Lulan sah ihn hin und wieder auf seinem klapprigen Fahrrad in der Linnaeustraat vorbeistrampeln. Theo van Gogh hatte sich als Publizist, Filmproduzent und Regisseur einen Namen gemacht. Er war der bunte Hund, den jeder kannte, dafür hatte er mit aggressiven Provokationen und skandalösen Tabuverletzungen gesorgt. Van Gogh als Satiriker zu bezeichnen wäre ein schmeichelhafter Euphemismus; Theo war ein gnadenloser Provokateur, der sich nicht scheute, geschmacklose Gaskammerwitze zu reißen. Wenn er eine Gelegenheit witterte, bigotte Mitleidsheuchelei oder die Hypokrisie politischer Korrektheit zu entlarven, legte sich Theo ohne Rücksicht auf Verluste mit jedem und allen an. Dem erfolgreichen jüdischen Schriftsteller Leon de Winter warf Theo vor, in dessen Büchern die Leiden der Juden in den Nazi-Vernichtungslagern kommerziell auszubeuten, so verkaufe de Winter seine Werke besser. Als de Winter sich gegen Van Goghs Angriffe zur Wehr setzte, schlug Theo zurück. Leider schlug er unter die Gürtellinie, als er de Winter und dessen Frau mit sexuellen Sticheleien demütigte.

Die geschmacklose Provokation war Van Goghs Markenzeichen. Wenn die Angegriffenen entrüstet Kritik an Theos polarisierenden Attacken äußerten, legte dieser noch einmal ordentlich nach. Er hatte infolgedessen reihenweise Klagen am Hals. Das Auge-um-Auge-Spiel von Angriff und Gegenangriff ist Ausdruck der Eskalation eines selbstherrlichen Egos. Der Eskalationswahnsinn des Egos läuft berechenbar nach vergleichbaren Automationsmustern ab, man könnte seine Uhr danach stellen.

Man versuchte Theo den Stempel der Judenfeindlichkeit aufzudrücken, schimpfte ihn einen rechten Populisten, aber Lulan bezweifelte, dass diese Beurteilungen zutreffend waren. Er glaube nicht, dass Van Gogh ethnische oder religiöse Gruppen als Feindbilder im Visier hatte. In Theo schien heiße Wut zu kochen, ein explosiver Hass, der sich gegen jegliche Auswüchse von Heuchelei und überheblicher Ignoranz richtete. Wenn dieses Feindbild in Theos Blickfeld geriet, schlug der Publizist erbarmungslos zu.

Für Cora, die seit Anfang der 80er Jahre am Oosterpark wohnte, gehörte Theo van Gogh zum Stadtbild, wie die Obst- und Fischhändler auf dem Dappermarkt (von denen sie einige seit 20 Jahren kannte). Theo war viel unterwegs, mal sah man ihn im Foyer des Jugendstilkinos Tuschinski, mal saß er ein paar Häuser weiter in einem Straßencafé. Er radelte täglich zu seinem Büro und kam dabei am Oosterpark vorbei. Cora wusste zu berichten, dass Menschen, mit denen Theo beruflich zu tun hatte, ihn als fürsorglich und respektvoll beschrieben. Dieses Bild stimmte wenig mit dem landesweit geläufigen Klischee des obszönen Bürgerschrecks überein; offenbar war die Körperperson Theo van Gogh facettenreicher als gemeinhin angenommen.

Theo mochte ein ehrfurchtsloser Spötter sein, das Enfant terrible der Nation, doch war er in erster Linie ein unabhängiger Denker, der alles infrage stellte und niemals etwas nur deshalb akzeptierte, weil andere es taten. Die Abschaffung der Monarchie, des Hauses Oranje-Nassau als Symbol einer ehemals kolonialen Weltmacht, passte perfekt in Theos Denkschema; er war Mitglied der Republikeins Genootschap, die sich die Errichtung einer königsfreien niederländischen Republik auf die Fahnen geschrieben hatte. Die Chance, die heilige Kuh des niederländischen Nationalstolzes schlachten zu können, muss Theo unwiderstehlich gefunden haben.

Ein beliebtes Ziel Theos zynischer Angriffe war die multikulturelle Gesellschaft. Er brachte viele muslimische Bürger der Niederlande in Rage, als er deren Religion und Kultur wiederholt als rückständig bezeichnete. Doch damit nicht genug, Theo van Gogh suchte in seiner selbstgerechten Wut nach dem sakralsten Tabu, das er verletzen konnte, nach dem Schalter, den man umlegen musste, um seine Opponenten ihrerseits in schäumende Rage zu versetzen. Er fand diesen Schalter. Mit scharfer Zunge griff er wiederholt die Scheinheiligkeit islamitischer Glaubensfanatiker an (das war soweit noch begreiflich) und beschimpfte im selben Atemzug gleich alle Muslime durch die Bank als Ziegenficker (ein unnötiger Fauxpas). 1995 schrieb er im Magazin HP/De Tijd:

„Botschafter der rückschrittlichsten Dunkelheit (…) Gläubige, für die du als Erster infrage kommst, um vor ihren erträumten Erschießungskommandos die Segnungen Allahs zu empfangen (…) Gläubige, die Schwule unrein finden, genau wie menstruierende Frauen, Ungläubige oder alle anderen, die den Normen der Ziegenficker aus Mekka nicht entsprechen."

