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Was denn?

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20 Um ein Kind zu verstehen

***

Rede leise, aber bestimmt!

Sei ehrlich, sei du Selbst, und lass dein Herz für dich sprechen!

Erwähne nicht die Mängel des anderen,

sondern bringe stets nur dein Anliegen vor!

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Hier und Jetzt

Die Körperperson Lulan war kein Professor mehr. Am 1. Oktober 2011 wurde er als Mitarbeiter am Montessori Bildungshaus Hannover (MBH) angestellt. Der Hochschullehrer hing am Nagel, Lulan wollte fortan als Lehrer tätig sein. Zunächst nur mit zwei Wochenstunden, da die achtzehn Fünft- und Sechstlässler des MBH erst im darauffolgenden Schuljahr den Start einer Mittelstufe eröffnen würden. Um bis dahin einen größeren Einkommensverlust zu vermeiden, wollte Lulan die Aufgaben eines Facility Managers übernehmen. Die Umbauphase und die Sanierung des neu übernommenen Schulgebäudes liefen auf vollen Touren, alle fasten mit an, Eltern, Grundschüler und Mitarbeiter.

Wie reagiert das Ego, wenn es seine Schätze verliert - etwa einen schmeichelhaften Professorentitel, der zahlreichen Vergünstigungen mit sich bringt oder die dazugehörige private Krankenversicherung?

Man wird von Ärzten und in Krankenhäusern bevorzugt behandelt (Lulan hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er vor den seit Stunden wartenden Kassenpatienten an die Reihe kam), erhält von Firmen und Dienstleistern kleine Aufmerksamskeitsgeschenke, und wenn ein Problem auftaucht, reicht oft eine dezidierte Email-Nachricht mit der Prof.-Dr.-Signatur, um die Angelegenheit zufriedenstellend zu regeln.

Lulan ignorierte das Bedauern seines Egos über den gesellschaftlichen Prestigeverlust. Seit er meditierte, glaubte er über »diesen Dingen« zu stehen. Lulan hatte höhere Ziele im Sinn. Der Gemeinschaft dienen, mit Menschen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Er erzählte anderen, dass er des Dozierens und der Forschung überdrüssig geworden sei und sich entschieden habe, Montessori-Lehrer zu werden. (Körperpersonen lieben Geschichten, in denen das selbstsüchtige Ego überwunden wird.) Ja, es sei auch der Wunsch nach einer Festanstellung ausschlaggebend gewesen, darum habe er sich mit 53 für mehr Planungssicherheit entschieden.

Die Wahl des Schulleiters für das neu entstehende Bildungshaus fiel – allem Anschein nach rein zufällig – auf einen ehemaligen Arbeitskollegen von Cora. Der Niederländer Wim Ruijsendaal hatte in den 1980er Jahren das Montessori Lyceum Amsterdam (MLA) geleitet; zu der Zeit arbeitete Cora dort in ihrer ersten Anstellung nach dem Studium als Lehrerin. Zwei bestens miteinander bekannte Holländer trafen nach Jahren der Funkstille im niedersächsischen Hannover erneut zusammen, und zwar pünktlich zur Gründung einer Montessori-Schule. Lulan zufolge konnte dies kein Zufall sein, er glaubte an Vorsehung.

Für ihn war die Montessori-Pädagogik ein größtenteils unbeschriebenes Blatt. Er nutzte jede Gelegenheit, Cora und Wim während des Schulalltags aufmerksam zu beobachten. Wie gingen die beiden mit Kindern um? Wie gestalteten sie ihren Unterricht? Die Schüler und Schülerinnen arbeiteten bemerkenswert vorbildlich, ganz wie in einem der zahlreichen Info-Videos über die »Montessori-Methode« (Szenen, die Lulan verdächtig nach Heile-Welt-Propaganda aussahen).

Cora brachte die Kinder einer Klasse mit souveräner Leichtigkeit dazu, in stiller Konzentration zu lernen. Bei Wim ging es lebhafter zu, er setzte bei der Vermittlung naturwissenschaftlicher Phänomene und Gesetze auf den Dialog mit den Schülern, die sich engagiert und enthusiastisch am Gespräch beteiligten. Lulan beobachtete wie Wim Elfjährigen komplizierte chemische Gesetzmäßigkeiten transparent erklären konnte. Er registrierte fasziniert jedes Wort und jede Geste des Schulleiters. Der Mann war richtig gut. Wim Ruijsendaal verkörperte einen Lehrertyp, den sich Lulan als Schüler oft gewünscht hatte.

