Das selbstverliebte Ego giert ununterbrochen nach Bestätigung.
Der Maßstab für seinen Größenwahn sind die Fehler der anderen.
Egomanie ist eine Variante des Trennungsgedankens.
***
Hier und Jetzt
Im Dezember 2004 verließ Lulan Amsterdam. Seine befristete Postdok-Stelle war bereits zweimal verlängert worden. Fred Schram und sein Lebensgefährte Brian Kirkpatrick begannen, die Rückkehr in ihre Heimat vorzubereiten- Sie wollten auf der Olympischen Halbinsel bei Seattle ihren Ruhestand antreten.
Es ging es zurück nach Deutschland, wo eine Juniorprofessur an der Stiftungsuniversität einer süddeutschen Stadt neu besetzt werden sollte. Lulan hatte sich erfolgreich auf die Ausschreibung beworben, die in Nature, einer der führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften, annonciert worden war. Cora blieb zunächst in Amsterdam; sie zog es vor, die Anfangsphase der JuPro-Stelle abzuwarten und ihren Job bei Humanitas nicht gleich aufzugeben. Obwohl seine Allerliebste die Groteske in vier Akten, als die sich die neue Stelle erweisen sollte, nicht vorhersehen konnte, bewunderte Lulan im Nachhinein ihr feines Gespür für Kalamitäten.
Dabei hätte man schon den höchst sonderbaren Auftakt dieser Geschichte als warnendes Vorzeichen erkennen können. Nach Dutzenden von Bewerbungen, in denen er sich um Stellen von Neuseeland bis Okinawa bemüht hatte, wurde Lulan ausgerechnet in Deutschland zu einem Sondierungsgespräch eingeladen. Deutschland war wie ein fremdes Land für ihn; er war in den Niederlanden und in den USA als Wissenschaftler ausgebildet worden.
Die einzelnen Schritte seiner Bewerbung entsprachen nicht den gängigen Mustern. Professor Dr. Rohwedder, der Chef des Instituts für Molekularbiologie (IfM), das die JuPro-Stelle zu vergeben hat, fragte im Spätsommer 2004 bei Lulan an, ob man sich „mal unverbindlich" treffen könnte („Das ist jetzt aber kein offizielles Bewerbungsgespräch, nur so zum Kennenlernen!"). Also fuhr er Anfang September nach Deutschland, um den Institutsleiter zum gemeinsamen Lunch in einem kleinen Bistro-Café zu treffen. Der knochige Mann mit den nackenlangen Haaren besaß eine flamboyante, einnehmende Persönlichkeit. Seine Stimme klang tief und schwer, wobei seine Artikulation bisweilen holperig wirkte. Der Professor neigte dazu, Wort- und Satzendungen zu verschlucken.
Während ihrer Unterhaltung – genau genommen war es eher eine Plauderei in Monologform – teilte Rohwedder Lulan mit, dass er sich zufälligerweise auf die bald vakant werdende Stelle von Fred Schram am Zoologischen Museum Amsterdam beworben habe. Lulan war platt. Rohwedders Bewerbung überkreuzte quasi seine eigene.
Herr Rohwedder berichtete Lulan, dass er bereits die erste Runde der Bewerbungsgespräche in Amsterdam hinter sich gebracht habe. Seine Chancen stünden gut, er würde zu weiteren Gesprächen in die Niederlande fahren.
Nach diesem aufschlussreichen Lunch nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die man sich absurder nicht hätte ausdenken können. Sie führte dazu, dass das Bewerbungskomitee der Universiteit van Amsterdam Prof. Rohwedder zwei Monate später als Kandidaten von dem weiteren Einstellungsverfahren ausschloss.
Inmitten der turbulenten Ereignisse verlief Lulans Bewerbung positiv. Er bekam die Bestellung als Juniorprofessur am IfM angeboten. Doch noch vor seinem offiziellen Dienstantritt im Dezember 2004 kamen ihm Bedenken. Die Verwicklungen, die ihn als Körperperson direkt betrafen, waren zu alarmierend, als dass er sie hätte ignorieren können.
