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Red ons, Maria Montanelli [1], lautet der Titel eines Buches, in dem der niederländische Schriftsteller Herman Koch seine Schulzeit am Amsterdamer Montessori Lyceum verarbeitet (Koch, 1989). Durch die Wahl des Synonyms „Montanelli" lässt der Autor noch vor der Lektüre des Romans augenzwinkernd seine satirischen Intentionen erkennen. Koch, der in den Niederlanden mit dem Komiker-Trio Jiskefet legendäre Berühmtheit erlangte, kontrastiert auf lakonisch-humorvolle Weise Anspruch und Wirklichkeit des „Montanellisystems".
Der Ich-Erzähler des Romans beschreibt die alltägliche Praxis der oft sakrosankt-verklärten Montessori-Pädagogik aus der distanzierten Perspektive eines durchschnittlich motivierten und begabten Schülers. Der Junge ist genervt von der messianischen Fürsorge seiner Lehrer, denen er Scheinheiligkeit unterstellt. Er wünscht sich Klartext, anstatt ständig alles ausdiskutieren zu müssen.
Konnte das Lebenswerk, das Maria Montessori der Welt hinterlassen hat, die Menschheit vor sich selbst retten? Zur Entwicklung des idealen Menschen führen? Einige ihrer Befürworter vertraten diese Auffassung. Lulan gehörte auch dazu. Er konnte sich vorstellen, dass die Montessori-Methode geeignet war, das innere Potential von Körperpersonen zu entfalten. Weniger idealistisch orientierte Montessorianer sahen die Sache etwas nüchterner. Für sie stand die Berücksichtigung der individuellen Entwicklung der Kinder in einer speziell angepassten Lernumgebung zentral. Lernen konnte nicht nur stress- und frustfrei sein, es sollte sogar Spaß machen, denn zu lernen entsprach den natürlichen Bedürfnissen des Kindes.
Der Erfolg der Methode würde von ihrer konsequenten, »richtigen« Umsetzung abhängen, darin waren sich alle Pädagogen des Montessori Bildungshauses in Hannover einig. Maria Montessori hatte in ihren Schriften die praktische Anwendung ihrer Pädagogik detailliert beschrieben. Doch Schriften sind interpretierbar, vor allem historische Texte, und genau an diesem Punkt begann die Uneinigkeit. Brauchte man als Montessori-Schule unbedingt den sogenannten »Erdkinderplan«, der den herkömmlichen Schultyp durch eine Farm School ersetzt? Was unterschied eine Montessori-Schule, die auf die Umsetzung des Erdkinderplans verzichtete, von einer traditionellen Regelschule?
An diesen Fragen schieden sich am noch jungen MBH die ideologischen Geister. Einige Körperpersonen, nennen wir sie pragmatische Realisten, waren der Ansicht, dass eine pädagogische Reform, die vor mehr als hundert Jahren entwickelt wurde, den veränderten gesellschaftlichen Strukturen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden könne. Die pädagogische Reform der italienischen Ärztin sei eine Antwort auf den militärischen Drill, die körperlichen Züchtigungen und Demütigungen, denen Schulkinder vor 130 Jahren häufig ausgesetzt gewesen seien. Daher dürfe man die Montessori-Methode nicht ungefiltert anwenden, sondern müsse sie an die heutige Bildungssituation anpassen. Außerdem habe Maria Montessori ihre Lern- und Lehrmaterialien hauptsächlich für Kinder der zweiten Entwicklungsstufe entworfen, während es für Heranwachsende der dritten Stufe kaum Montessori-Material gebe. Es sei aus diesen Gründen durchaus mit Montessori-Prinzipien vereinbar, im Fachunterricht der Mittelstufe mit Schulbüchern zu arbeiten.
Eine zweite Gruppe mit eher fundamentalistischen Überzeugungen wollte dahingegen »Montessori pur«. Sie fanden, dass die neue Mittelstufe des MBH mehr einer Regel- als einer Montessori-Schule glich. Man erhoffte sich die Realisierung des so genannten Erdkinderplans in Form eines Bauernhofs, denn Maria Montessori hatte für ihr pädagogisches Konzept für die dritte Entwicklungsstufe exemplarisch ein Landschulinternat beschrieben. Für den Schulhof des MBH an der Bonner Straße, der 2014 noch überwiegend von Kindern der Grundstufen genutzt wurden, planten die Fundis in einem ersten Schritt die Anschaffung von Ziegen, Hühner und Bienen.
