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Was ist es, das dein Herz begehrt?
Gib dem Ego, wonach ihm verlangt,
und die Welt mag dir zu Füßen liegen,
doch das Licht des Himmels wird verschleiert sein.
Der Weg des Egos führt nicht zum Licht.
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Hier und Jetzt
Lulan war nach der Rückkehr aus den USA auf seiner spirituellen Suche weiter gekommen als er ahnte. Was er eigentlich suchte, war ihm nicht deutlich bewusst. Dabei suchte er schon sein Leben lang, seit er kohärent denken konnte. Zu suchen liegt in der Natur des menschlichen Geistes, wenn man ihn gewähren lässt.
Auf seinen Bohnhorster Waldspaziergängen hatte er begonnen »anders« über Gott nachzudenken. Seine Überlegungen waren zwingender als davor, er wollte wissen, was man wissen konnte, und er musste wissen, was man wissen darf.
Gott ist ein Konzept, dachte er, eine Vorstellung, die Menschen sich gemacht haben. Wenn diese Vorstellung einen wahren Kern hat, wie muss ich mir Gott dann vorstellen?
Wenn es Gott oder ein Höheres Bewusstsein wirklich geben sollte, und dieses Höhere Sein in uns und in Allem enthalten ist, dann müsste ein suchender Mensch, der noch niemals von Gott gehört hat, in der Lage sein ohne Hilfe zu ihm zu finden – ohne religiöse Erziehung, ohne Vorkenntnisse, auch nicht aus Büchern, sondern ganz aus sich selbst heraus.
Diese Gedankenkette schien ihm plausibel. Die Aussage ist im Prinzip auch zutreffend, wenngleich ein Bewusstseinszustand „ohne Vorkenntnisse" rein hypothetisch aufgefasst werden muss. Die Entwicklung des Geistes ohne Kenntnisvermittlung durch andere, findet man nur in sehr seltenen Ausnahmefällen.
Lulans Überlegung ging von einem „suchenden Menschen" aus, und dass dieser über kognitive Kompetenzen verfügt. Der kognitiv-mentale Prozess des Suchens erfordert naturgemäß die Bereitschaft zu lernen. Den eigentlichen Ablauf des Lernens bestimmt jeder Suchende selbst. Es liegt in seiner Hand, ob er in kleinen oder großen Schritten lernen möchte. Je stärker der Wunsch zu lernen ist, desto intensiver kann sich der »Unterricht« entwickeln.
Der Körper, der nichts aus sich selbst heraus will oder vermag, ist der sensorische Vermittler aller Lernvorgänge; sein Empfänger ist das geistige Bewusstsein. Wer nicht hören will, muss fühlen, sagt ein bekanntes Sprichwort, das drastisch und unverblümt an das Gesetz von Ursache und Wirkung erinnert. Die körperliche Lerneinheit übermittelt dem Geist die Resultate seiner Gedanken und damit seines Handelns. Dieser fortwährende Rückkopplungseffekt befähigt eine Körperperson zu lernen.
Das Kind, das in eine leuchtende Kerze fasst, verbrennt sich die Finger. Lernen kann schmerzhaft sein, wenn man unwissend ist und ohne Lernbegleitung handelt. Oder wenn man nicht hören will.
Ab 2005 trat eine Veränderung ein, die Lulan nicht bemerkte, denn sie erfolgte schleichend und sehr langsam: seine spirituellen Übungen gerieten allmählich in Vergessenheit. Das Erkennen dieser Veränderung wurde zusätzlich durch den Umstand erschwert, dass sie diskret verlief und nicht linear wie Jahreszeiten oder andere Wechselvorgänge, die aufeinanderfolgen. Der Prozess glich eher dem Verlauf eines tendenziell fallenden Aktienkurses, es ging auf und ab, und die Extrempunkte lagen zunehmend weiter auseinander.
Die Veränderung kam mit der Juniorprofessur, aber war dies auch die Ursache? Die wissenschaftliche Arbeit selbst kann Lulans spiritueller Suche nicht im Weg gestanden haben. Das, was man sucht, steht ununterbrochen zur Verfügung. Nur das Ego kann den natürlichen Fluss aktiv unterbinden. Lulan wollte als Wissenschaftler erfolgreich sein und suchte nach Möglichkeiten Erfolg zu haben. Den Gedanken, dass das Streben nach Erfolg das Hauptmerkmal einer beruflichen Karriere ist, verdrängte er. Lulan glaubte über jegliches Karrierestreben erhaben zu sein.
Die Stelle als Juniorprofessor forderte in mehrfacher Hinsicht seine gesamte Kraft und Konzentration. Er arbeitete zu lange und zu viel, das übliche Spiel der Selbstausbeutung, wenn der eigenen Karriere Vorrang eingeräumt wird und das Interesse an anderen Dingen abnimmt. An anderen Dingen - und an Menschen.
Es dauert ja nicht lange, versicherte ihm sein Ego, nur bis die Datenmatrix fertig ist. In einem Jahr werde ich mehr Zeit haben, für Cora. Und für mich selbst auch. Ich werde mehr meditieren und gesünder leben. Vielleicht beginne ich damit bereits nach dem Kongress. Stress? Ja sicher, habe ich. Gesunden Stress! Mir geht es gut, die Arbeit macht mir einen Heidenspaß! Ich werde auf dem Kongress einer der Hauptredner sein.
Als Betroffener lehnt man den Vorwurf der Selbstausbeutung natürlich entrüstet ab, denn man findet seinen Job ja superspannend und erfährt enorm viel Befriedigung durch die Arbeit.
Für Sanaya Romans Meditationsübungen hatte Lulan als Juniorprofessor keine Zeit mehr. Auch die Sessions mit Soran wurden allmählich seltener. Es gab nichts, das er hätte fragen können.