Auf Anraten eines Anwalts verfasste Lulan detaillierte Protokolle der Geschehnisse. In seiner prekären Lage war diese Maßnahme unbedingt erforderlich, sie diente der Konsolidierung seiner Glaubwürdigkeit.
Aus daten- und personenschutzrechtlichen Abwägungen wurden die Namen der beteiligten Menschen, Einrichtungen und Orte geändert, der Name der süddeutschen Stadt ist durch »Deutschland« ersetzt worden.
Hier und Jetzt
Die Rückkehr an eine deutsche Universität stand nicht auf Lulans Agenda. Er hatte sich erfolglos auf verschiedene Stellenausschreibungen in Skandinavien beworben und sah dem Wechsel nach Deutschland mit gemischten Gefühlen entgegen. Schon nach wenigen Tagen sah er sich in seinem Vorurteil bestätigt: Im Land der Dichter und Denker lief an den Unis anscheinend immer noch die Hochschulvariante der Muppet Show. In ihr traten keine Krümelmonster, sondern akademische Ego-Monster auf. Sie trohnten hinter verschlossenen Türen an Mahagoni-Schreibtischen. Anklopfen und warten bis man eingelassen wird. Jeder spielte sich selbst.
„Guten Morgen, Professor Jeske!"
„Guten Morgen, Kramer. Seit wann habe ich nicht mehr das Recht auf eine vollständige Anrede? Wie jeder andere auch? Denkt man, ich sei hier so eine Art Kumpel?"
„Meinen Sie »Professor Dr.«, Herr Jeske? Soll ich »Guten Morgen, Herr Professor Dr. Jeske« zu Ihnen sagen?"
Lulan nahm in einer Doppelrolle als Zuschauer und Protagonist an der Muppet-Show teil.
Warum hatten ihn die Fügungen des Schicksals in diese bizarre Situation geführt? Nichts im Leben passiert rein zufällig - aber warum musste es ausgerechnet ihn treffen? Diese Frage haben sich vermutlich bereits Millionen von Menschen gestellt. Und die ewige, stets gültige Antwort hierauf lautet: Um zu lernen.
Lulans damalige Lernphase zerrte an seinen Nerven, er verbrachte etliche schlaflose Nächte. Doch in den Tiefen seines Unterbewusstseins regte sich die Neugier, als reibe sich ein unbeteiligter Zuschauer in Erwartung der nächsten bizarren Episode mit menschlichen Muppet-Puppen amüsiert die Hände.
07.01.2005
SU
Ich habe den Präsidenten der SU von meinem gestrigen Gespräch (6.1.2005) mit Herrn Rohwedder in Kenntnis gesetzt. Herrn Rohwedders Reaktion auf dieses Gespräch hat bedauerlicherweise zunächst zu einer weiteren Eskalation der Situation geführt. Die Unterhaltung wurde zum Teil sowohl von mir als auch von Herrn Rohwedder laut und erregt geführt.
Ich betrat ca. um 13:10 Uhr Herrn Rohwedders Dienstzimmer und gab an, noch einmal auf unser Orientierungsgespräch vom 21.12.2004 zurückkommen zu wollen. Hieraufhin schlug Herr Rohwedder vor, sich in die Bibliothek im Erdgeschoss zu begeben, da man dort ungestört reden könne. Lulan starrte auf die Krawatte seines Chefs, die auf ganzer Länge mit einem halbnackten Pin-Up-Girl bedruckt war; sie sah Marilyn Monroe recht ähnlich. Rohwedder bemerkte Lulans Blick, "Traut sich sonst keiner!" erklärte er lapidar.
In der Bibliothek eröffnete ich das Gespräch sogleich und sagte, dass das Orientierungsgespräch kurz vor Weihnachten für mich alarmierend und erschreckend gewesen sei. Herr Rohwedder fragte „Wieso alarmierend?" worauf ich antwortete, dass die Regeln und Vorschläge, die er am 21.12. vorgetragen habe, einen bedrohlichen Charakter gehabt hätten. Herr Rohwedder unterbrach mich und fragte, was er denn gesagt habe. Darauf sagte ich: „Wenn du mir vorschreibst, ich hätte über alles, was hier intern besprochen wird, die Schnauze zu halten, dann finde ich das sehr bedrohlich."