Lulan agierte in dieser ideologischen Aufstellung in seiner Lieblingsrolle als Don Quixote, der sich selbst für einen Kreuzritter hielt, immer auf der Suche nach höheren Zielen, nach dem Heiligen Gral, den er in seinen Visionen als weißäugige Krähe gesichtet hatte. In seiner Interpretation hatte Maria Montessori ein Internat in ländlicher Umgebung lediglich als Modellvariante vorgeschlagen; eine Schule mit integriertem Wirtschaftsbetrieb könnte von pubertierenden Jugendlichen gemeinschaftlich bewohnt und betrieben werden. Lulan war von Montessoris Reformmodell aufrichtig überzeugt und setzte sich für dessen langfristige Umsetzung ein. In seinen Augen entsprachen Schulhofziegen allerdings der kosmetischen Fassade eines missverstandenen Erdkinderplans.
Eine weitere, parallele Entwicklung, die zeitlich ein wenig später einsetzte, komplizierte das ideologische Erdkinder-Szenario. Seitens der Schulleitung wurde auf die ursprünglich verpflichtete zusätzliche Montessori-Ausbildung für neue Fachlehrer ab der Mittelstufe verzichtet. Als Wim Ruijsendaal 2019 in seinen zweiten Ruhestand verabschiedet wurde, schlossen gleichzeitig die jungen Frauen und Männer des ersten MBH-Abiturjahrgangs ihre Schullaufbahn ab; es waren Lulans ehemaligen Achtklässler. Das Bildungshaus war rasant gewachsen, der Platz wurde knapp, und die neue Oberstufe erhielt eine eigene Etage in einem Neubau in der Anna-Zammert-Straße. Während dieser Expansionsphase arbeitete ein 17-köpfiges Team von Fachlehrern und – lehrerinnen in der Mittelstufe, die weiterhin im Hauptgebäude an der Bonner Straße untergebracht war. Die Lehrkräfte waren fraglos motiviert und engagiert, nur hatten von 17 Personen gerade mal drei eine Montessori-Ausbildung absolviert.
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[1] Rette uns, Maria Montanelli.
08.11.15
Hannover
Wir stellen jetzt Lehrkräfte ohne Montessori-Ausbildung ein. Meine besserwisserische Kreuzritter-Krähe hält diese Entwicklung für einen strategischen Fehler, dessen Folgen sie als düstere Wolken am zukünftigen Himmel des MBH heraufziehen sieht. Wie denn wohl eine Montessori-Schule ohne Montessori-Lehrer funktionieren könne, will sie wissen.
09.11.15
Hannover
Weiß nicht, was es ist, aber vor dem Einschlafen bekomme ich neuerdings Erstickungsängste. Als bekäme ich keine Luft mehr. Weniger rauchen! Unbedingt.
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Maria Montessori verlegt nach dem Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs 1936 ihren Wohnsitz in die Niederlande. Mitte der 1930ger Jahre gibt es in dem kleinen Land an der Nordsee bereits mehr als 200 Montessori-Schulen, sogar der Hauptsitz der Association Montessori Internationale wurde in die Niederlande verlegt. Der Reformpädadgogin aus Italien gefällt unter anderem, dass niederländische Montessori-Schulen staatlich subventioniert werden.
Die Montessori-Schulen der Niederlande, einer kleinen Nation mit einer ausgeprägten individualistischen Tradition, gehen schon frühzeitig einen Sonderweg. Die Methode der Italienerin wird vereinheitlicht und angepasst. Die Ausbildung von Montessori-Pädadagogen obliegt bis heute in den Niederlanden nicht den zahlreichen Verbänden, sondern wird als standardisiertes Universitätsstudium angeboten.
1939 reist Montessori auf Einladung der Theosophischen Gesellschaft nach Indien, um Vorträge und Ausbildungskurse zu halten. Dabei wird sie von ihrem Sohn Mario begleitet, der ihre Vorträge ins Englische übersetzt. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges werden die Montessoris in Indien als feindliche Ausländer von den Briten interniert.