Nur wenige Menschen beherrschen die Tugend, andere Körperpersonen ausnahmslos gleich zu behandeln. Wim gehörte zu den Wenigen; er brachte jedem, vom Erstklässler bis zum Kantinenpersonal, ohne Unterschied den gleichen Respekt entgegen.

Die Gleichbehandlung anderer ist ein erster Schritt zur Überwindung des Trennungsgedankens, sie reflektiert ein spirituelles Grundprinzip. Auch in Konfliktsituationen blieb Wim wach, wahrte stets die persönliche Distanz, die man benötigt, um andere unvoreingenommen und sachlich sehen zu können. Er griff niemanden an (bis auf äußerst seltene Ausnahmen, zu denen auch Lulan gehörte), auch nicht, wenn es erhitzt und polemisch zuging, wie nach der umstrittenen Entlassung einer Kollegin.

Der Schulleiter verurteilte andere nicht, konnte aber trotzdem Dinge sehr direkt Dinge beim Namen nennen. Die subtile Balance dieser Vorgehensweise konnte nur das Ergebnis umfangreicher Erfahrungen und intensiver Lernprozesse sein. Wims Verhalten orientierte sich an festen Regeln und Prinzipien. Lulan erstaunte, dass Wim spirituelle Grundsätze zu beherzigen schien, obwohl er Spiritualität im Allgemeinen ablehnte.

Denn als Wissenschaftler berief sich Wim Ruijsendaal gerne auf die formale Logik der Mathematik, die er zur Richtlinie seines Denkens erklärte. Er besaß zwar eine offene Geisteshaltung und war »von Haus aus« neugierig, beides zwei entscheidende Voraussetzungen für menschliches Lernen, allerdings gab es Grenzen, die ihn davon abhielten unbekanntes Terrain zu entdecken.

Wim hörte interessiert zu, wenn Lulan von seinen metaphysischen Erfahrungen berichtete. Als Lulan einmal kurz erwähnte, dass die wahrnehmbare Welt eine virtuelle Projektion der Sinne sei, nickte Wim sofort bestätigend.

„Ja, natürlich, das kann man nachweisen", sagte er.

Nur wenige Menschen sind bereit die virtuelle Natur der sinnlichen Wahrnehmungen nachzuvollziehen. Von hier aus ist es eigentlich nicht mehr weit zu der Einsicht, dass das körperlose Selbst die wahre Identität jedes Menschen ist. Für die meisten Naturwissenschaftler ist in der Regel das Gehirn der Sitz und Ursprung des Bewusstseins. Sie schlussfolgern irrtümlicherweise, sie seien Körperpersonen, weil sie Gehirne haben. Dabei ist das Gehirn nur ein Organ des Körpers, ein komplexes Ganglion an einem Nervenstrang. Wie der Körper insgesamt, ist auch das Gehirn mental inert und passiv. Ein RAM-Baustein in einem Computer ist genausowenig der Urheber seines Betriebssystems wie ein menschliches Gehirn das Zentrum des universellen Bewusstseins sein kann; es fungiert lediglich als Schalt- und Speichersystem für intelligente Eingaben einer »externen« Quelle.

Lulan fragte sich, ob die Erkenntnis des wahren Selbst erreichbar wäre, wenn einem ausschließlich die Mittel der Logik zur Verfügung ständen. Wie weit käme die Wahrheit der Logik ohne die Inspiration der Liebe? Und zu welcher Einsicht wäre andersherum die selbstlose Liebe fähig, die der nüchternen Distanz des logischen Verstandes entbehrte? 


Hands


Erinnerungen
2011-2013, Hannover

Bis zur Eröffnung der Mittelstufe hatte ich die Aufgaben des Schulhausmeisters übernommen. Ich wusste, was zu tun war, denn ich hatte meinen Vater in der Hausberger Grundschule etliche Male vertreten oder ihm bei seinen Arbeiten geholfen.

„Junge, glaub es mir, ich weiß, wie das ist!", lautete sein Standardkommentar, wenn ich ihm am Telefon von meiner neuen Arbeit am MBH berichtete. Auch später, als wir längst einen »richtigen« Hausmeister eingestellt hatten und ich bereits drei naturwissenschaftliche Fächer in Vollzeit unterrichtete, behauptete Papa, zu wissen wie das sei.

„Ja, Junge! Ich weiß, wie das ist! Glaub mir, ich habe das alles schon mitgemacht!", erklärte er, und er meinte das durchaus ernst. Zur Erläuterung gab er dann eine seiner pointierten Anekdoten zum Besten, ich kannte sie samt und sonders Wort für Wort. In seinen Geschichten hatte er den darin agierenden Lehrern die gleiche undankbare Rolle zugedacht. Ob es der Schulleiter war oder die neue Referendarin – die Lehrkräfte waren durchweg überarbeitete, linkische Armleuchter, die meinen Vater, den Hausmeister, in brenzligen Situationen verzweifelt um Hilfe baten.