Man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sein Verbleib an der SU entscheidend davon abhinge, ob er in der Lage sei, Studenten für seine Forschungsprojekte zu gewinnen. Kein Problem, fand Lulan, denn ihm fiel sofort John Holsinger ein. Er hatte seinen Doktorvater auf mehreren Höhlenexkursionen begleitet, unter anderem nach Pennington Gap, wo sie von einem beleuchteten Billboard begrüßt wurden: The Convenient Inn welcomes Captain Karst and the Dirty Old Men stand dort in riesigen Lettern. Captain Karst - unter diesem Spitznamen war der Norfolker Professor in den Appalachen berühmt und berüchtigt. Die Einheimischen kannten ihn, feixten gutmütig, wenn er zu Thanksgiving nach stundenlanger Herumkraxelei in schlammigen Stollen und glitschigen Felsspalten mit seiner verdreckten Hobbyhöhlenforschertruppe aus dem Bauch der Erde gekrochen kam, um im Convenient Inn mit reichlich Bier beim Barbecue die Abenteuer des Tages zu rekapitulieren. Kapitän Karst und die dreckigen alten Männer.
Von Captain Karst höchstpersönlich inspiriert bot Lulan in seinem Lehrveranstaltungsprogramm an der SU Höhlenexkursionen an. Der Harz, mit dessen Gipskarsthöhlen, Stollen und Schächten er vertraut war, schien ihm für dieses Vorhaben wie geschaffen. Dafür würde er die weite Anfahrt aus Süddeutschland in Kauf nehmen. Lulan nahm telefonisch Kontakt mit lokalen Behörden, Mitarbeitern des geplanten Biosphärenreservats Südharz und verschiedenen Personen aus den Harzer Bergbau- und Höhlenvereinen auf. Er rannte offene Türen ein. Man war hocherfreut, dass sich ein Wissenschaftler für die wenig beachteten regionalen Attraktionen interessierte.
10.06.2006
Samstag, 9:05, Werningerode (ergänzte Notizen)
Ich treffe Bernd Oldendorf auf einem Waldparkplatz, auf den wir uns vorher als Treffpunkt geeinigt hatten. Bernd arbeitet als Höhlen- und Fledermausexperte beim geplanten Biosphärenreservat Südharz. Er steht wartend neben seinem Jeep, dem einzigen Fahrzeug auf dem kleinen Parkplatz.
Ich steige aus meinem Leihwagen, und Bernd kommt ohne Umschweife auf mich zu, begrüßt mich mit einem breiten Lachen und ausgestreckter Hand.
„Hällou! Sie müssen der Härr Brofesser vond´r SU sein!", ruft er, und ich ordne seinen Dialekt zwischen thüringisch und sächsisch ein.
„Hallo! Und Sie sind Bernd Oldendorf!", erwidere ich.
„Genäu der ben ech! Abor wenn ech dorf, mechte ech gläuch von der färmlichen Onsproche zum »Dou« wechseln! Das wär doch dabbsch, wenn man zusamm inne Höhle kriescht und sech dobai siezt!", meint Bernd.
„Da hast du echt recht!", sage ich, erfreut über seine unkomplizierter Direktheit. „Sich unter Tage zu siezen wäre echt lächerlich!"
Bernd kommuniziert schnell, unkompliziert und unpretentiös. Und entwaffnend direkt! Die Mischung sagt mir zu. Der drahtige Mann ist hyperaktiv. Er scheint dauerhaft unter Strom zu stehen und redet in einem fort. Jedenfalls wird der Begriff »Langeweile« in seiner Gegenwart bedeutungslos.
Davon abgesehen kann Bernd Oldendorf mit fundiertem Fachwissen punkten, das er mit zahlreichen Anekdoten zu spannenden Geschichten verwebt. Er ist ein international anerkannter Fledermausexperte, außerdem kennt er sich bestens mit den geo- und ökologischen Beschaffenheiten der Harzer Gipskarstlandschaften aus.
Als ich vor fünf Tagen telefonisch Kontakt mit ihm aufnahm, um ihn als Führer für meine erste Harzer Höhlenexkursion im September zu gewinnen, schlug er ohne Umschweife das heutige Treffen vor. Bevor er sich auf Zusagen bezüglich einer Zusammenarbeit einließ, wollte er herausfinden, woran er bei mir war, einem Studierten aus der Stadt.
„Ech gönnte Ihnen nadürlech die Ibörger Dropfsteinöhle zaign", überlegte Bernd am Telefon. „Dess iss ne imbosante Schauöhle ind'r ähemohligen Westzone, ha, ha. Abo ech weiss wos Besseres: Warom kommse nech am Sonnahmt noch Wernigerode? Wir wärd'n oin stillgelähchten Stollen öffnen. Dos würd ne ganz sponnende Soche wärd'n. Nehmse sech äldere Klamottn mit – es würd dreggisch zugähn!"
Jetzt fahren wir in seinem Jeep zu diesem Stollen, der seit dem zweiten Weltkrieg verschüttet ist. Ein halbes Dutzend Männer ist schon vor Ort, Mitglieder des Wernigeroder Bergbauvereins sowie zwei Schatzsucher, die mit ihren Detektoren den Boden nach spektakulären Metallfunden abscannen. Sie kommen mir vor wie hochspezialisierte Spürhunde, stetig auf der Suche nach eisernen Pfeil- oder Armbrustspitzen, alten Münzen oder rostigen Patronenhülsen aus dem letzten großen Krieg.
„Hier ist dör Professer!", ruft Bernd allen zu. „Ihr broicht käine Ongst zu hob'n, dör baisst nech!"
Alle Augen sind auf mich gerichtet, in einigen Blicken liegt Misstrauen, das sich jedoch legt, als ich meinen Ganzkörperschlaz und den Petzl-Helm auspacke; man sieht der Ausrüstung an, dass sie häufig zum Einsatz gekommen ist.
Zwei junge Burschen bearbeiten eine Felsverschüttung mit Spitzhacken. Men at work, denke ich. Hinter den großen Gesteinsbrocken hätte ich ohne Vorwissen keinen Stolleneingang vermutet.