2004 erschien der elfminütige Kurzfilm »Submission«, den Theo van Gogh mit der aus Somalia stammenden Politikerin und Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali gedreht hatte. Der Film thematisierte die Unterdrückung von muslimischen Frauen. In mehreren Szenen waren Frauen zu sehen, deren unbekleidete Körper mit durchsichtigen Schleiern verhüllt waren. Die Frauen repräsentierten Opfer verschiedener Misshandlungen. Auf die nackte Haut ihrer Körper waren Koranzitate projiziert, Suren, die häufig als Rechtfertigung für die Vorherrschaft des Mannes über die Frau ausgelegt werden, gelegentlich auch, um dabei die Anwendung von Gewalt zu legitimieren. 


Theo van Gogh als „Walfisch" in einer Anzeige anlässlich einer TV-Talkshow zum 25-jährigen Greenpeace-Jubiläum (1996); eingefügtes Foto von Theo van Gogh aus dem Jahr 2004 (© SA 3.0; https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:TheoVanGogh.jpg).


02.11.2004
8:45, Amsterdam, Linnaeusstraat

Der sechsundzwanzigjährige Mohammed Bouyeri schießt auf Theo van Gogh, der mit seinem Fahrrad in Richtung Stadtmitte unterwegs ist. Van Gogh wird getroffen, überquert zu Fuß die Straße und läuft um ein parkendes Auto herum. Bouyeri folgt Van Gogh, weiter auf ihn schießend. Van Gogh hebt schützend die Arme und ruft um Gnade, auf dem Radweg fällt er zu Boden. Bouyeri feuert weiter, er schießt aus kurzer Entfernung auf den am Boden liegenden Van Gogh; insgesamt wird Theo van Gogh von acht Kugeln getroffen. Bouyeri schneidet Van Gogh die Kehle mit einem Ghurka-Kukri-Krummmesser durch, dann stößt er das Messer bis zum Rückgrat in die Brust seines Opfers. Anschließend sticht Bouyeri dem tödlich Verletzten noch ein kleines Filetiermesser in die Brust; er befestigt an dem Messer einen sechsseitigen Brief, eine theatralische Anklageschrift, die an Ayaan Hirsi Ali gerichtet ist.

Der Attentäter läuft gemächlich durch den Oosterpark zur Mauritskade; als er den Oosterpark verlässt, wird er von der Polizei gestellt; nach einem kurzen Feuergefecht trifft ihn eine Polizeikugel ins Bein. Die Körperperson Theo van Gogh starb auf dem Radweg der Linnaeusstraat.

Zeugen der Tat beschreiben, dass Bouyeri in aller Seelenruhe vorging. Der Täter selbst behauptete später, er habe gehofft in dem zu erwartenden Schusswechsel mit der Polizei tödlich getroffen zu werden, um als Märtyrer sterben zu können.

Der Brief, den Bouyeri auf Van Goghs Körper zurückließ, offenbart den wahnhaften Geist des Attentäters. Bouyeri wirft Ayaan Hirsi Ali vor „an der Seite der Armee des Bösen" zu marschieren und „vom Feuer der Ungläubigkeit erblindet" zu sein. Er behauptet anhand zahlreicher Beispiele und Zitate, dass die niederländische Politik von Juden unterwandert sei. In pathetischen Sätzen prophezeit der Marokkaner „den Tag, an dem die eine Seele der anderen nicht mehr helfen kann", ein Tag „begleitet von furchtbarer Folter und Schmerz", an dem „die Ungerechten abscheuliche Schreie aus Ihren Lungen pressen werden".

In seiner Gerichtsverhandlung schweigt Bouyeri zunächst hartnäckig. Am Ende des zweiten Sitzungstages ergreift er das Wort und verkündet, dass er nicht aus Hass gehandelt habe, sondern weil seine Glaubensvorschriften es ihm geboten hätten:

"Ich wurde von dem Gesetz geleitet, das mich auffordert, jeden auszuschalten, der Allah und den Propheten beleidigt."

Die Körperperson Mohammed Bouyeri wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht war der Auffassung, dass es keine realistische Chance auf eine Resozialisierung gebe.



