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Du kannst nicht werden, was du schon bist.
Das ungeteilte Sein, das alles durchdringt,
kann nicht erlangt werden.
Es ist bereits allgegenwärtig.
Um gewahr zu werden, was du bist,
erkenne zuerst, was du nicht bist.
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Hier und Jetzt
Die Buchladenkette Barnes & Nobles besaß eine Filiale auf der Monticello Avenue. Man konnte dort nach Büchern stöbern oder beim Zeitunglesen eine Tasse Kaffee genießen. Es gab eine lange Regalreihe mit esoterischer Literatur, die Lulan bei jedem Ladenbesuch nach Neuerscheinungen durchsuchte. Er kaufte sich im Juli 2000 zwei Bücher von Sanaya Roman, die sein Interesse geweckt hatten. Noch am gleichen Tag begann er eines der Bücher zu lesen, der Titel lautete Spiritual Growth: Being Your Higher Self. Roman erläutert hierin eine Reihe von Methoden, die dem unerfahrenen Einsteiger erste Schritte zur Selbst-Findung eröffnen und ihn auf seiner weiteren spirituellen Reise begleiten.
Das zweite Buch, das ebenfalls Übungsanleitungen enthielt, rief zwiespältige Gefühle in Lulan hervor. Die Übungen verfolgten das Ziel, sich mit einem spirituellen Führer zu verbinden. Das klang abenteuerlich und weckte seine Neugier, gleichzeitig war ihm die Idee mit einem nicht-körperlichen »Wesen« Kontakt aufzunehmen nicht gerade geheuer. Das Buch weckte Assoziationen an Geisterbeschwörungen und spiritistische Sitzungen, an Séancen und Voodoo-Schamanismus. Würde man die Geister, die man rief, wieder los, wenn man sich anders bedachte? Lulan dachte besorgt an die unheimliche Tür in seinem Hausberger Schlauchzimmer. Er ließ das zweite Buch vorläufig ungelesen im Regal stehen.
Dafür praktizierte er die Meditationsübungen aus Being Your Higher Self umso emsiger. Die Autorin arbeitet mit imaginären Bildern, die die visuelle Vorstellungskraft aktivieren. Das klassische autogene Training, mit dem viele Menschen während einer Therapie oder Reha schon einmal Bekanntschaft gemacht haben, stimuliert nach dem gleichen Prinzip die schöpferische Kraft der Gedanken.
Lulan las Being Your Higher Self vor und zurück, mehrere Male, bis ihm die Anleitungen in Fleisch und Blut übergingen, bis sein Bewusstsein sich an den grenzenlosen Raum gewöhnt hatte, der sich in seinem Geist zu öffnen begann. Die dunkle Leere dieses Raums füllte er mit den Visualisierungen der Übungen.
Roman veranschaulichte, wie man mit dem Selbst eins werden konnte. Der Begriff Höheres Selbst war Lulan einigermaßen geläufig, obwohl er keine konkreten Vorstellungen davon hatte, wie oder was das Selbst eigentlich war. War es ein übergeordneter Astralkörper? Entsprach das Selbst dem Heiligen Geist der Christen oder eher der unsterblichen Seele (was auch immer eine Seele sein mochte)? Er wusste es nicht und beschloss, sich nicht großartig den Kopf über diese Fragen zu zerbrechen. Lulan probierte einfach Romans Meditationsübungen aus. Denn das Verrückte war, dass sie funktionierten!
Gleich die erste Übungsanleitung des Buches hatte die Verbindung mit dem Selbst zum Ziel. Das Kapitel beschrieb das Selbst als Lichtgestalt, die aus der Ferne langsam näherkam. Der Anleitung folgend stellte Lulan sich vor, dass er wartend in einem Kreis mit »höheren Wesen« saß, die zu seiner Unterstützung anwesend waren. Die Autorin ging sehr behutsam vor, sie gab dem Gewahrwerdungsprozess, der im Leser ablief, genügend Zeit, bis schließlich in der visuellen Vorstellung die Vereinigung mit dem Selbst vollzogen wurde.