Die unfreiwillige Verwahrung bietet der zu diesem Zeitpunkt weltweit bekannten Pädagogin Gelegenheit weiterhin vor Menschen aufzutreten. In der inspirierenden Landschaft um Kadaikanal entwickelt sie das Prinzip der Kosmischen Erziehung und den Erdkinderplan. Sie verlässt Indien zum ersten Mal 1946 und kehrt erst 1949 endgültig nach Europa zurück.
Die folgenden Jahre verbringt Montessori umherreisend, erhält Einladungen und hält Vorträge über ihr Lebenswerk. Die unermüdliche Visionärin stirbt 1952 im Alter von 81 Jahren in den Niederlanden. In Noordwijk aan Zee wird auf dem römisch-katholischen Friedhof ein Ehrengrabmal für sie errichtet.
Die kleine Maria wuchs in einem wohlhabenden, gebildeten Elternhaus auf. Der konservative Vater war Finanzbeamter und beaufsichtigte als Inspektor für Steuerabgaben die regionale, staatliche Tabakmanufaktur. Die Mutter entstammte einer Familie von Gutsbesitzern; ihr Onkel, Antonio Stoppani, hatte sich als Wissenschaftler und freiheitsliebender Patriot einen Namen gemacht. Stoppani wurde mit 24 Jahren zum katholischen Priester geweiht, widmete jedoch die verbleibenden Jahre seines Körperlebens den Geowissenschaften und der Paläontologie. 1876, als Maria Montessori sechs Jahre alt war, veröffentlichte Onkel Antonio Il Bel Paese (Das schöne Land), einen Band mit originellen Kurzgeschichten, in denen er die Geologie und die Geografie italienischer Landschaften in einer volksnahen, allgemeinverständlichen Sprache beschrieb. Stoppani gehörte zu den Begründern der Geowissenschaften in Italien; er galt als der Urheber der Bezeichnung Anthropozän [2] für ein neues, vom Menschen dominiertes Erdzeitalter.
Marias Onkel sieht keinen Widerspruch zwischen Spiritualität und Wissenschaft. Er studiert die Bibel mit wissenschaftlicher Logik, versteht, dass man dieses Buch nicht wörtlich nehmen darf, sondern interpretieren muss. Der Geologe sucht nach verbindenden Gemeinsamkeiten von Theologie und Naturwissenschaften. Verfolgten nicht die Anthropologie und die Theologie das gleiche Ziel, sei es mit anderen Mitteln? War nicht das Kernanliegen der beiden Disziplinen, die Herkunft und die Stellung des Menschen in der Welt zu entschlüsseln?
Der Einfluss, den der unorthodoxe und innovative Avantgardist Stoppani auf seine Großnichte ausübt, findet sich in ihrem weiteren Leben und Werk zurück. Die junge Frau studiert gegen den Willen des Vaters wissenschaftliche Fächer, interessiert sich für Mathematik, Embryologie sowie die neue Darwinsche Evulotionstheorie, die das althergebrachte Konzept vom Menschen als Krone der Schöpfung infrage stellt. Über den Umweg eines zuvor abgeschlossenen naturwissenschaftlichen Studiengangs wird sie schließlich an der Universität La Sapienza in Rom als Frau zu einem Medizinstudium zugelassen; sie betritt damit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Domäne, die Männern vorbehaltenen ist.
Antonio Stoppanis geistige Hinterlassenschaft zieht sich wie ein roter Faden durch Montessoris pädagogisches Lebenswerk, findet sich in ihren Schriften über den absorbierenden Geist des Kindes, in ihren Ideen zur kosmischen Erziehung bis hin zum Erdkinderplan. Maria Montessori denkt und analysiert wie eine disziplinierte Wissenschaftlerin, sie entwirft mit wissenschaftlicher Logik eine Vision, die aus der spirituellen Vereinigung eines liebenden Herzens mit einem von Vorurteilen befreiten Geist hervorgeht.
1939 wird Maria von der Theosophischen Gesellschaft zu einer Vortragsreihe nach Indien eingeladen. Die Lehre der Theosophen stimmt mit dem freigeistigen Weltbild der italienischen Reformpädadgogin in vielen Aspekten überein. 1875 in New York gegründet, entsteht mit der Theosophischen Gesellschaft eine Organisation, die sich aus der Flut esoterisch-okkulter Strömungen hervorhebt. Die Gesellschaft verzichtet auf ein zentrales Glaubensdogma, definiert aber für ihre Anhänger einige Grundsätze. Jeder suchende Aspirant, ohne Unterschied von Herkunft, Glaube, Geschlecht oder Hautfarbe, wird in der Organisation willkommen geheißen. Nur eine Voraussetzung muss berücksichtigt werden – sich der Universellen Bruderschaft der Menschheit zu verpflichten. Denn alle sind in Einem vereint. Esoterik und Wissenschaft dienen gemeinsam dem einen wahren Ziel jedes suchenden Menschen, der Erkundung seines Selbst im kosmischen Plan.