Mal hatte der kurzsichtige Schulleiter vergessen den vermeintlich defekten Diaprojektor an das Stromnetz anzuschließen („Ha, ha, ha! Du glaubst gar nicht, wie peinlich dem das war!"), ein anderes Mal musste Papa eine verirrte Blaumeise im Klasseraum des überforderten Biologielehrers einfangen. Mein Vater spielte die Rolle des Retters in der Not, er war der Pfiffikus, der für jede Zwickmühle einen Befreiungszug in petto hatte.

Bei einer anderen Gelegenheit sprang er sogar als Hansdampf in die pädagogische Gasse, als eine in Tränen aufgelöste Lehrerin ihn in ihre tobende Klasse holte, damit er die Kinder zur Räson brächte. Souverän löste er auch dieses Problem im Nullkommanichts. Er brüllte die bockigen Grundschüler kurz und knapp im Kommandoton zusammen und übergab die mucksmäuschenstille Klasse der überglücklichen Lehrerin.

Abschließend habe er der jungen Pädagogin geraten, dass sie den richtigen Ton finden müsse. Diese schulhausmeisterliche Belehrung war - um es vorsichtig auszudrücken - ziemlich unsensibel. Obwohl sie inhaltlich durchaus eine gewisse Berechtigung hatte! Im Rat meines Vaters steckte ein Stück gesunder Menschenverstand, denn als er die tobende Klasse barsch zusammenfaltete, entsprach das einer jahrhundertalten bäuerlichen Lebensphilosophie, die sich aus dem täglichen Umgang mit großen Nutztieren kondensiert hatte und nun als allgemeingültige Volksweisheit zur Verfügung stand. Gleich eins zwischen die Hörner geben! lautete sie und muss ursprünglich ein Hinweis an unerfahrene Jungbauern gewesen sein, wie man mit einer bockenden Kuh oder einem widerspenstigen Ochsen verfährt: Man schlägt dem Tier ohne zu zögern einmal resolut auf die Stirn. Das funktioniert, wenn das Timing stimmt, fast immer, und die Bauern entdeckten dann nebenbei, dass sich der gezielte Hörnerschlag auch auf zwischenmenschliche Situationen übertragen ließ.

Natürlich schlug man unverschämten oder aggressiven Dorfbewohnern nicht im physischen Sinne zwischen die Hörner (obwohl auch das vorkam), man tat es verbal. Ein knackiger, schön direkt rausgehauener Spruch konnte den gleichen Effekt haben. Wer originell, wortwitzig und schlagfertig reagieren konnte, war in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft populär und angesehen. Man musste sich Respekt verschaffen, am besten lautstark. Diejenigen, die die Hörnertechnik nicht beherrschten, hielten die meisten insgeheim für Weicheier. 


Hier und Jetzt

Nun war also offiziell eingetreten, was Lulan lange Zeit um jeden Preis zu vermeiden hoffte. Der Sohn war in die Fußstapfen des Vaters getreten. Lulan nahm es mit Humor. Nichts ist ohne Sinn im heiligen Plan, dachte er beflügelt.

Was ihn von seinem Vater, dem Schulhausmeister, unterschied, war unter anderem die Berufsbezeichnung. Als »Facility Manager« musste Lulan Verträge mit Reinigungsfirmen aushandeln und die Nutzung der Räumlichkeiten mit verschiedenen Mietern regeln. In der finanziell angespannten Aufbauphase war das Bildungshaus auf die Vermietung der Aula und einzelner Klassenräume als zusätzliche Einnahmequelle angewiesen.

Die neue Arbeit verlangte körperlichen Einsatz und ein hohes Bewegungspensum; Lulan genoss beides. In den 15 Jahren akademischer Datenverarbeitung und computergestützter Analysen hatte er physische Arbeit zunehmend vermisst.

Einmal pro Woche ließen Wim und Lulan die Sechstklässler mit Physik-Experimentierkästen arbeiten. Für die Schülerinnen und Schüler war es eine willkommene Abwechslung. Sie wurden auf einen neuen Schulabschnitt vorbereitet und würden bald von der Grund- in die Mittelstufe wechseln. Und Lulan gewann erste Einblicke in die Prinzipien der Montessori-Pädagogik. Beobachten, um verstehen zu können. Verstehen, um lernen zu können.