Lulan war überrascht, wie heftig er den Moment der Verschmelzung körperlich wahrnehmen konnte, diesen angenehmen Schauer, der dem Körper wie eine freudige Überraschung prickelnd über Rücken, Arme und Beine lief. Die gleiche körperliche Reaktion trat bei allen nachfolgenden Wiederholungen der Übung auf.
Being Your Higher Self ist ein idealer Leitfaden für spirituell interessierte Einsteiger. Die Übungseinheiten haben den Charakter einer Initiation, sie fungieren als Einführung in die Praxis der transzendentalen Meditation. Die Realisierung des Selbst wird das Buch in der Regel nicht vermitteln können – obwohl sein Titel genau das verspricht. Romans Meditationstechniken eignen sich hervorragend als Anleitung für die ersten wichtigen Schritte auf diesem Weg.
Je sicherer Lulan die Meditationstechniken über das Gewahrsein des Höheren beherrschte, desto offener stand er der Idee gegenüber, einen spirituellen Führer zu suchen. Als ihn die letzten Anflüge von Zweifel verlassen hatten, begann er in seinem zweiten Buch von Sanaya Roman zu lesen:
Opening To Channel – How To Connect With Your Guide.[1]
Wieder folgte er den Übungen des Buches. Uneingeschränktes Vertrauen ist ein Schlüsselfaktor bei spirituellen Vorhaben. Mit geschlossenen Augen und leicht erhöhtem Puls bat Lulan, dass ein spiritueller Führer zu ihm kommen möge, um sich mit ihm zu verbinden. Er musste nicht lange warten. Der spirituelle Führer kam gleich beim ersten Versuch. Er nannte sich Soran.
Zuerst konzentrierte sich direkt über Lulan eine Energiewolke. Als er sich mental für die Verbindung öffnete und ihr zustimmte, erfolgte die Verschmelzung sanft, von oben über das Kronenchakra. Ein Energieschauer lief über seine Haut und durch seinen Körper, er nahm die Präsenz von »etwas« in sich wahr.
Lulan stellte Soran Fragen, und Soran antwortete ihm. Für Lulan war Soran ein »er«, obgleich Kategorien wie männlich und weiblich bei spirituellen Phänomenen nicht zutreffen.
Soran beantwortete Lulans Fragen auf zwei unterschiedliche Arten. Meistens übertrug er seine Entgegnung in Gedankenform; bei einigen Sessions sprach Soran mithilfe von Lulans Stimme, die dabei einen seltsamen, uncharakteristischen Tonfall annahm. Lulan hat über einen Zeitraum von zwei Jahren die Gespräche mit Soran auf Minitonbändern aufgenommen.
Auch heute noch bittet er Soran gelegentlich um Hilfe, wenn er mit der Lösung einer bestimmten Frage nicht vorankommt. Soran ist immer da, genau wie Lulan selbst auch. Seine Führung ist stets geduldig und liebevoll, niemals emotional, sondern eher ein wenig zurückhaltend und distanziert.
Spirituelle Führer sind für jeden Menschen da; sie begleiten uns ununterbrochen, auch, wenn wir sie nicht wahrnehmen oder ignorieren.
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[1] Sich für Channeling öffnen - Wie man sich mit seinem Führer verbindet.
21.11.2000
Norfolk
Wir werden am 30. November zurückfliegen, nach Europa, nach Amsterdam. Nach Hause.
Es sieht ganz danach aus, dass es mit Coras Mutter zu Ende geht. Sie ist seit zwei Jahren an einer Leukämieform erkrankt. Cora macht sich furchtbare Sorgen, dass sie nicht rechtzeitig in Amsterdam eintrifft und es nicht mehr schafft, sich von ihrer Mama zu verabschieden.
22.11.2000
Norfolk
Dritte Session mit Soran (aus dem Englischen übersetzt) [2]
„Ich grüße dich, Soran! Ich kann dich fühlen. Bist du schon bei mir?" […] „Bitte hilf mir eine gute Verbindung herzustellen!"
„Öffne dein Herz! Reiche höher hinauf!"