Herr Rohwedder stritt kategorisch ab, dies jemals gesagt zu haben. Er habe lediglich gesagt, man solle sich erst mit ihm zusammensetzen und intern beraten, bevor man mit irgendwelchen Anliegen zur Verwaltung ginge. Meine Behauptung sei eine böswillige Verleumdung, dies sei Rufmord und werde rechtliche Schritte nach sich ziehen. Ich unterbrach Herrn Rohwedder und wiederholte, dass er sehr wohl wörtlich von mir verlangt habe, die Schnauze zu halten.Herr Rohwedder verlangte hieraufhin, dass wir uns ab sofort wieder siezten und fuhr erregt und laut fort.
Ich verlangte von Herrn Rohwedder, mich endlich zu Wort kommen zu lassen und erklärte, dass ich nach wie vor an einer Zusammenarbeit mit ihm interessiert sei. Ich sagte weiterhin, dass ich die vor mir liegenden Aufgaben ernst nehmen würde und versuchen wolle, diese so gut es ginge auszuführen und auch beabsichtige, die vollen sechs Jahre meiner Juniorprofessur hierfür auszunutzen. Allerdings seien die Vorzeichen für eine konstruktive Kooperation durch das Orientierungsgespräch nun negativ besetzt. Daher sähe ich mich gezwungen, die von ihm geäußerten Regeln und Vorschläge zum größten Teil strikt abzulehnen. Herr Rohwedder fragte mich, welche Vorschläge ich meinte. Ich entgegnete, dass ich beabsichtigte meinen DFG-Antrag alleine zu stellen und auch im ersten Jahr schon Laborarbeit verrichten wollte. Herr Rohwedder erwiderte, dass dies nur Vorschläge gewesen seien, und ich natürlich selbst entscheiden könnte, ob ich mit ihm gemeinsam oder alleine einen Antrag einreichen wollte. Ich antwortete: „Ja, natürlich. Ich behaupte ja auch nichts anderes - dass es ein Vorschlag ist."
Herr Rohwedder verlangte, ihm weitere Beispiele seiner Äußerungen aus dem Orientierungsgespräch zu nennen. Ich antwortete „Sie haben zum Beispiel zuerst Ihre eigene Position in der Personalhierarchie der TiHo als stabil und kaum angreifbar geschildert. Und dann haben Sie gesagt, Sie könnten mich schon nach einem halben Jahr rauswerfen und Sie könnten mich auch nach drei Jahren rauswerfen, selbst wenn meine Evaluation positiv ausfallen würde." Herr Rohwedder: „Kein Wort von wahr. Das habe ich nicht behauptet." Hierauf habe ich das Gespräch abgebrochen, da mir eine weitere Unterhaltung in diesem Ton wenig sinnvoll erschien. Ich sagte noch, dass ich meine Arbeit sehr wohl unabhängig von ihm durchführen könnte verließ den Raum mit den Worten „Wir müssen sehen, wie es von hier aus weitergeht."
Heute (7.1.) gegen 8:45 erhielt ich einen kurzen Anruf von Herrn Rohwedder. Er schlug in ruhigem Ton vor, nicht in das für mich vorgesehene Dienstzimmer in der Villa zu ziehen, sondern erstmal im Flachbau zu bleiben und abzuwarten, wie sich die Situation entwickeln werde.
15.01.2005
Deutschland
Als ich im Dezember 2004 mit seinen Umzugskartons eintraf, um mein neues Dienstzimmer im Flachbau 204 einzurichten, begegnete ich im Foyer zwei älteren Männern. Sie saßen sich an einer langen Tischreihe zwischen stattlichen Ficus-Gewächsen gegenüber, schweigend und kauend. Sie aßen Butterbrote. Graue Roggenmischbrotscheiben, Sauerteigprodukte, mit Tee- oder Leberwurst bestrichen. Ich hatte ganz vergessen, dass es solcherlei belegte Brote gab. So etwas kennt man in den Niederlanden nicht, auch nicht in den USA, dem Stammland der Bagel- und Toastbrotkultur. Als Kind schon waren mir Graubrotscheiben mit Streichwurst suspekt, ein schwerverdauliches Übel, dessen Verzehr man erdulden musste wie eine Strafe. Nur Sauerkraut mit Pumpernickel und Sülze waren noch schlimmer [1].