Lulan bereitete die Vorstellung Sorge, wie er sich bei pubertierenden Schülern Respekt verschaffen könnte. Er erinnerte sich an die morgentlichen Fahrten zur Uni Siegen, wenn Horden halbwüchsiger Schüler laut krakelend in den Bus gestürmt kamen und eine Stimmung vulgärer Raserei verbreiteten. Jeden Morgen spielte sich dieser Film ab. Wie musste den Lehrern zumute sein, die den busfahrenden Schreihälsen im Klassenraum gegenübertraten? Vermutlich hätte Emil diese Frage beantworten können. Die Schilderungen seiner überwiegend haarsträubenden Erlebnisse als Hauptschullehrer beschrieben genau solche Schüler. 


18.10.2012
Hannover

Professor ist lieber Hausmeister, schreibt die Hannoversche Allgemeine Zeitung, deren Pressevertreter wir anlässlich der Einweihung unserer modernen, bestens ausgestatteten Fachräume für Naturwissenschaften eingeladen haben. Es ist ein Begleitartikel, man findet meinen radikalen Berufswechsel erwähnenswert. Unsere Gesellschaft beurteilt berufliche Entwicklungen nach dem Leistungsprinzip, Aufstieg und Abstieg bestimmen den Erfolg einer Karriere. Ein Hochschullehrer, der aus freien Stücken Hausmeister wird, fällt aus dem Rahmen der üblichen Berufsaufbahnen, sogar nach Erweiterung der Toleranzen für individuelle Abweichler. Während der chinesischen Kulturrevolution wäre ich den Massen als leuchtendes Beispiel mit wehendem Banner vorangeschritten! Doch in der leistungsorientierten Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts können extrem unkonventionelle Lebensläufe durchaus Irritationen verursachen.

Ich lasse Visitenkarten drucken, auf denen als Berufsbezeichnung die Kombination »Facility Manager, Biologe« angegeben wird. Was für eine Albernheit! Es ist derart bescheuert, dass ich darüber lachen muss. Genauso albern wie der Stolz, den ich der Welt gegenüber zur Schau trage und mich als Akademiker präsentiere, der sein egoistisches Karrierestreben überwunden hat:

Und nun, Ladies und Gentlemen: Stefan van Rij, der avantgardistische Kulturrevolutionär, einer, der gemeinsam mit anderen ein höheres Ziel verfolgt! Manager aller möglichen Fazilitäten! Ganz der Vater, wie goldig! Der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm! Ha, ha, ha!

Stolz ist immer und überall ein unverkennbares Merkmal des Egos. Als ich Hausmeister wurde, glaubte ich stolz, meinen Stolz überwunden zu haben. 


Hier und Jetzt

Lulans Onkel Emil ist ein durch und durch friedfertiger Philantrop, der nicht nein sagen kann. Seine oft aufopfernde Hilfsbereitschaft anderen, auch Fremden, gegenüber ist außergewöhnlich ausgeprägt und bereitete seinen Eltern und Geschwistern seit seiner Jugend die berechtigte Sorge, dass man seine Gutmütigkeit allzu leicht ausnutzen könnte. Emil glaubte schon als junger Mann an »das Gute« im Menschen. So wurde er Lehrer, die Wahl passte zu seiner Persönlichkeitsmischung. Schüler zu unterrichten war seine Berufung. Bis kurz vor seiner Pensionierung.

Nach seinem Lehramtsstudium an der Uni Bielefeld ließ Emil sich im nördlichen Ruhrgebiet nieder und trat seine erste Lehrerstelle an einer Hauptschule an. Er wollte dort tätig werden, wo Bildung am dringensten benötigt wurde, wo die Arbeitslosigkeit strukturell höher war als in anderen Teilen der Republik. In den siebziger Jahren bewarb er sich an einer der neuen Gesamtschulen, die damals als modernes, reformiertes Schulmodell von sich Reden machten. In den folgenden Jahrzehnten wechselte Emil verschiedenene Male zwischen Haupt- und Gesamtschulen von Essen bis Gelsenkirchen.

Lulan war neugierig und löcherte seinen Onkel mit Fragen. Wie unterschieden sich Gesamt- und Hauptschulen? War es nicht problematisch Schüler mit verschiedenen Schulempfehlungen (und entsprechenden Leistungsunterschieden) in einer Klasse zu unterrichten?

Die Hauptschulen in Brennpunktregionen mussten furchtbar sein, das reinste Elend. Jedenfalls fand Lulan Emils Berichte schockierend. Er erzählte von Schülern, die den Unterricht kaltschnäuzig nach Belieben störten, sich mal provozierend laut unterhielten, mal mit Gegenständen herumwarfen oder Tiergeräusche nachahmten, um die Stunde entgleisen zu lassen. Es hätten durchaus auch konstruktive Unterrichtsstunden stattgefunden, das betonte Emil wiederholt mit Nachdruck. Er befürchtete, dass seine anekdotischen Horrorgeschichten einen verzerrten Eindruck seines Schulalltags bei seinem Neffen hinterlassen könnten.