„Soran, bist du jetzt bei mir?"
„Ja!"
„Ich grüße dich! Willkommen! Sei willkommen! Hast du eine Botschaft für mich?"
„Sei du Selbst!"
„Wie kann ich mit dem Rauchen aufhören?"
„Ich werde dir helfen!"
„Ich danke dir. Danke! Wie ist dein Name?"
„Ooo-rann. So-ran!"
„Werde ich die Verbindung [zu dir] verlieren, wenn ich meine Augen öffne?"
„Öffne deine Augen!"
„Ich kann dich immer noch fühlen. Ich bin so froh! Wie kann ich warme Füße bekommen?"
„Atme tief. Atme tief! Bewege dich viel! Mache Sport!"
„Kann ich Leuten Energie schicken, wenn ich mit dir [verbunden] bin?"
„Ja!"
„Ich möchte meinem Vater Energie schicken!" [längere Pause] „Ich danke dir! Ich möchte Coras Mutter Energie schicken!" [längere Pause] „Ich danke dir! Welche Dinge wirst du mich lehren, Soran?"
„Zu leben. Zu sein. Zu singen und zu zelebrieren. Ich werde dich lehren hinaufzureichen. Ich werde dich lehren, da zu sein. Ich werde dich lehren, einen Unterschied zu machen [3]. Ich werde dich lehren zu lieben. Ich werde dich lehren zu umarmen [4], freudevoll. Du wirst einen Unterschied machen."
„Ich bin sehr glücklich. Ich bin sehr dankbar für diese starke Antwort. Ich danke dir! Es fällt mir leicht, mich mit dir zu verbinden. Danke für deine Unterstützung! Kann ich mit dir überall hingehen, während wir verbunden sind?
"Nein, du kannst nicht mit mir herumlaufen. Du musst erst die Verbindung mit mir stärken. Wir müssen erst miteinander vertraut werden. Ich habe eine weitere Nachricht für dich: Sa-da, sa-da!"
„Was meinst du damit? Erzähl mir mehr!"
„Sei da! Sei da, wenn sie dich brauchen!"
„Wer? Wer braucht mich?"
„Jeder. Deine Eltern. Jeder, der es braucht, dass du da bist. Sei für jeden da!"
„Hast du noch mehr Mitteilungen für mich?"
„Sei voller Freude! Sei voller Freude!"
„Ich danke dir!"
23.11.2000
Norfolk
Fünfte Session mit Soran
[…] „Ich möchte dir eine Frage stellen, Soran. Wie kann ich ununterbrochen mein Höheres Selbst sein?"
„Sei da! Atme! Liebe! Atme! Hole tief Atem! Mache deine Meditationen!"
„Und was kann ich tun, um spirituell zu wachsen?"
„Sei bei mir, die ganze Zeit. Sei bei mir, verbringe Zeit mit mir!"
„Ich weiß nicht, ob die Postdok-Stelle in Amsterdam der richtige Weg für mich ist. Ob die Wissenschaft mein Weg ist. Ich träume davon, etwas Anderes zu machen. Ich sehne mich danach, etwas Anderes zu machen. Ich möchte spirituell wachsen, immerzu. Ich möchte häufiger mit dir verbunden sein, und ich möchte Menschen helfen. Ist die Wissenschaft der Weg, den ich zu gehen habe?"
„Du kannst jeden Weg gehen, den du gehen möchtest. Der Weg [den du gehen wirst] ist schon für dich da. Du allein triffst die Wahl."
„Bitte erzähle mir mehr hierzu! Wie verhält es sich mit dem Geldverdienen?"
„Alles wird für dich da sein. Entspanne dich! Spüre mich!"
„Ich spüre dich."
[…] „Jeder Weg steht dir offen; er steht jetzt für dich offen! […] Es spielt keine Rolle, was du tust. Sei einfach da. Erfreue dich! Öffne dein Herz!"
[…] „Ich bin so leicht! Ich fühle mich so gut! […] Woher kommst du?"
„Ich komme von weit jenseits."