Bernd schnappt sich eine Spitzhacke, um einen der beiden verschwitzten Arbeiter abzulösen.
„Loss mech amol!", fordert er kurzerhand und beginnt mit wuchtigen Schlägen auf das Gestein einzuhämmern. Die vereinten Bemühungen haben Erfolg. Gegen Mittag beginnt Wasser aus dem Stollen abzufließen, zuerst ein Rinnsal, das rasch zu einem sprudelnden Bach anwächst. Über eine Stunde braucht es, bis der Abfluss endlich versiegt, dann räumen wir einen schmalen Einstieg frei. Wir leuchten mit unseren Lampen in den Eingangsbereich des Stollens, der noch immer voll Wasser steht. Nach ungefähr vier Metern biegt der Gang nach links ab.
Man bietet mir an, den Stollen als erster zu betreten. Fürwahr eine große Ehre, die ich wohl annehmen muss - die Tiefe des Höhlenwassers lässt sich nicht abschätzen, auch sieht man nicht, was einen nach der Biegung erwartet. Als ich mich mit dem Oberkörper durch den engen Einstieg zwänge, höre ich hinter mir zahlreiche Handy-Kameras klicken. Auf den Fotos dürfte das Hinterteil eines Juniorprofessors zu sehen sein, dessen vordere Hälfte in einem Erdloch verschwindet.
Das Wasser im Eingangsbereich reicht mir zum Glück nur bis zur Hüfte. Nach der Biegung ist der Stollen begehbar. Die beiden Schatzsucher sind mir nachgefolgt. Der Gang ist niedrig, wir dringen gebückt weiter vor.
Aus biologischer Sicht ist der Stollen unergiebig, es gibt keinerlei Anzeichen oder Spuren von Organismen, nicht einmal bakterielle Ablagerungen sind erkennbar. Trotzdem ist die erste Begehung nach 60 Jahren spannend. Einer der beiden Schatzsucher findet einen alten Pfeifenstiel im Schlamm, etwas weiter entdecken sie eine verrostete Grubenlampe.
Am späten Nachmittag bringt mich Bernd zurück zu meinem Leihwagen auf dem Waldparkplatz. Er öffnet die Hecktür seines Jeeps und zeigt auf leuchtendgelbe, makellose Bananen. Es sind sehr viele Bananen, eher eine kleine Staude mit mindestens 30 Früchten in einem Bund.
„Nech, doss du denkst, wür äßen ümmer noch Gurgen statt Bonanen", meint Bernd grinsend. Wir essen beide eine Banane und besprechen einige Details der Septemberexkursion.
Bernd Oldendorf wird dabei sein, er wird uns in den Austellungsräumen des Biosphärenreservats begrüßen, danach wollen wir mit den Studenten die Barbarossahöhle im südwestlichen Kyffhäuser begehen.
Hier und Jetzt
Die Idee mit den Harzer Höhlenexkursionen war der Renner. Lulan musste die Teilnehmerzahl der Studierenden begrenzen, um den logistischen und organisatorischen Aufwand bewältigen zu können.
Sie fuhren ab 2005 jeweils im September mit zwei Mercedes Sprintern in ihr „Basislager", für das sie in den ersten beiden Jahren die Jugendherberge Osterode ausgewählt hatten. Weil aber Bernd Ohlendorfs lehrreiche und unterhaltsame Führungen überwiegend im südöstlichen Teil des Harzes stattfanden, wechselten sie 2007 in die JH Kelbra. Die Herberge lag am Hang des Kyffhäuser-Bergzugs, direkt unterhalb des Barbarossa-Denkmals. Sie hatten eine traumhaft schöne Aussicht in östlicher Richtung.
Lulan, seine Mitarbeiter und die Studierenden statteten dem überlebensgroßen Denkmal Friederich des Ersten, wegen seines roten Bartes Barbarossa genannt, während jeder Exkursion einen Besuch ab. Der deutsch-römische Kaiser hatte im zwölften Jahrhundert auf dem Kamm des Kyffhäuser-Gebirges eine Burg errichten lassen. Während des dritten Kreuzzuges soll er in der südlichen Türkei beim Überqueren eines Flusses ertrunken sein. Man vermutet, dass er - überhitzt - in dem kalten Gebirgsfluss entweder einen Herzinfarkt erlitt oder sich in den Fluten nicht auf seinem Pferd halten konnte und ertrank, weil ihn seine schwere Rüstung in die Tiefe zog.
Schon bald rankten Legenden um das Verschwinden des rotbärtigen Kaisers. Der Sage nach sei er gar nicht gestorben, sondern säße verzaubert in einer Höhle im Kyffhäuser unterhalb seiner Burg und wartete darauf, das deutsche Reich wieder in Frieden zu vereinen. Alle hundert Jahre, so die Legende, würde er einen Zwerg hinausschicken, um nachzusehen, ob noch Raben, die Vögel der Zwietracht, über dem Berg kreisten. Solange die Raben flögen, müsse Barbarossa im Berg ausharren. Sein Denkmal, das Ende des 19. Jahrhunderts nach dem letzten deutschen Einigungskrieg errichtet wurde, zeigt ihn grübelnd und in sich versunken an einem steinernen Tisch sitzend, den sein meterlanger Bart mittlerweile überwuchert.
Der Architekt des Kyffhäuser-Denkmals, Bruno Schmitz, hatte auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica entworfen. Barbarossa und Kaiser Wilhelm, zwei monumentalen Steingestalten, deren politische und künstlerische Abstrusität Lulan faszinierten.