08.11.2004
Amsterdam

Am 8. November las Theodor Holman, der mit Theo van Gogh befreundet war, in der TV-Sendung »Barend & Van Dorp« einen offenen Brief vor, in welchem die Verfasser auf Bouyeris Anklageschrift reagierten:

Lieber Mohammed und Freunde,

wie dumm, dass es so gelaufen ist. Wir hatten keine Ahnung, dass alles so empfindlich lag. Wir haben unsere Lektion sehr wohl gelernt. Geht es halbwegs mit deinem Bein? Lass uns versuchen, die Dinge zusammenzuhalten, aus Respekt zueinander wird das bestimmt klappen, sonst gibt es wieder so eine Sauerei. Könntest du uns ein paar strikte Richtlinien darüber geben, was wir sagen dürfen und was nicht? Dass dies jetzt verdammt noch mal ausgerechnet während des Ramadan geschehen musste. Wir werden unser Möglichstes tun, uns mehr in eure Glaubensüberzeugungen zu vertiefen, um weitere Missverständnisse zu vermeiden. Wir schämen uns in Grund und Boden, Mohammed. Dass wir dich in diese ärgerliche Lage gebracht haben, kann man uns ganz klar zum Vorwurf machen. Wir sind dieses Mal wirklich zu weit gegangen. Wir fassen uns an die eigene Brust. Versuch in Gottes Namen deinen Sinn für Humor nicht zu verlieren, denn den wirst du bitter nötig haben in nächster Zeit. Wir hoffen, dass dieser offene Brief nichts enthält, was dich oder deine Glaubensgenossen eventuell verletzen könnte. Vergib uns das dann, wir sind auch etwas durcheinander. Okay Alter, Kopf hoch! Versuch die Sache ein bisschen loszulassen, morgen kommt ein neuer Tag. Und denk einfach daran immer zu lachen, was auch passiert. Viel Kraft, wir schreiben uns.

Die Freunde von Van Gogh 


Hier und Jetzt

Wir fassen uns an die eigene Brust. Im niederländischen Originaltext lautet der Satz „We steken de hand in eigen boezem", was sinngemäß bedeutet, dass man die Schuld bei sich sucht. Denselben Satz verwendete Bouyeri auch in seinem Drohbrief an Ayaan Hirsi Ali. Wörtlich übersetzt lautet er „Wir stecken die Hand in den eigenen Busen", wobei steken / stak / gestoken sowohl »stecken« als auch »stechen« bedeuten kann. Wie viele Formulierungen in Holmans Antwort, ist auch dieser Satz eine Anspielung, die sich mehrfach deuten lässt. Zum einen stak Bouyeri ein Filetiermesser in Van Goghs Brust (boezem) und befestigte seinen Drohbrief an diesem Messer. Zum anderen ist die Redewendung laut Altem Testatment ein direktes Zitat der Worte Gottes, die an Moses gerichtet sind. Im 2. Buch Mose, Kapitel 4, Verse 6-8, heißt es in der Elberfelder Bibelübersetzung von 1905:

6 Und Jehova sprach weiter zu ihm: Stecke doch deine Hand in deinen Busen. Und er steckte seine Hand in seinen Busen; und er zog sie heraus, und siehe, seine Hand war aussätzig wie Schnee. 7 Und er sprach: Tue deine Hand wieder in deinen Busen. Und er tat seine Hand wieder in seinen Busen; und er zog sie aus seinem Busen heraus, und siehe, sie war wieder wie sein Fleisch.

Gott lässt in diesem Kapitel an Moses Wunder geschehen, die als sein Gotteszeichen erkennbar sind und Moses vor dem zweifelnden Volk als Botschafter des Herrn beglaubigen sollen.

Mit »Busen« war zurzeit der älteren Bibelüberstzungen nicht die körperliche Brust gemeint, sondern der Hohlraum zwischen Kleidung und Brust. Demgemäß lautet Vers 6 in moderneren Bibelübersetzungen „Und nun steck deine Hand in dein Gewand" oder „Stecke doch deine Hand in deinen Gewandbausch".

In den langen, oft hochgesteckten Gewändern der Israeliten bildete der Stoff vor der Brust eine Falte, einen Bausch, in den man seine Hände stecken konnte.

Im Niederländischen ist Vers 6 wörtlich beibehalten worden, wenngleich die Redewendung eine andere Bedeutung bekommen hat. Man steckt seine Hand in die Gewandfalte über der Brust, um in sich zu gehen, um die »Hand aufs Herz« zu legen und mit sich ins Gericht zu gehen. Man legt seine Hand auf die Brust, um ein Verschulden oder eine Schuld aufrichtig bei sich selbst zu suchen. In der deutschen Umgangssprache sagt man heute, dass sich jemand besser an die eigene Nase fassen könne, als die Schuld bei anderen zu suchen. Diese neuere sprachliche Version der ursprünglichen alttestamentarischen Textstelle ist heute populärer als die veraltete Redewendung »sich an die eigene Brust fassen«. 

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