Doch Lulans Einschätzung stand felsenfest. Die Schüler aus Emils Anekdoten waren ganz offensichtlich Jugendliche, die körperliche Gewaltbereitschaft für eine Stärke hielten und Mitgefühl und Fürsorglichkeit als Schwäche belächelten.

Die Fick dich, du Opfer! riefen, wenn ihnen jemand dumm kam. Wer sich nicht zur Wehr setzen konnte, war in ihren Augen schwach, war ein »Opfer«. Dies war eine verunglückte Variante der ländlichen Gleich-eins-zwischen-die-Hörner-geben-Philosophie. Emil sah nicht sich als Opfer, sondern vielmehr die zu Gewalt neigenden Jungen, die Täter, deren gesellschaftliche Integration noch während ihrer Schulzeit zu scheitern drohte. In besonders problematischen Fällen unternahm er Hausbesuche, versuchte mit den Eltern eines in Schwierigkeiten geratenen Schülers Lösungen zu finden. Er setzte sich aufopfernd für die Jugendlichen ein.

Das Sein bestimme das Bewusstsein, behaupteten die marxistischen Dialektiker. Auch Emil ging davon aus, dass die Lebensumstände des Menschen seine Entwicklung beeinflussen. Doch die Lebensumstände beeinflussen ausschließlich das Ego-Bewusstsein, sie können niemals das universelle Bewusstsein des wahren Seins berühren. Bewusstsein und Sein sind in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden. Genausowenig gibt es weder Opfer, noch etwas, das geopfert werden könnte. Zeit, Geduld und Kraft stehen allen ununterbrochen zur Verfügung. Die Annahme, diese Schätze ersatzlos verlieren zu können, ist ein Fehlschluss.

Ein Jahr vor Emils Pensionierung eskalierte ein alltäglicher Konflikt in eine handfeste Auseinandersetzung, die vermeidbar hätte sein müssen, und die dadurch im Nachhinein um so befremdlicher erscheint. Ein Schüler hatte bereits mehrfach den Unterricht gestört. Emil bat den Jungen die Störungen zu unterlassen. Der Schüler störte weiter, der Ton wurde schärfer. Dann spuckte der Störenfried auf den Boden. Emil forderte ihn auf den Klassenraum zu verlassen, das Maß war voll. Der Junge verschränkte seine Arme vor der Brust und blieb auf seinem Stuhl sitzen. Er weigerte sich.

In dieser Situation steht man als Lehrkraft vor einem Dilemma. Seinen Willen körperlich durchzusetzen scheidet als Option aus; diese Variante ist nicht nur tabuisiert, sondern könnte einen Tatbestand im strafrechtlichen Sinne erfüllen. Klein beizugeben kommt auch nicht in Betracht, man würde zukünftig von den Schülern nicht mehr ernst genommen.

In der Hitze der Ereignisse einem Impuls folgend, entschied sich Emil fürs Durchgreifen. Er packte den Jungen am Arm, um ihn aus der Klasse zu führen, der Schüler sträubte sich. Es entstand ein Gerangel, zuerst noch zurückhaltend, am Ende ging es mit ungebremstem Körpereinsatz quer durch den Klassenraum, durch die Tür in den Gang, ein Kopf schlug an die Wand, ein Daumen wurde verdreht.

Die Eltern des Jungen erstatteten Strafanzeige, es gab eine Gerichtsverhandlung. Für Emil ging die Angelegenheit einigermaßen glimpflich aus, das Gericht gab an, ihm seien Provokationen durch Problemschüler hinreichend bekannt; dennoch, daran dürfe kein Zweifel bestehen, verbiete sich selbstredend die körperliche Durchsetzung einer Anordnung in diesem und jedem anderen Fall.

Schlimmer als der Vorfall selbst war das darauffolgende Verhalten der anderen Lehrkräfte der Schule. Man sprach nicht mehr mit Emil, seine Kollegen und Kolleginnen kehrten ihm den Rücken zu.

Emil beantragte seine verfrühte Pensionierung. Lulan fand, dass dieser Abschluss nach fast 40 Jahren Schuldienst eintrat wie ein Programmierfehler, ein verstörender, unplanmäßiger Bruch der Routine. Es traf einen, der mit Leib und Seele Lehrer war, der jegliche Form der Gewaltanwendung stets kategorisch abgelehnt hatte. Nur ein Fehler, ein falscher Schritt zum falschen Zeitpunkt führte zu einem Abgang, der an Bitterkeit schwer zu überbieten war. 