Die örtlichen Behörden hatten Lulan und seinen Exkursionsteilnehmern Genehmigungen für die Entnahme von Gewässerproben und Grundwasserorganismen erteilt; sie durften unter anderem die nicht öffentlich zugängliche Jettenhöhle beproben, zusätzlich auch bekannte Harzer Schauhöhlen wie die Heimkehle und die Barbarossahöhle. Dr. Flindt, der Achäologe des Landkreises Osterode, führte die Gruppe durch die engen Passagen der Lichtensteinhöhle, in der man menschliche Überreste aus der Bronzezeit gefunden hatte. Als Gegenleistungen bekamen die Behörden und Höhlenbetreiber nach jeder Exkursion die Ergebnisse der chemischen Gewässeranalysen und Artenlisten der höhlenbewohnenden Fauna.
Zusätzlich zur Harzer Höhleneexkursionen bot Lulan ab 2006 zehntägige Tauchexkursionen auf Elba und Giglio an. Die Studierenden absolvierten auf den idyllischen italienischen Inseln ihre Labor- und Feldübungen zum Thema „Marine Ökologie"; parallel dazu hatten sie Gelegenheit, im Rahmen eines Tauchkurses ihr PADI-Zertifikat Open Water Diver zu erlangen.
Ohne die kompetente und tatkräftige Unterstützung der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, vor allem Mario und Armin, wären die Exkursionen nicht durchführbar gewesen. Sie stellten die umfangreiche Feldlaborausrüstung zusammen und verpackten sie in Transportkisten. In den Jugendherbergen oder biologischen Stationen vor Ort richteten sie mit den Utensilien die Seminarräume ein.
Die Stimmung auf den Exkursionen war durchgehend gut. Jedes Biologenherz hüpft vor Vorfreude, wenn es ins Feld geht, und die Exkursionsziele trugen das ihre zu einer abenteuerlichen Woche in der Natur bei.
Verglichen mit dem restlichen Jahrespensum an Forschung und Lehre waren die Feldexkursionen wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Institut warteten Projekte, die Lulan Kopfzerbrechen bereiteten. Seine molekulargenetischen Arbeiten kamen ihm nicht schnell genug voran. Er grübelte unentwegt, mit welchen Forschungsthemen seine Arbeitsgruppe sich profilieren könnte. Genau genommen ging es um seine eigene Profilierung, denn ohne hochrangige Veröffentlichungen seiner Arbeiten wäre eine Festanstellung nach der auf sechs Jahre befristeten Juniorprofessur kaum realisierbar.
Lulan stand unter Druck.
Weihnachten 2006
Ich bin müde von allem Herumirren. Gott, ich will mich Dir ganz hingeben, befreie mich von meiner Last! Hilf mir zu finden, was ich so lange schon suche!
Hier und Jetzt
Diese 2006 in großer Aufrichtigkeit geäußerte Bitte ging in Erfüllung. Sie ging auf ganzer Linie in Erfüllung, sozusagen allumfassend, denn sie bezog alle Ebenen der Körperperson namens Lulan mit ein. Der nicht nur einmal, sondern mehrfach inständig geäußerte Wunsch ist wahr geworden - wenn auch völlig anders als Lilan es sich vorgestellt hatte.
Im Frühjahr 2007 musste Lulan bei allen möglichen Gelegenheiten an seinen alten Freund Rolf denken. Wann hatte er Rolf zuletzt gesehen? Es muss 1985 gewesen sein, kurz bevor er in Konstanz seinen Trecker und den Zirkuswagen verkauft hatte. Ihre letzte Begegnung lag also 22 Jahre zurück. Als Rolf über mehrere Monate hinweg regelmäßig in seinen Gedanken auftauchte, rief Lulan ihn im August nach einer Pause von gut zwei Jahrzehnten kurzentschlossen an.
Er folgte dem Bedürfnis sich mit jemandem über Spiritualität auszutauschen, und niemand stand ihm in dieser Beziehung näher als Rolf. Kurz bevor Lulan 1980 nach Bohnhorst zog, hatten Rolf und er einige Monate in Minden in einem kleinen Hinterhaus zusammengewohnt. Sie spielten nächtelang Schach und unterhielten sich bis in die frühen Morgenstunden über Musik und das Leben an sich. Und über Spiritualität.
Die beiden trafen sich 2007 nach den Sommerferien. Sie tranken Yogi-Tee und freuten sich über ihr Wiedersehen. Rolf verbrachte seit einigen Jahren die Hälfte des Jahres in Indien, er hatte sich dort sogar ein einfaches Apartment ausbauen lassen. Lulan stellte ihm Fragen über Ashrams und Meditationstechniken. Irgendwann zog Rolf eine zerfledderte, vergilbte Ausgabe eines Buches aus seinem Regal. Er hatte es in Indien gekauft und hielt das Buch wie eine seltene Kostbarkeit in seinen Händen. Lulan bekam es als Leihgabe mit.
Der Titel der englischsprachigen Ausgabe lautete 'I am That'. Das Buch enthielt Frage-und-Antwort-Dialoge mit dem spirituellen Lehrer Nisargadatta Maharaj, der als einfacher Tabakhändler den Zustand der permanenten Erleuchtung realisiert hatte.
Zu Hause las Lulan verschiedene Passagen, die er willkürlich auswählte, und der gleiche Wiedererkennungseffekt, den er beim ersten Lesen in 'Ein Kurs in Wundern' erlebt hatte, setzte ein. Die Beiträge des Tabakhändlers über die Realisierung des Selbst stammten aus einer anderen Bewusstseinssphäre, seltsam fremd und gleichzeitig vertraut. Noch am gleichen Tag bestellte Lulan eine neuere englischsprachige Ausgabe bei Amazon. Rolf sollte seine kostbare Leihgabe so bald wie möglich zurückerhalten.
01.09.2007
Deutschland (ergänzte Notizen)
Rolf hat sich seit der Teestubenzeit äußerlich kaum verändert, obwohl sein Körper ungefähr 62 Jahre alt sein müsste - er geht gebückt, wie ein alter Mann. Ansonsten trägt er die gleichen langen Haare - etwas ausgedünnt inzwischen - die ihm bis zur Mitte seines Rückens reichen. Die gleiche altmodische Kassenbrille, der gleiche Rolf.