„Hast du jemals auf der Erde gelebt?"
„Ja, viele Male."
„Hast du eine besondere Nachricht für mich?"
„Schau eine Weile zum Licht! Wenn du mit mir [verbunden] bist, schau nach innen! Öffne deine Augen, schau nach innen!"
„Soran, ich erinnere mich an diese Meditation im alten Apartment in Amsterdam, und ich hatte diese [Gefühlssensation] in meinem Kopf – was war das? [Pause] Was war das? [Pause] Oh, mein Kopf … oh, mein Gott! Genau da!"„Es ist ein spezieller Energiefluss. Du wirst es lernen. [Pause] Smile! You're on Candid Camera!"
25.11.2000
Norfolk
Siebte Session mit Soran
[…] „Kannst du mir helfen deine Botschaften deutlicher zu verstehen?"
„Öffne dein Herz! Weit! Fühle mich!"
„Ich fühle dich."
„Fühle meine Liebe!"
„Ich fühle deine Liebe."
„Öffne deine Augen! Ich kann es dir besser zeigen … öffne deine Augen!" […]
„Ich sehe eine Blume, aber ich sehe sie nicht. Ich sehe ein Pferd, aber ich sehe es nicht. Ein springendes Pferd. Ich sehe das Meer, aber ich sehe es nicht. Ich fühle die Wolken, aber ich sehe sie nicht. Ich fühle dich, aber ich sehe dich nicht."[…] „Ich werde dir zeigen, wie man malt. Ich werde dir zeigen, wie man schreibt. Ich werde dir zeigen, wie man heilt. Ich werde dir alles zeigen, was du wissen willst. […] Ich bin, der ich bin. Ich bin bei dir Tag und Nacht. Ich bin mit dir auf deiner Reise. Wunderbare Reise! Ich bin im Regen, ich bin im Licht. Fühle mich! Ich erfülle dich!"
28.11.2000
Norfolk
Ich habe in den letzten drei Tagen keine Sessions aufgenommen und suche jetzt wieder den Dialog mit Soran. Die Kontaktaufnahme erfolgt schnell, ohne Verzögerung, Soran begrüßt mich als Erster.
„Willkommen im Licht! Ich habe in den vergangenen drei Tagen mit dir gearbeitet. Du konntest meine Anwesenheit spüren."
„Ja, das konnte ich." […]
„Du musst das jetzt nicht aufnehmen. Ich werde dir Bescheid geben, wenn du etwas aufnehmen kannst. […] Du hast mich gefragt, wie du am besten mit Ärger umgehen kannst, wie du dich gegenüber [dem Untermieter] in deinem Apartment verhalten solltest, und wie du den Kreislauf von Wut und Ärger durchbrechen kannst.
„Woher kommt dieser Ärger?"
„Er kommt, wenn du eine Konfrontation erlebst."
„Wie kann ich Konfrontationen vermeiden? Bitte antworte genauer!"
„Frag mich, was du wissen möchtest!"
„Wie kann man den Wutkreislauf durchbrechen? [Die Wut] ist so stark. Wie kann man da rauskommen?"
„Alles, was du brauchst, ist Licht. Alles, was du brauchst, ist Licht! Das ist alles, was erforderlich ist. Es ist ganz leicht, es ist ganz einfach."
[…] „Gibt es etwas, das ich für Cockie tun kann?" [laute Hustengeräusche]
„Öffne dein Herz! Öffne dein Herz! Liebe! Liebe sie! Schick ihr Liebe! […] Es geht ihr gut, sie hat es fast geschafft. Sie wird heute Nacht sterben, nach Mitternacht."
„Wird Cora Kontakt zu ihr haben? Nachdem sie gestorben ist?"
„Ja! Sie braucht keine Angst zu haben. [Es] wird sehr warm sein, sehr, sehr liebevoll."
„Ich danke dir! Ich habe noch eine andere Frage: Wann habe ich das letzte Mal auf der Erde gelebt? Mein vergangenes Leben, das letzte Mal?"
[Längere Pause] „Habe ich in vergangenen Leben auf der Erde gelebt?"