Im Schließfach



Erinnerungen
2012-2015, Hannover

Im August 2012 stand ich am MBH zum ersten Mal selbst als Lehrer vor einer Schulklasse. Es war eine kleine Gruppe von insgesamt 18 Siebtklässlern, die zusammen mit einer noch kleineren achten Klasse unsere neue Mittelstufe begründeten. Viele dieser Kinder waren seit dem ersten Schuljahr bei uns, seit die Grundschule 2005 gegründet wurde.

Eine Klasse mit insgesamt acht Schülern zu unterrichten, dürfte den meisten Lehrern wie eine luxuriöse Utopie vorkommen. Man hat Zeit für jeden einzelnen und kann entspannt auf individuelle Lernschwierigkeiten eingehen.

Nach betriebswirtschaftlichen Kriterien waren die unterbesetzten Klassen problematisch. Um eine solide Finanzierung während der Aufbauphase des MBH zu gewährleisten, waren wir verstärkt darauf angewiesen, Schüler von anderen Schulen aufzunehmen. Für einige Eltern war die Montessori-Schule ein letzter Strohhalm, nach dem sie verzweifelt griffen. Fast alle neu aufgenommenen Schüler mit Lernstörungen bedurften einer individuellen Begleitung. Sie waren nicht in der Lage selbstständig zu arbeiten. Der Anteil von Schülern mit Lernbehinderungen am MBH lag durchschnittlich bei rund 25-30% pro Klasse. Wie viele Quereinsteiger mit Lern- oder Verhaltensstörungen konnte eine Montessori-Schule in der Aufbauphase verkraften? Wie viele können nicht mehr adäquat begleitet werden? Der Kontrast zwischen dem Arbeitsverhalten der Quereinsteiger und unseren langjährigen Montessori-Schülern konnte kaum frappierender sein. Die Montessori-Kinder lernten überwiegend still und konzentriert, vor allem aber erledigten sie ihr vereinbartes Aufgabenpensum eigenständig.

Die Schule zu wechseln kann aus unterschiedlichen Gründen erforderlich oder wünschenswert sein, zum Beispiel aufgrund beruflicher oder wohnlicher Veränderungen der Eltern. Die mit Abstand häufigsten Anlässe für einen Schulwechsel waren »Lernschwierigkeiten« der Kinder. Sie kamen mit dem Leistungsdruck nicht mehr zurecht, viele hatten schwere psychosomatische Stresssymptome entwickelt, die therapiert werden mussten. Das diagnostische Spektrum reichte von Ess- Schlaf- und Persönlichkeitsstörungen, Selbstverletzendem Verhalten, Dyskalkulie, Legasthenie, Varianten des Asperger-Syndroms bis zu diversen Angstsyndromen. Wer zu meiner Schulzeit als »hibbelig« galt, hat heute ADHS, eine zungenschonende Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.

Manche der ADHS-Kinder standen unter Dauerstrom, sie konnten nicht stillsitzen; andere hockten apathisch an ihren Tischen ohne mitzuarbeiten, auch ihr Konzentrationsvermögen war stark eingeschränkt, wenngleich ohne den Drang zur Hyperaktivität. Schüler, die an dieser »verträumten« Variante ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) litten, verhielten sich zwar ruhiger, doch auch sie mussten intensiv begleitet werden. Während der Physikversuche währte die Konzentrationsspanne der ADS-Kids nur wenige Minuten, es gelang ihnen nicht, ein Experiment planmäßig abzuschließen. Andere konnten dem Impuls nicht widerstehen, die Materialien der Experimentierkästen unlösbar miteinander zu verknoten, zu verkleben oder zu zerlegen. Bei diesen Kindern war das Spiel der Hände Ausdruck ihrer geistigen Unruhe.

Als 2012 die ersten Siebtklässer von der Grundstufe in die neu eröffnete Mittelstufe des MBH wechselten, lernten sie mit Fachbüchern zu arbeiten. Die Schüler waren bis dahin nach der Montessori-Methode unterrichtet worden, sie hatten Darbietungen erhalten und mit ausgesuchten Materialien, dem Montessori-Material, gearbeitet. Bücher waren neu für sie.

Zusammen mit Wim hatte ich für die Naturwissenschaften die Prisma-Reihe des Klett-Verlags angeschafft. Das Konzept dieser Bücher, insbesondere ihre Binnendifferenzierung, kam den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik optimal entgegen; die Schüler konnten Themen individuell und in ihrem eigenen Tempo bearbeiten.