Rolf wohnt seit 32 Jahren in einem ehemaligen Bauwagen. Als wir 1984 mit dem Zirkus Hexenkessel für ein Gastspiel in Rolfs Nähe stationierten, schaffte er sich seinen ersten Bauwagen an. Unsere Zirkuswagen hatten ihn auf die Idee gebracht. Seitdem verbringt Rolf die warmen Monate in Deutschland. Im Novemver fliegt er an die indische Westküste, um dort in Restaurants und Cafés zusammen mit zwei oder drei anderen Instrumentalisten live aufzutreten. Das ist seine Haupteinnahmequelle, Musik ist sein Leben.
Im April eines neuen Jahres, lange nach der Rückkehr der Zugvögel, kehrt auch Rolf Shantam zurück in seinen Wohnwagen, der in einem wildwuchernden Garten im nördlichen Mindener Umland langsam mit der Natur verschmilzt. Shantam nennt gleich zwei Wohnwagen sein Eigen; er hat sie fantasievoll durch ausziehbare Raumerweiterungen, Anbauten und Buntglaserkerfenster umgestaltet. Der größere der beiden Wagen dient ihm als Wohnung, der Kleinere ist leer bis auf mehrere Mischpulte, Verstärker und Rolfs Blasinstrumente: etliche Querflöten, zwei Saxophone und die großen Bassklarinetten. Der Wagen ist quasi ein Tonstudio, das Shantam nutzt, um neue Stücke einzuüben oder Impros zu spielen.
Beide Wagen sind nicht mehr fahrbereit. Sie stehen auf einem ein bis zwei Hektar großen Grundstück hinter einem älteren Haupthaus und einem angrenzenden Scheunenkomplex. Das Haus wird von Det und Rita bewohnt, die ich noch aus den Tagen der Teebierstube kenne.
Als ich das Grundstück betrete, gelange ich in einen verwilderten Garten wie aus einem Fantasiefilm. Det scheint eine Leidenschaft für größere Landmaschinen zu hegen, es stehen mindestens acht ausrangierte Traktoren, LKWs und nicht mehr identifizierbare Zugmaschinen auf dem Gelände herum. Der Pflanzenwuchs auf dem Grundstück ist atemberaubend, es muss ein spezielles Mikro-Treibhausklima in dieser Ecke des Landes vorherrschen. Dets Landmaschinen sind restlos zugewuchert, von einigen sieht man gerade noch die Umrisse unter Blättern und Ranken. Vorwiegend Brombeersträucher gedeihen hier prächtig, ihre stacheligen Ranken bieten den anderen Kräutern und Sträuchern Schutz. Dieses Ökotop hat Seltenheitswert, es ist der Standort einer der letzten isolierten Inseln aus der Ära der ehemals weitverbreiteten Landkommunen.
Rolf reicht mir eine Tasse Yogi-Tee. Wir sprechen über die spirituellen Erfahrungen, die wir in den vergangenen 22 Jahren gemacht haben. Ich erzähle ihm vom Kurs in Wundern. Er winkt ab, will nichts darüber hören. Offensichtlich ist alles, was im Entferntesten mit Christentum zu tun hat, ein rotes Tuch für ihn. Er holt ein abgegriffenes Buch aus dem Regal über seinem Bett und erzählt mir, dass er die Spiritualität der östlichen Lehren bevorzuge. Das Buch, das er mir als Leihgabe zum Lesen anbietet, enthält die Lehre eines sonderbar aussehenden Mannes mit dem gewöhnungsbedürftigen Namen Sri Nisargadatta Maharaj.
11.09.2007
Gestern Nachmittag habe ich noch einen Abstecher zum Lab gemacht, um schon mal die wichtigsten Sachen für die Exkursion einzupacken.
Die beiden großen Kisten mit den Wathosen und Bauhelmen im Lagerschuppen rochen muffig. Die Klamotten waren nach der letzten Exkursion verdreckt und achtlos verstaut worden. Wie immer! Ich habe den eingetrockneten Höhlenschlamm mit einem Schlauch abgespritzt und die Ausrüstung in der Sonne trocknen lassen. Dann im Labor noch vier Mikroskope und sechs Stereolupen ausgesucht und in verschiedenen Transportboxen verstaut.
Am kommenden Montag würden wir noch vier oder fünf zusätzliche Boxen für den Transport vorbereiten müssen, eine für Bücher und Bestimmungsliteratur, eine weitere für diverse Chemikalien, Analyse-Kits für die Wasserproben sowie Sezierbestecke und ausreichend Probenbehälter.
Ich freue mich auf die Exkursionswoche. Bernd Oldendorf hatte uns eine neue Attraktion als abendfüllenden Programmpunkt angekündigt.
14.09.2007
Questenberg, Harz
Bernd Oldendorf steht pünktlich auf dem vereinbarten Parkplatz, wo wir am frühen Abend mit unseren beiden Sprintern eintreffen. Bernd will in der Dämmerung vor einer kleinen Höhle an der Dinsterbachschwinde bei Questenberg die ausfliegenden Fledermäuse einfangen, Die Tiere sollen beringt werden.
In der Abendluft hängt der süße Geruch des Spätsommers. Die Studierenden kichern übermütig, sie sind aufgeregt - gleich werden Fledermäuse beringt! Ein Biologentraum! Die Wirtin der nagegelegenen Gaststätte hat das Catering für uns übernommen. Auf der Kuhweide vor der Höhle leuchtet sie mit ihrer Taschenlampe auf einen Tisch mit belegten Brötchen, im Kofferraum ihres Wagens stehen Bier- und Wasserkisten.
„Äine guhde Begannte, Thüringen ist ümmer noch schwoch ändwiggelt, und wür helfen uns äuf diese Waise gegensäudech. Nadürlech nur, wenn ihr möchded", hatte Bernd vorab am Telefon erklärt. „Ihr bekommt Bier und wos zom Mompfen, zum Froindschaftsbreis, vorschdäht sech".