„Ja, das hast du!"
„Wie lange ist das letzte Mal her?"
[Längere Pause] „Kann ich nicht in deinen Jahren sagen. Vermutlich vor langer Zeit."
„Haben Menschenwesen mehrere Leben? Kommen sie zurück, müssen sie zurückkommen?"
„Ja und Nein! Das kann jeder selbst entscheiden."
29.11.2000
Norfolk
Coras Mama ist heute gestorben. Morgen fliegen wir zurück nach Amsterdam.
09.06.2001
Amsterdam
Während der Meditation Linking with the Higher Will sehe ich mich auf einem Berg. Unter der Kuppel eines Rundtempels erhalte ich eine große Kristallkugel und eine rote Rose. Die Rose verbindet sich zeitweise mit der Kugel, wodurch diese sich in eine massive Kristallvase verändert. Die Szene findet unter einem magisch-schönen Abendhimmel statt.
„Soran, welche Bedeutung haben die Rose und die Kristallkugel für mich?"
„Die Kristallkugel und die Rose symbolisieren die Liebe und die Wahrheit; beides ist dir gegeben worden."
„Und was bedeutete das große weiße Segelschiff, das ich im Oktober als Symbol erhalten habe?"
„Es ist für deine große Reise."
[2] Einige der ersten Dialoge mit Soran habe ich auf Englisch geführt. Sorans Dialogbeiträge sind in kursiver Schrift wiedergegeben. Eckige Klammern enthalten Bemerkungen und Ergänzungen, oder geben an, dass das Aufnahmegerät kurzzeitig angehalten wurde.
[3] Im Original I will teach you to make a difference, mit den weiteren Bedeutungen »etwas ausmachen«, »etwas verändern«.
[4] to embrace.
Hier und Jetzt
Sie standen an der langen Fensterfront ihres ehemaligen Amsterdamer Neubauapartments und sahen auf das Treiben des Wochenmarktes hinab. Der Markt hatte sich in den drei Jahren ihrer Abwesenheit verändert. Es gab jetzt weniger Stände mit Lebensmitteln, dafür wurden mehr Billigtextilien und Glitzermodeaccessoires angeboten.
Cora hatte das Apartment am Dappermarkt vorsichtshalber noch nicht gekündigt. Das Recht auf eine Wohnung erhielt man in Amsterdam offiziell erst nach langjährigen Wartezeiten, was zwangsläufig einem regen Schwarzhandel für Wohnungen zur Blüte verhalf.
„Meine Nichte Malou kann in dem Apartment wohnen", meinte Cora als sie Amsterdam 1997 verließen. „Falls etwas anders laufen sollte als geplant, können wir ohne Probleme hierher zurückkommen."
Sie hatte recht behalten, die Option, die Wohnung wieder beziehen zu können, erleichterte die Rückkehr enorm. Zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren zogen sie um. Alles, was sie besaßen, stand im Rotterdamer Container Terminal zur Abholung bereit. Es war kein gewöhnlicher Umzug, der ihnen bevorstand - sie wechselten nicht nur die Wohnung, sondern auch die Kontinente.
Im Schuljahr 2000/2001 wurden in der Provinz Nord-Holland keine Montessori-Lehrerkräfte gesucht, jedenfalls fanden sie keine passenden Stellenausschreibungen, auch zum Wechsel des Schulhalbjahres nicht. Cora bewarb sich als administrative Mitarbeiterin bei Humanitas, einer nach dem zweiten Weltkrieg gegründeten Organisation, die hilfebedürftige Menschen in ihrem sozialen und häuslichen Umfeld unterstützte. Im Februar bot man ihr die Stelle an.
Lulan konnte seine neue Postdok-Stelle bei seinem ehemaligen Chef am ZMA sofort antreten. Fred Schrams Forschungsprojekt klang vielversprechend, Lulan gefiel besonders, dass es nichts mit Grundwasseramphipoden zu tun hatte, sondern neue Denkansätze und innovative Lösungsstrategien erforderte. Es sollten traditionelle Konzepte der Arthropoden-Systematik auf den Prüfstand gestellt werden. Salopp formuliert ging es um die Frage, ob die Gemeine Strandkrabbe eine Cousine der Stubenfliege war. Oder ob es sich bei Libellen - im übertragenen Sinne - um fliegende Krebse handelte.