Das erste Kapitel des Biologiebuches, Die Zelle, enthielt eine Einführung in die Arbeit mit dem Mikroskop. Wir bereiteten Heuaufgüsse vor, um verschiedene Einzeller anzuzüchten und zu mikroskopieren. Die Zellbiologie eignet sich hervorragend als thematischer Einstieg, denn sie stellt Fragen nach dem »großen Ganzen«. Was ist Leben, wie ist es enstanden? Wie ist dein eigener Körper entstanden? Auch diese Vorgehensweise entspricht den Grundsätzen der Montessori-Methode.

Das zweite Kapitel war den wirbellosen Tieren gewidmet. Nach meiner Einführungsstunde zu dieser Thematik kam eine Schülerin mit einem Gegenvorschlag zu mir. Elisa, eine unserer Montessori-Schülerinnen der ersten Stunde, fragte mich, ob sie statt der Wirbellosen nicht Kapitel 11 bearbeiten könne. Mit einem Vorschlag dieser Reichweite hatte ich nicht im Geringsten gerechnet.

„Kapitel 11?", fragte ich vorsichtshalber nach. „Kapitel 11 geht über Genetik. Das ist nicht gerade ein einfaches Thema! Überhaupt nicht einfach, das macht man eigentlich erst in der zehnten Klasse."

Doch die Siebtklässlerin Elisa schien sich ihrer Sache sicher.

„Mich interessiert das Thema", erklärte sie, „außerdem behauptet ihr dauernd, wir dürften uns unsere Themen aussuchen."

„Sicher, sicher", gab ich zu, „das sollt ihr auch. Lass mich mal eine Nacht darüber schlafen. Ich denke, wir werden uns schon einig werden. Morgen sage ich dir Bescheid, wie wir an die Sache herangehen. Okay?"

Was sollte ich machen? Die Genetik ist das Kernstück der Biologie. Ich hatte einige Jahre gebraucht, bis ich ich glaubte die komplexen genetischen Prozesse einigermaßen verstanden zu haben – als Erwachsener! Andererseits reizte mich Elisas verwegener Vorschlag. Sie hatte ja auch recht: Wir rühmten bei jeder Gelegenheit Die Freiheit der Wahl, in diesem Fall die freie Wahl eines Themas. Ich war bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Vier Wochen später erklärte Elisa den anderen Siebtklässlern (die ihr gebannt zuhörten) anhand selbsterstellter PowerPoint-Folien die Grundlagen der Genetik. Die Folien waren sagenhaft, erstklassig, viel erstaunlicher war allerdings die Tatsache, dass sie alles verstanden hatte. Nicht zu fassen, dachte ich amüsiert, so funktioniert also Montessori!

Unsere Schule am Stadtwald ist wie eine lauschige Insel im Meer des himmlischen Friedens. Diese Formulierung mag zu viel Zucker enthalten, aber es steckt ein wahrer Kern in dem Vergleich. Es lässt sich nicht abstreiten, dass die Klientel des MBH keinen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft abbildet.

Besucher des MBH möchten immer wieder wissen, ob unsere Schuleltern reiche Leute seien; man müsse schließlich „ordentlich Schulgeld berappen". Doch dank der sozialen Staffelung des Schulgeldes wurde auch einkommensschwächeren oder alleinerziehenden Eltern der Zugang zur Schule ermöglicht. Bezogen auf ihre Einkommen repräsentiert die Elternschaft des MBH tatsächlich eine relativ diverse Population der verschiedenen sozialen Schichten. Ein gemeinsames Merkmal, das sie als Gruppe unterscheidet, ist ein vergleichsweise hoher Bildungsstandard sowie ihre politischen Affinitäten, die überwiegend im sozial-liberalen bis grün-linken Spektrum lagen.

Was viele der Väter und Mütter des MBH außerdem gemein hatten, war der Wunsch, ihren Kindern traumatische Schulerfahrungen zu ersparen. Ihr Nachwuchs sollte Freude und Lust am Lernen haben, „ohne Druck lernen", das lag ihnen am Herzen. Einige besonders engagierte Eltern verschickten per Email seitenlange Statements, häufig in Form ungehaltener Beschwerden, wenn die Leistungen ihrer Sprösslinge ihrer Meinung nach ungerecht bewertet wurden. Sie argumentierten, dass die besonderen Begabungen ihres Kindes nicht erkannt würden.

Dieser besorgte, vorsorgliche Elterntyp hat inzwischen durch die leicht spöttische Bezeichnung »Helikoptereltern« [1] allgemeine Bekanntheit erlangt. Zu Maria Montessoris Zeiten gab es höchstwahrscheinlich noch keine Helikoptereltern, doch bin ich mir sicher, dass die erfahrene Pädagogin die nachhaltigen psychischen Schäden erkannt hätte, die entstehen, wenn man Kindern jeden Wunsch von den Lippen abliest und versäumt, ihnen Grenzen aufzuzeigen.