Wir haben vor der Höhle ein feinmaschiges Netz aufgespannt, insgesamt gut 15 Meter lang. Lange Zeit bleibt alles ruhig, dann landet die erste Fledermaus im Netz. Sie muss schnell aus den Maschen befreit werden, bevor sie die feinen Fasern zerreißt.
„Dies ist äin Bräunes Longohr, äine Glottnosenflädermaus!", ruft Bernd und hält das Tier für alle sichtbar an den Flügeln in den Schein seiner Stirnlampe. Die Glattnasenfledermaus hat sehr große Ohren und protestiert zirrpend, ihr fingernagelgroßes Gesicht verzieht sie zu einer wütenden Gremlin-Grimasse. Bernd befestigt vorsichtig einen winzigen Aluring an ihrer Armschwinge und versichert uns, dass die kleinen Ringe die Fledermäuse beim Fliegen nicht beeinträchtigen würden.
„Da ist noch eine im Netz!", ruft ein Student, und gleich danach „Hier! Noch eine!"
Bernd steckt kurzerhand eine der beiden Fledermäuse in die Brusttasche seiner Outdoor-Weste, dem anderen Exemplar verpasst er mit einigen routinierten Handgriffen einen Ring.
„Jätzt hoben wür hier äine Zwärgflädermaus", erklärt Bernd. „Dies ist äine der kläinsten häimischen Flädermausorten."
Jetzt geht es Schlag auf Schlag, eine Fledermaus nach der anderen verfängt sich zappelnd im Netz. Bernds Mitarbeiter holen die Tiere sofort aus den Maschen und reichen sie weiter an ihren Chef, der die Winzlinge kurzerhand in den zahlreichen Taschen seiner Weste zwischenlagert. Als alle Taschen besetzt sind und ihm noch eine weitere Fledermaus zugereicht wird, kündigt Bernd seinen nächsten Schritt sicherheitshalber an.
„Sou, nich ärschreggn jetzt, ech wärdde dos Dierschen nicht äufessen, äuch wenn es so äussieht." Bernd steckt sich die Langohrfledermaus mit deren Kopf voran in den Mund und hält sie mit seinen Lippen fest.
„Nein!", flüstert eine Studentin hinter mir entsetzt. Den Biologie-Studenten ist bekannt, dass Fledermäuse – wie die meisten Tiere – in Stresssituationen spontan Kot und Urin absetzen, und sie wissen auch, dass die Liste der Krankheiten, die Fledermäuse übertragen können, nicht gerade kurz ist.
Donnerlittchen, denke ich beeindruckt, der Oldendorf hat echt einiges übrig für seine Fledermausleidenschaft! Bernd ist ein Feldbiologe aus echtem Schrot und Korn, die Studierenden bekommen einiges geboten an diesem Abend.
Hier und Jetzt
Im Alltag der akademischen Biologie finden Feldexkursionen leider viel zu selten statt. Exkursionen erhalten im Lehrdeputat neben Labor- und Gerätepraktika, Bestimmungsübungen, Seminaren und den verschiedenen Vorlesungen einen vergleichsweise niedrigen Anrechnungsfaktor. Dazu kommt, dass von wisschenschaftlichen Mitarbeitern neben den verpflichteten Lehrveranstaltungen gewöhnlich auch ein erfolgreiches Forschungprogramm erwartet wird. Der Erfolg wird anhand der veröffentlichten Fachartikel gemessen. Erfolg kostet Zeit, Zeitmangel erhöht den Druck.
Die leidige Praxis, postdoktorale Mitarbeiter in zeitlich befristeten Anstellungen zu beschäftigen, verursacht unweigerlich (doch durchaus beabsichtigt) einen hohen Leistungs- und Konkurrenzdruck. Wer sich aussichtsreich um eine der wenigen, begehrten Festanstellungen bewerben möchte, muss eine überzeugende Bibliographie nachweisen können. Man muss die Ergebnisse seiner Arbeit publizieren, ohne wissenschaftliche Veröffentlichungen ist eine akademische Karriere ein hoffnungsloses Unterfangen.
Obgleich die Anzahl der Veröffentlichungen eine Rolle spielt, wird bei Publikationen Qualität erheblich höher gewichtet als Quantität. Den Impact eines einzelnen Artikels in Nature oder Science können selbst mehrere hundert Beiträge in den Mitteilungen des Verbandes deutscher Kryptobiologen nicht übertreffen. Um ihren Ruf und ihren Qualitätsindex zu wahren, veröffentlichen die führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften vorrangig Forschungsergebnisse, die sich in puncto Methodik oder Inhalt von der Masse des Gewöhnlichen erkennbar absetzen. Ein veröffentlichter Artikel in Science oder Nature hat unter Wissenschaftlern den Stellenwert eines Lottohauptgewinns (sechsstellig, mit Superzahl).
Lulan arbeitete mit Professor Thomas Iliffe, einem erfahrenen Höhlenforscher und – taucher, der durch National Geographic-Artikel und TV-Dokumentationen einige Bekanntheit erlangt hatte, an einer Gruppe von urtümlichen Grottenkrebsen, den Remipedia. Die Fortpflanzungsbiologie dieser Tierklasse war der Wissenschaft noch gänzlich unbekannt, ein leeres Kapitel in den Lehrbüchern. Als Lulan und Tom Iliffe 2006 erstmals verschiedene Larvenstadien der Remipedia entdeckten und beschrieben, fand Nature ihre Ergebnisse nicht publikationswürdig. Lulan war frustriert und bemerkte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass die Beschreibung neuer Wirbeltierarten in der Regel umgehend veröffentlicht wird; wirbellose Tiere waren vermutlich nicht spannend genug. Die führenden Fachzeitschriften bestimmen somit zu einem nicht unerheblichen Teil die inhaltliche Ausrichtung der Forschung.