Die beiden kauenden Herren trugen Adidas-Trainingsanzüge, die an die Sportmode der 90er Jahre erinnerten. Sie entboten mir den urdeutschen Gruß der werktätigen Belegschaften, „Mahlzeit!", riefen sie unisono. „Hallo!", erwiderte ich, denn ich weiß bis heute nicht, was sich hinter der ominösen Begrüßungsformel »Mahlzeit« verbirgt. Bestätigt man sich gegenseitig die Tageszeit, die dem Zermahlen von Nahrungsmitteln vorbehalten ist? Aber das ergibt keinen Sinn, es erkennt ja ohnehin jeder auf einen Blick, dass gerade gegessen wird. Es könnte sich genauso gut um die verschlüsselte Botschaft einer geheimen Bruderschaft handeln, ein Signalwort, das eine Verschwörung oder einen Aufruhr einläutet: Es wird jetzt mal Zeit!
Jedenfalls geriet ich durch den Belegschaftsgruß, die Butterbrote und die Trainingsanzüge auf die falsche Fährte, denn ich hielt die beiden für Mitarbeiter des technischen Personals, nicht zuletzt, weil im Flachbau eine der Metallwerkstätten der SU untergebracht war.
Nicht so voreilig, schoss mir ein warnender Gedanke durch den Kopf, denn mir fiel der Panzerwelsexperte Dr. Isaac Isbrücker ein, der sich mit seinem Taschenmesser dicke Scheiben von einem Stück Blutwurst abzusäbeln pflegte. Hier gab es unverkennbare Parallelen.
Dann stellte sich mir der ältere der beiden vermeintlichen »Handwerker« bescheiden lächelnd als Professor Lohmann vor („Kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand!"). Auch sein Kollege schüttelte meine Hand mit ausgesprochener Herzlichkeit.
„Dr. Stolze", sagte er lachend. „Wir sind die beiden letzten Botaniker hier im Institut." Damit war das Eis gebrochen, und ich verdanke es der nachdrücklichen moralischen Unterstützung dieser Butterbrot-Fans, dass ich nach meinem turbulenten Auftakt am IfM nicht schon nach wenigen Wochen das Handtuch warf. Ihre ironischen Frotzeleien gaben mir täglich neuen Mut. In der akademischen Muppet Show mit menschlichen Darstellern entsprachen die beiden Botaniker nahezu perfekt den Balkonfiguren Waldorf und Statler.
Trotz Schweigeanweisung berichtete ich ihnen von meinen Begegnungen mit Prof. Rohwedder, und erfuhr im Gegenzug, was ich bereits vermutet hatte - dass ich kein Einzelfall war und die Anzahl haarsträubender Anekdoten rund um den stofftierfixierten Institutsleiter einen mehrteiligen Sammelband hätten füllen können. Es gab anscheinend niemanden, der nicht mit dem großen Ego-Monster Rohwedder Bekanntschaft gemacht hätte.
Man klopfte mir auf die Schulter und freute sich aufrichtig, dass es endlich einmal jemand gewagt hatte, dem Chef die Stirn zu bieten. Waldorf und Statler kommentierten die Liveauftritte der beteiligten Muppets mit schwarzem Humor, diesem seit Urzeiten genutzten hochpotenten Allheilmittel. Humor verschafft Distanz; das schüttelnde Lachen, das er hervorruft, kann in Konfliktsituationen Verkrampfungen und Anspannungen lösen. Wir gackerten uns schlapp, wenn ein neuer Rohwedder-Schwank die Runde machte. Und es gab jede Menge zu lachen.