In gewisser (anders als gedachter) Hinsicht lagen die Eltern, die glaubten die besonderen Begabungen ihrer Kinder würden nicht erkannt, mit ihrer Vermutung nicht falsch. Die Besonderheiten eines Kindes erschlossen sich mir, sobald ich sie kennenlernte - die Eltern. Um ein Kind zu verstehen, muss man die Eltern sehen. Die Verlässlichkeit dieser Beziehungsregel versetzte mich derart in Erstaunen, dass ich sie den Van Rij'schen Mittelstufenregeln hinzufügen möchte.

Durch die relativ hohe Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit Lern- und Verhaltensstörungen nahmen die Lehrkräfte des MBH neben dem Unterricht vermehrt erzieherische Aufgaben war. Sie vermittelten den Schülern das Bewusstsein für respektvolle Umgangsformen, setzten ihnen Grenzen, verabredeten mit ihnen Freiheiten und Freiräume und vereinbarten Regeln für die kleinen und großen Routinen des Schulalltags.

Wenn ich während einer Unterrichtsstunde kurz meine »Präsenz« vernachlässigte (um einen Begriff nachzuschlagen oder etwas aus der Materialsammlung zu holen), konnte die Klasse schnell laut werden, und insbesondere Schüler mit Konzentrationstörungen begannen umherzuwanderen, zu spielen, zu singen oder andere von deren Arbeit abzuhalten. Die vielgepriesene Montessori-Stille erforderte eine disziplinierte Stundenvorbereitung und hing entscheidend von der Haltung des Lernbegleiters ab. Wenn man nicht durchgehend hellwach und präsent ist und ein obendrein kein gutes Gefühl für genaues Timing hat, nimmt das Ausmaß an Chaos unweigerlich zu (Van Rij'sches Entropiegesetz; sechster Hauptsatz der Thermodynamik).

Die Eltern des MBH hatten sich für eine druck- und stressfreie Schule entschieden. Sie waren zwiegespalten, denn auf Elternabenden äußerten sie regelmäßig Bedenken bezüglich der Leistungsfortschritte ihrer Kinder. Es sollte ein guter Schulabschluss bei der Sache herausspringen, vorzugsweise das Abitur. Möglichst stressfrei. Ob wir Lehrer die Angelegenheit im Griff hätten?

„Jan-Lasse braucht klare Ansagen. Bitte lasst ihn in aller Deutlichkeit wissen, wenn seine Leistungen nicht ausreichen!", baten Jan-Lasses Eltern.

Ich wollte unbedingt ein guter Lehrer werden, das war mein Wunschziel. Auf dem Weg dorthin machte ich Fehler, vermeidbare und auch schwer verzeihliche. Hauptsächlich Anfängerfehler.

Wenn Cora einen Schüler ermahnte, tat sie es leicht und leise, man konnte nicht einmal hören, was sie sagte. Es war knapp und kurz, wirkte aber effektiv wie eine Harry-Potter-Zauberei. Wie machte sie das bloß? Diese Subtilität! Ich wollte das auch können! Ich brauchte mehrere Jahre bis ich die Feinheiten dieses Bogens einigermaßen heraus hatte.

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[1] Helicopter Parents ist ein in westlichen Gesellschaften seit der Jahrtausenwende bekannter Begriff, der die übertriebene Fürsorglichkeit mancher Eltern beschreiben soll; diese schweben ähnlich einem Rettungshubschrauber unablässig über ihren Kindern, um deren Schritte beobachten und bei der kleinsten Schwierigkeit notfalls sofort Hilfe leisten zu können. In Dänemark ist das gleiche Verhalten untet dem Begriff »Curling-Eltern« (curlingforældre) bekannt; beim Curling wischen Team-Mitglieder (die Eltern) bei Bedarf mit eifriger Besessenheit die Eisbahn glatt, um dem darauf gleitenden Curling-Stein (das Kind) eine optimale Position zu verschaffen. 

Hier und Jetzt 

Den Wunsch ein guter Lehrer werden zu wollen fasste Lulans Ego als sportliche Herausforderung auf, die es hochfokussiert verfolgte. Alles andere war in dieser Phase nebensächlich, sogar die Meditationen. Von 2011 bis 2015 hat Lulan weder meditiert noch seine Tagebuchaufzeichnungen weitergeführt.

21 Rette uns, Maria Montessori!
19 Was ist schlimmer als verlieren?
 

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