Die Bemühungen um hochrangige Publikationen nehmen bisweilen extravagante Züge an, denn die Wahrscheinlichkeit eine neue Säugetierart zu entdecken ist mit der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen vergleichbar. Die Auswahl an Forschungsthemen, die ein hervorragendes Publikationsprofil versprechen, ist eng begrenzt, was eine Spezialisierung auf thematische Nischen zur Folge hat. Der folgende, willkürlich gewählte Titel eines Science-Artikels mag diesen Trend stellvertretend verdeutlichen:
Ein linienaufgelöster molekularer Atlas der Fadenwurm-Embryogenese bei Einzelzellauflösung
Um in hochbewerteten Fachzeitschriften publizieren zu können, benötigt der auf eine Dauerstelle hoffende Postdoktorand eine Gruppe von kompetenten, hochqualifizierten Mitarbeitern sowie eine Laborausstattung mit allen erforderlichen Geräten, Apparaten und Chemikalien.
Der Markt für wissenschaftliche Laborausstattungen wächst rasant. Es geht ums Geld, Qualität hat ihren Preis. Auch die Mitarbeiter müssen bezahlt werden. Und damit ist neben erstklassigen Veröffentlichungen das erfolgreiche Einwerben von Fördergeldern [1], sogenannten Drittmitteln, das zweite entscheidende Kriterium, von dem die Karriere eines Nachwuchsforschers abhängt. Dieses sind die Rahmenbedingungen einer akademischen Karriere, sie sind der Maßstab, an dem man als Wissenschaftler gemessen wird.Es vergingen mehrere Jahre, bis sich Lulans Arbeitsgruppe in eine molekulargenetische Themennische eingearbeitet hatte, die erfolgreiche Publikationsmöglichkeiten verhieß.
Das Team untersuchte die Sekundärstrukturen mitochondrialer Gene auf ihre Eignung als Marker in phylogenetischen Analysen. An dem Projekt war eine junge amerikanische Postdoktorandin beteiligt. Tamara R. Hartke war auf der Suche nach einer Postdok-Stelle in Deutschland; um ihre Zeit sinnvoll zu nutzen, arbeitete sie freiwillig und unentgeltlich in Lulans Arbeitsgruppe mit. Als Gegenleistung bot er ihr die Mitautorenschaft für einige ihrer Veröffentlichungen an.
Im dritten Jahr seiner Juniorprofessur trat die Wende ein, die Lulan 1991 als Ausstiegspunkt seiner Tätigkeit als Biologe festgelegt hatte.
Die Veränderung äußerte sich zunächst eher unauffällig. Aus einer beiläufigen Unzufriedenheit entwickelte sich Unlust, und im Frühjahr 2008 bemerkte er zum ersten Mal Anzeichen der Überdrüssigkeit gegenüber dem Druck, ständig publizieren und Fördergelder einwerben zu müssen. Sein Widerwille betraf eindeutig diese beiden Aspekte seiner Arbeit, denn parallel zu seiner Aversion fand Lulan zunehmend Gefallen an den Feldexkursionen und an der Zusammenarbeit mit den Menschen in seiner Arbeitsgruppe.
Einen Tag nach der Harzer Höhlenexkursion bekam Lulan ungewöhnlich starke Kopfschmerzen, die nicht abklingen wollten. Er musste sofort an die Zecke denken, die ihn während der Probenentnahme im Gelände gebissen hatte, und suchte - es war Sonntag - vorsichtshalber die Notaufnahme eines Krankenhauses auf.
Die Zecke war es nicht. Er hatte eine Blutdruckkrise, 224 zu 120 mmHg. Nachdem er sich von dem anfänglichen Schock erholt hatte, begann Lulan nach Ursachen zu suchen. Er hatte bisher konstant zu niedrige Blutdruckwerte im Bereich 120-135 zu 65-70 mmHg gehabt, und er konnte sich den extremen Anstieg nicht erklären.
Du findest, wonach du eindringlich suchst. Du erhälst, was du dir innig wünscht. Doch auch der Widerwille gegen etwas ist ein Wunsch, der Erfüllung erfahren kann. Wenn der Geist in einem quälenden Zwiespalt verkehrt,kann der Körper darauf mit Krankheit reagieren.
Dass auch ablehnende Gedanken manifestiert werden, war neu für Lulan. Auch, dass das Prinzip von Ursache und Wirkung auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden kann. Die Antwort, die er erhielt, bezog sich auf die geistige Ebene, und sofort brannte Lulan eune neue Frage auf den Nägeln. Woher kommen all die Gedanken? Gedanken, die die Welt des Denkenden erschaffen und bestimmen. Diese Frage beschäftigt vermutlich nicht viele Menschen, dabei ist sie 100-mal spannender als Schimanski.
Lässt man die geistige Ebene außer Betracht, kommt man zu der falschen Annahme, eine Ursache ginge auf äußere Faktoren zurück, welche direkt auf die körperliche Ebene einwirkten. Aus medizinischer Sicht wird ein hoher Blutdruck durch äußere Risikofaktoren verursacht; in Wirklichkeit sind diese Faktoren bereits Folgen geistig-mentaler Impulse.
Lulan war Raucher, trank täglich vier bis fünf Tassen starken Kaffee und seit seiner Jugend mehr Alkohol als gut für ihn war. Jeder einzelne dieser äußeren Faktoren trug zweifellos zu einer Erhöhung seines Blutdrucks bei. Dennoch bestand für ihn nicht der geringste Zweifel, dass die Antwort, die er erhielt, die wahre Ursache seiner Blutdruckkrise auf den Punkt brachte.
Es war das elende Affentheater leid, die Muppet Show, die sich »berufliche Karriere« nannte, der permanente Leistungsdruck, den sein Ego aufgebaut hatte. Noch ein Paper mit hohem Impaktfaktor einreichen, den Fördergeldantrag fertigstellen, den Kongressvortrag überarbeiten - Lulan hatte es satt. Der mittlerweile scharfe Widerwille gegen seine Arbeit hatte ihn krank werden lassen, das war die Ursache seiner Körperkrise. Lulan wollte schnellstmöglich raus aus dieser Nummer.