Nach unserer ersten konfrontativen Ausprache bestand Rohwedder darauf, dass wir uns wieder siezten. Vermutlich war ich ihm nicht geheuer, und die Rückkehr zur förmlichen Anrede diente ihm als Schutzmaßnahme. Wir versuchten beide unsere gemeinsamen Auftritte in der Muppet Show normal und unauffällig zu gestalten. Businesses as usual, jedoch radikal auf die unvermeidlichen Berührungspunkte reduziert.
Manchmal rief er mich an und „bat" mich um ein Gespräch („Wir müssen uns über Ihren DFG-Antrag unterhalten. Haben Sie um 16 Uhr Zeit?"). Ich musste zunächst im Vorzimmer warten, bis Frau Anger vom „Chef" aus dessen angrenzendem Dienstzimmer telefonisch das Signal erhielt, mich einzulassen. Dabei war der Chef nicht mehr als fünf Meter von seiner Sekretärin entfernt.
Rohwedder saß auf einem auffallend hohen Bürodrehstuhl an einem edlen Designer-Schreibtisch und starrte gebannt auf einen ausladenden, weißen Apple-Monitor. Es vergingen einige Momente, bevor er kurz aufblickte und einige Satzfragmente in meine Richtung nuschelte.
„Herr van Rij! … bin gleich soweit … muss eben noch … abschließen … wichtig … nehmse Platz!" Die einzige Sitzmöglichkeit bot ein rotes Ledersofa, das seltsam verloren an der Eingangswand stand.
Sich in dieses Sofa zu setzen erforderte einen unbeholfen wirkenden Bewegungsablauf, da die Sitzfläche vergleichsweise tief lag und außerdem zur Rücklehne hingeneigt war. Der Chef hämmerte indessen hochkonzentriert auf seiner Tastatur herum, bis er sich nach einigen Minuten endlich dazu bequemte, mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Durchschnittlich vergingen gut fünf bis zehn Minuten bis es zum eigentlichen Gespräch kam.
Zurück im Flachbau berichtete ich den letzten Botanikern von meinen Chefgesprächen und dem roten Ledersofa.
„Ja, ja. Seine psychlogische Kriegsführung kennen wir!", meinte Prof. Lohmann trocken, und gab mit dieser Bemerkung das Startsignal für eine neue Runde heiterer Anekdoten.
Der förmliche, bescheidene Professor Lohmann war vor wenigen Jahren noch Leiter des Instituts gewesen, bevor man aus strategischen Abwägungen fand, dass ein Botanisches Institut nicht mehr zeitgemäß sei, und Rohwedder, den extravaganten Molekularbiologen, zu Lohmanns Nachfolger kürte.
Prof. Lohmann ließ uns wissen, dass Rohwedder ihm in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt habe, dass er das Mobiliar seines Dienstzimmers bewusst und aus psychologischen Erwägungen ausgewählt und platziert habe. Es ging ihm darum, Gäste möglichst klein gegenüber der erhöhten Schreibtischposition des Chefs zu positionieren, während sie auf dessen gnädige Zuwendung warteten.
„Er muss jedem beweisen, dass er der große Zampano ist!", meinte Herr Edler aus der Metallwerkstatt.
Dr. Stolze sah ihn verschmitzt an. „Wahre Größe kommt von innen, Herr Edler. Früher ritten die Herren auf hohen Rössern, heute sitzen sie auf hohen Bürostühlen."
Erinnerungen
09.03.2006, Deutschland
Mitte Januar 2006 spazierte ein Mann in mein Flachbau-Refugium, den man auf Anhieb mögen musste. Prof. i. R. Klaus Echtler war mit einer einnehmenden äußeren Erscheinung gesegnet. Sein Aussehen erinnerte mich an die Lockenhäupter der vorsokratischen Philosophen, deren Abbildungen ich in einer Powerpoint-Vorlesung verwendete hatte.