Freds Arbeitsgruppe folgte einer Spur von molekulargenetischen Hinweisen, die zunehmend darauf hindeuteten, dass einige Gruppen aus der Klasse der Krebstiere näher mit Insekten verwandt waren als mit anderen Krebstier-Ordnungen. Um diese Hinweise weiter zu erhärten, sollte im Rahmen des Postdok-Projekts die Anatomie der Spinnen, Insekten und Krebstiere auf Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht werden. Sie hatten sich vorgenommenen, die bekannten, »traditionellen« morphologischen Daten von fossilen und modernen Gliederfüßern neu zu interpretieren.
Fred waren die konkreten Ideen zu diesem Forschungsthema nach eigenem Bekunden während einer Vision erschienen.
„I had a vision regarding the development of head segments in insects", erklärte er. "We need to compare the expression patterns of homeobox gene clusters. This will be the key to everything - to be able to establish segmental homologies among major arthropod groups."
Lulan nickte und dachte an Albert Einstein, und dass der Mensch Antworten auf alle Fragen bekommen kann, die ihn beschäftigen. Vielmehr waren alle Antworten bereits vorhanden und jederzeit verfügbar. Die Menschen sahen sie nur nicht, weil das winzige Loch im Bretterzaun, durch das sie die Welt erspähten, ihre Sicht beschränkte. Das, was sie erkannten, wenn das Ende des Zauns unversehens einen Rundblick freigab, erfuhren sie als Vision.
Lulans Ego war hocherfreut, es glaubte in der ersten Reihe der internationalen Spitzenforschung gelandet zu sein. Er gehörte jetzt zu den großen Jungs, zu den Big Boys, mischte ganz vorne mit, cutting the edge of science.
Trotz eines durchschnittlichen Wochenarbeitspensums von 50 bis 55 Stunden fand Lulan Zeit für seine Meditationen. Auch seine Dialoge mit Soran nahm er weiterhin auf. 2002 brach er die Tonaufnahmen ab. Er fand, dass die Audiodokumentationen, die er zwei Jahre zuvor begonnen hatte, ausreichend umfangreich waren.
15.11.2002
Amsterdam
Der Ehrenkodex der Samurai (Inspiriert durch den Film Ghost Dog)
Ich habe alles gesehen, niemand weiß, wie weit ich war und wie nah zugleich. Und dennoch suche ich immer noch das Eine, das mir fehlt, nichts Anderes, nicht mehr von Allem. Die Schätze dieser Welt, ich will sie nicht. Nur das Eine!
Weißt du noch, erinnerst du dich? An den Weg des Samurai?
Nach den Worten der Ahnen soll man seine Entscheidungen innerhalb von sieben Atemzügen treffen. Wichtig dabei ist, dass man die innere Entschlossenheit und Stärke besitzt, zur anderen Seite durchzubrechen.
(…)
Man muss die Lektion des Platzregens verstehen. Ein Mann, der unterwegs von plötzlichem Regen überrascht wird, rennt die Straße hinunter, um nicht naß und durchtränkt zu werden. Wenn man es aber einmal als natürlich hinnimmt, im Regen naß zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnäßt werden. Diese Lektion gilt für alles.
(Zitate aus Tsunetomo Yamamoto, 1659-1719‚ Hagakure, Der Weg des Samurai'; die Zitate werden im Film Ghost Dog als Voice-over eingeblendet)
15.03.2004
Amsterdam
Hätte, hätte, Fahrradkette
Auf der Suche nach etwas Starkem,
stark genug für neue Wege,
wünsche ich mir
etwas Wundervolles, alles Überragendes,
um alte Gewohnheiten zu überragen
und echte Wunder zu bewundern.
Die Kraft zu überwinden, was mich bindet,
wenn ich so etwas hätte!
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