[1] Fördergelder können beispielsweise bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder bei nationalen oder internationalen wissenschaftlichen Siftungen beantragt werden.
07.09.2008
Genau, wie ich gedacht hatte - der Blutdruck ist bereits wieder normal.
Ich brauchte die Zecke. Ohne ihren Biss wäre ich Samstagnacht nach dem extremen Migräneanfall nicht ins Krankenhaus gegangen. Wo man dann eine hypertensive Entgleisung feststellte, eine akute Bluthochdruckkrise.
Ich brauchte die Blutdruckkrise - ohne sie hätte ich es nicht geschafft, die Vorträge in Australien und Rostock abzusagen. Ich war daher vom ersten Moment an dankbar für diesen »Zwischenfall«, denn ich hatte alles bekommen, was ich brauchte. In diesem Fall eine Auszeit.
Die Zecke habe ich noch, konserviert in Alkohol. Ich fragte den Chefarzt bei der Visite, ob das Tierchen noch zu gebrauchen sei. Er dachte kurz nach und meinte, ich könne sie zur SU einschicken; dort könne man sie auf Borrelien untersuchen. Ha, ha, ha, quasi in unserem eigenen Labor. Er wusste nicht, dass ich dort arbeite.
26.09.2008
Ich stehe vor einem Warenregal im Saturn, um eine elektrische Zahnbürste auszusuchen. Von einer Sekunde auf die nächste verliere ich geschlagene 10 Sekunden lang jegliches Raum- und Orientierungsgefühl. Es gibt kein Oben und Unten mehr, kein Rechts und Links. Es ist alles weg! Ich bekomme einen wahnsinnigen Schreck, kann mir die Sache überhaupt nicht erklären. Mein Blutdruck ist nicht in Ordnung, hat es damit zu tun?
07.04.2009
Ich meditiere nicht mehr täglich, mehr nach Bedarf. Was die Inhalte und Methoden der Meditationen betrifft, folge ich mittlerweile zwei verschiedenen Schulen, der Ich-Bin-Methode von Nisargadatta Maharaj und den Übungen von EKiW.
Zu Beginn hatte ich hierbei einige Befürchtungen. Darf man das? Grundverschiedene spirituelle Quellen vermischen? Könnte das schädliche Nebenwirkungen haben?
Ich folge der leisen inneren Stimme. Was sich gut anfühlt, kann nicht schädlich sein. Nach einer Weile kann ich sogar die wohltuenden Auswirkungen der beiden Methoden unterscheiden. Zusammen haben sie eine verstärkende positive Wirkung.
Die Methoden mögen auf zwei unterschiedliche spirituelle Quellen zurückgehen, ihre Inhalte sind jedoch in sich und zueinander widerspruchsfrei. Es gibt in Wahrheit nur eine Quelle!
Juli 2009
Es kam aus dem Nichts, wie alle spirituellen Einsichten. Eine Vision. Ich will versuchen das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.
Ich liege auf dem Sofa, entspannt und hellwach. Mit geschlossenen Augen blicke ich in ein schwarzes Nichts, das mich wie ein dunkler, leerer Raum umgibt.
Nach einer Weile erscheinen aus diesem Nichts symmetrische, hochkomplexe Strukturen, die die grenzenlose Weite des Raumes wie Kristallgerüste durchziehen, sie verändern fortlaufend ihre Form und wechseln auch ihre Farben. Die Farb- und Formkombinationen sind außerirdisch, ich kann sie mit nichts vergleichen. Ich wünschte ich könnte filmen, was meine geistigen Augen sehen, denn die Formenvielfalt könnte ich nicht einmal ansatzweise zeichnerisch reproduzieren.
Nach einer Weile gehen die symmetrischen Strukturen in unregelmäßige Formen über, tiefgrüne Kakteen mit schwarzorangenen Auren, schwebende, lebendige Figuren in verschiedenen Größen, lichterfüllt. Dann sehe ich die Straße, in der wir wohnen, und auch die anderen Straßen unseres Stadtviertels, Menschen gehen ihrer Wege, und in mir formiert sich eine seit Urzeiten bekannte Selbstverständlichkeit zu einem plastischen Gedanken:
Das bin ich! All das bin ich selbst! Ich bin es schon immer gewesen!
Und ich bin erstaunt, dass ich es erst jetzt entdecke.Die Straße löst sich in der Weite der Leere auf, und in dem Bruchteil einer Sekunde sehe ich in der Endlosigkeit alles! Alles, was jemals gewesen ist, und alles, was jemals sein wird. Es ist weder eine visuelle Erinnerung, noch eine Träumerei. Es ist hyperreal, unvorstellbar dicht und schwer und gleichzeitig gewichtslos und transparent.
Dies ist, was wirklich ist, so fühlt es sich an!
Verglichen mit der hyperealen Intensität dieser Vision, ist das, was wir für real halten, die Welt, die uns zu umgeben scheint, blass und belanglos, wie die verwaschenen, flackernden Bilder eines der frühen Stummfilme aus dem 19. Jahrhundert.
Hier und Jetzt
Lulans sechsjährige Juniorprofessur an der SU Deutschland endete im zehnten Monat des Jahres 2010. Rund vier Wochen vor dem offiziellen Dienstende erhielt er überraschend eine Last-Minute-Offerte aus dem Biologie Department der Universität Siegen. Dort musste sehr kurzfristig eine personelle Lücke geschlossen werden, man wollte mittels einer einjährigen Vertretungsprofessor vermeiden, dass die Lehrveranstaltungen unterbrochen würden.
Es gab einige hektische Telefonate; man machte ihm Hoffnung auf eine Festanstellung nach dem Vertretungsjahr, allerdings müsse er sich schnell entscheiden, in zwei Wochen würde das Wintersemester beginnen.
Lulan hatte keine Alternativangebote zur Auswahl.
Ach Gott, dachte er, Siegen! Warum nicht?
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