Klaus Echtlers charismatische Strahlkraft entfaltete sich in dem Moment, in dem er zu sprechen begann. Was Echtlers Zuhörer in seinen Bann zog, war das sinfonische Zusammenspiel seiner Stimmlage (hoch und leicht krächzend mit klarer Diktion) und seines bedächtigen, genussvollen Sprachtempos mit exquisiter Syntax. Dazu kamen tiefgründige, wohldurchdachte Gesprächsinhalte und Formulierungen. Er schien sich seiner Wirkung auf andere bewusst zu sein, und neigte zu langatmigen Erörterungen. Ich musste unwillkürlich an John Holsinger denken. Ungehemmte Geschwätzigkeit scheint ein Laster zu sein, dem in besonderem Maße Lehrer und Dozenten anheimfallen (mich selbst eingeschlossen).
Salbungsvolle Egozentriker können anstrengend sein. Professor Echtler war eine Ausnahme, seine Gesprächsbeiträge hatten Biss, sie waren kernig. Ich erfuhr, dass er mit den akademischen und politischen Gepflogenheiten der SU bestens vetraut war. Er erzählte mir, er habe 1966 als wissenschaftlicher Assistent am Zoologischen Institut der SU begonnen und sei der Universität 36 Jahre lang treu geblieben. Vor drei Jahren habe er das Pensionsalter erreicht und seine wissenschaftliche Laufbahn als Hochschullehrer abgeschlossen. Doch er sei noch viel auf Reisen, nehme Einladungen zu Vorträgen an, so wie heute, dafür sei er eigens aus dem hohen Norden angereist.
„Man hat mich aus dem tiefen Ruhestand wiedererweckt", erklärte Echtler spitzbübisch. „Sie haben mich eingeladen, um etwas über Wale zu erzählen. Eine faszinierende Geschichte, ohne Frage, ich habe mich einige Jahre intensiv damit beschäftigt. Es ist wirklich großartig, wie die neuronale Reizverarbeitung bei diesen großen Säugetieren von statten geht!", meinte der Zoologe und fuhr dann fort, verschiedene Aspekte der Gehirnleistung bei Walen und Delfinen detailliert zu beleuchten. Er gelang ihm mit geschmeidiger Eleganz in andere biologische Fachgebiete zu wechseln. Echtler war ein Generalist, ein Philantrop, der es verstand, andere mit seiner Begeisterung für die Erkundung und Erforschung der Natur zu infizieren. Die Studierenden liebten Echtlers kindliche Entdeckerfreude.
Inzwischen hatte er die Neurobiologie der Walartigen abgehandelt.
„Darum ähneln die Larven der Flussmuschel so wenig den adulten Tieren. Für Ökologen steht diese Fortpflanzungsstrategie ohne Frage auf sehr wackeligen Beinen", hörte ich Echtler sagen. Er legte eine kurze Redepause ein, um seine Betrachtungen der Flussmuschel ausklingen zu lassen. „Was erforschen Sie und ihre Studenten denn hier in ihrem Exil, wenn Sie mir diese Wortwahl gestatten."
Ein wenig zurückhaltend nannte ich die Schwerpunkte unserer Arbeiten zur Systematik und Phylogenie der Arthropden. „Ich bin echt froh, dass ich meine eigene Arbeitsgruppe hier im Flachbau einrichten konnte", resumierte ich abschließend. „Wir haben unser eigenes Labor und können sogar das Elektronenmikroskop der Botaniker nutzen."
Echtler sah mich nachdenklich an. „Ja, ja, ich hatte vor einigen Wochen davon gehört, dass Sie mit dem sonderbegabten Genie, das dieser Institutsleiter zu sein glaubt, auf eine schon fast abenteuerliche Weise Bekanntschaft gemacht haben", bemerkte er grinsend. „Ihr Ruf ist Ihnen bis nach Norddeutschland vorausgeeilt. Wie man hören kann, arbeiten die akademischen Buschtrommeln auch über größere Entfernungen hinweg recht zuverlässig."
Mit diesen Worten beugte sich Klaus Echtler verschwörerisch zu mir vor. Seine Augen funkelten herausfordernd, Echtler beherrschte die Kunst der Redepause aus dem Effeff.
„In leitende Positionen", fuhr er fort, „gelangen in diesem Land leider Gottes sehr selten Menschen, die sich am besten dafür eignen. Die meisten Führungspositionen werden von Zeitgenossen besetzt, die dafür denkbar unqualifiziert sind; ihr einziger Verdienst ist, dass sie dem richtigen Netzwerk angehören. Doch, doch! Sie lachen, aber es ist schlimmer als Sie sich das in ihren kühnsten Träumen ausmalen könnten! Es sind nicht nur die großen Bünde und Service-Clubs, die Rotarier und der Lions Club, die jeder kennt. Es gibt neben den Burschenschaften unzählige dieser Männervereine, von denen man nicht viel hört. Sie finden sie überall! Im ganzen Land gibt es neben den großen Clubs noch lokale Verbände, sie sind sogar in kleineren Städten vertreten. Sie verschaffen sich Macht und Einfluss durch die Anwerbung einflussreicher Personen, halten Ausschau nach den besten Rechtsanwälten und Richtern, den besten Ärzten - oder den besten Professoren! Diese Clubs haben das Sagen, diese Männer entscheiden die wichtigen Fragen der Politik, lokal, bundesweit und sogar international."[1] Falls jemand diese Dinge gerne isst: ich war kein einfaches Kind.
Hier und Jetzt
Echtlers Worte klangen noch lange in Lulan nach. Ihm war bekannt, dass Deutschland im internationalen Korruptionsindex nur eine mittelmäßige Position einnahm und irgendwo hinter den skandinavischen Staaten, den Niederlanden und Singapur rangierte. Die Behauptungen des Zoologie-Professors gingen jedoch weit über das hinaus, was er sich in seinen lebhaftesten Fantasien ausmalen konnte. Er ahnte, dass Echtlers Schilderungen zutreffen könnten, nicht zuletzt, weil Lulan selbst zufällig einen Monat zuvor eine Einladung zu einem „zwanglosen Club-Treffen" erhalten hatte. Genau wie in Echtlers Beschreibung. Lulan hatte der Sache seinerzeit keine Bedeutung beigemessen und nicht weiter darüber nachgedacht. Nach Echtlers Enthüllungen sah er das diskret an ihn herangetragene Angebot mit anderen Augen.
Die Einladung ehrte ihn, doch er lehnte sie spontan höflich ab. Die Vorstellung einem Club privilegierter Einflussnehmer anzugehören, um dadurch die eigenen Karrierechancen zu verbessern, ging gegen alles, woran Lulan glaubte. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit.
Er hatte bisher unabhängig und frei gelebt. Keine Karriere kann so verlockend sein, dass ich dafür meine Ideale verraten würde, dachte er, als er das Angebot zu einer Elite zu gehören selbstgerecht ausschlug. Lulan, der Ritter der Tafelrunde, der standhaft die Unterdrückten und Entrechteten der Erde verteidigte. In Wirklichkeit war er blind vor Egostolz, ein verblendeter Don Quixote, nicht erkennend, dass er längst dabei war seine spirituellen Werte zu verraten.
Statt sich selbst zu erkennen, sah er, dass im Deutschland des neuen Jahrtausends eine Hand die andere wusch, und dass sich die größeren Ego-Monster gegenseitig zu Leitungspositionen verhalfen. Für Lulan war Rohwedder ein größenwahnsinniger Narzisst.
Rohwedder wiederum hielt Lulan für einen Nestbeschmutzer, nachdem der Juniorprofessor die ihm zugedachte Muppet-Rolle abgelehnt hatte. Rohwedder funktionierte in einem System, das ihn gewähren ließ, wenn auch vermutlich zähneknirschend, denn man konnte dieser Körperperson nicht über den Weg trauen. Man musste befürchten, dass er imstande war blamable Katastrophen loszutreten. Der Präsident der SU deutete Lulan gegenüber an, dass Rohwedder nach der Stofftieraffäre eine unmissverständliche Ermahnung erhalten habe (Lulan fragte sich, ob es wohl eine Abmahnung gewesen sein könnte), trotzdem bestätigte er gleichzeitig die Unantastbarkeit des IfM-Chefs. Solange dieser keine Verbrechen begehe, seien sogar ihm, dem Präsidenten der SU, die Hände gebunden.
Lulan traktierte den Präsidenten mit langen Briefen, in denen er seine Scharmützel mit Rohwedder detailgetreu wiedergab. Einer dieser Briefe war mit vier Seiten nicht ganz so weitschweifend wie die beiden vorherigen; er begann mit den Worten Lieber Herr Präsident, hiermit möchte ich Ihnen kurz die neuesten Entwicklungen (…) mitteilen.
Der Präsident sagte Lulan in klaren Worten seine persönliche Unterstützung zu, und versicherte ihm, dass er seine sechsjährige Juniorprofessur bis zum letzten Tag ableisten könne. Dafür war Lulan dem SU-Präsidenten dankbar. Dennoch bildete er sich ein, dass der Präsident ihn insgeheim für eine unschöne Trübung der harmonischen universitären Eintracht mitverantwortlich machte.
Es sei ganz wichtig in dieser Angelegenheit nicht an die Presse zu treten, verkündete der Präsident bei ihrem ersten Treffen; man würde den Konflikt intern lösen. Sich an die Öffentlichkeit zu wenden, die Geschichte publik zu machen, war in der Tat Lulans ultimative Trumpfkarte. Bei einer weiteren Eskalation wäre er zu diesem Schritt ohne wenn und aber bereit gewesen. Der oberste Dienstherr an der SU schätzte die Lage durchaus realistisch ein.
Der Präsident war ein höflicher, entgegenkommender Mann. Er trug eine dezente Goldrandbrille. Schlips und Kragen saßen makellos. Zur Abwechslung erlaubte er sich gelegentlich Outfits in saloppen Jagdpächterfarbtönen oder auch mal einen angelsächsischen Tweed. Während einer ihrer Begegnungen ließ er Lulan wissen, dass man vor Kurzem anlässlich einer Jubiläumsfeierlichkeit „drei Ochsen verkocht" habe. Der SU-Präsident hatte Freude an der Muppet Show.
Die Juniorprofessur bot eine Karriere-Chance, die Lulan nicht tatenlos scheitern lassen wollte. Der Präsident konnte Kraft seines Amtes über Recht und Unrecht urteilen, auch in Lulans Angelegenheit; er hätte sich entscheiden können interne Dienstverstöße mit unmissverständlicher Entschiedenheit zu ahnden, stattdessen bevorzugte er eine konservative Schadensbegrenzung.
Von Natur aus ein vorsichtiger Mensch, hatte er gelernt leise zu treten. Denn über ihn wachte eine noch höhere Macht, die im Verborgenen agierte. Der Stiftungsrat der SU war ein geheimnisumwittertes Gremium von notablen Rechtsanwälten, Aufsichtsräten und Politikern, die den meisten SU-Mitarbeitern nicht näher bekannt waren. Dies waren die Muppets hinter den Kulissen.
Als Privilegierter ist man vorzugsweise konservativ. Es gilt zu bewahren und zu beschützen, was man hat und was man ist. Rohwedder musste Teil eines einflussreichen konservativen Netzwerkes sein, er saß fest in seinem Chefsessel - und er war sich dieser Tatsache bewusst. Es hätte Lulan nicht gewundert, wenn Rohwedder und der SU-Präsident ihre Herrenabende in den Büffelledersesseln des gleichen Muppet-Clubs verbrachten.
Lulans Hoffnung, nach Ablauf der sechsjährigen Juniorprofessur von der SU in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden, war vom ersten Tag an eine Illusion.
Prof. Rohwedder war bei vielen seiner Mitarbeiter durchaus beliebt. Und seine Einschätzung, ein legerer Umgangston kaschiere in Deutschland zu Beginn des 21sten Jahrhunderts lediglich vorhandene hierarchische Gesellschaftsstrukturen traf den Nagel auf den Kopf. Vielleicht war Rohwedder sogar ein liebenswerter Mensch. Leider sah sich Lulan außerstande, diese Seite seines Wesens zu entdecken.
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