Die Theosophie vertritt die Lehrmeinung, dass es kein verborgenes Wissen gebe, das dem Suchenden nicht offenstehe. Seit jeher hält die Faszination des Universums den Menschen im Bann. Er sucht beharrlich nach unentdeckten Naturgesetzen, möchte die in ihm selbst verborgenen Kräfte erforschen und verstehen. Die Theosophie geht davon aus, dass die Offenbarung okkulter Weisheiten auf verschiedenen Wegen erreicht werden könne, sei es durch Meditation, durch mystische Erfahrungen oder durch das Studium der vergleichenden Religionswissenschaften, der Philosophie oder der Naturwissenschaften. Dabei sei es erforderlich, erlerntes Wissen auf den Prüfstand zu stellen, sie zu hinterfragen und gegebenenfalls aufzugeben. Zu welchen Einsichten waren die alten Mystiker, die erleuchteten Meister anderer Völker gelangt? Was denken die Rosenkreuzer, was die Kabbalisten?
Noch im 19. Jahrhundert entdecken die Theosophen eine enge geistige Verwandtschaft zu den Inhalten der Veden, den bis in das erste vorchristliche Jahrtausend zurückreichenden Überlieferungen der hinduistischen Erkenntnislehre. Die Gesellschaft verlegt ihren Sitz zeitweise nach Indien. In den vedischen Texten wird der Mensch aufgefordert, das Selbst zu entdeckten und zu erfahren, wie er zusammen mit anderen Lebensformen von einem Universellen Bewusstsein durchdrungen ist. Die Schriften beschreiben das untrennbare Einssein aller beseelten Wesen, berichten von individuellem Wachstum und der Entfaltung des Menschen durch Reinkarnation, von der Bestimmung und Bindung durch Karma sowie dessen Überwindung durch die Entdeckung des Selbst, die letztendlich zur Erlösung von jeglicher Leiden und zur Erlangung des Gottesfriedens führt.
Die theosophische Lehrmeinung ist in vielen Veröffentlichungen Montessoris zurückzufinden. Die Pädagogin gebraucht ihre spirituellen Ansichten zurückhaltend; umsichtig stellt sie wissenschaftliche Argumente und Überlegungen in den Vordergrund. Mit der Sprache der Wissenschaftlerin beschreibt sie wiederholt, wie spirituelle Faktoren während der menschlichen Entwicklung eine Rolle spielen. Jedes lernende Kind besäße einen „inneren Lehrer", eine Kaft, die einen natürlichen Lernprozess bewirke. In einem Kind, das während seiner Entwicklung nicht gehindert, sondern gefördert werde, könne sich das Potential des „idealen Menschen" entfalten.
[Abschnitt gekürzt]
[2] Das griechische Wort für Mensch, ánthrōpos, bedeutet wörtlich Der Entgegengerichtete; das vornehmlichste Merkmal des aufgerichteten, aufrecht gehenden Menschen ist somit gleichzeitig sein Name.
Erinnerungen
2011, Universität Siegen
Man hatte mich gefragt, ob ich für den Tag der offenen Tür nicht „auch etwas vorbereiten" könne. „Kann ich machen", meinte ich. „Ich werde ein paar Besonderheiten aus der Biologie-Sammlung zur Schau stellen. Ich habe selbst auch einige Kuriositäten in meiner eigenen Sammlung. Ich bereite eine kleine Ausstellung vor und erzähle den Besuchern etwas über die Exponate."
Am Wochenende kam mir eine bessere Idee in den Sinn. Ich würde die Sammlungsobjekte im Rahmen eines Ratespiels ausstellen. Ein interaktives Quiz, das man auf vier oder fünf Laptops spielen kann. Ich hatte das Quiz dann direkt in Powerpoint erstellt. Man kann die Office-Module relativ einfach programmieren, in diesem Fall mit interaktiven Schaltflächen, die den Spieler bei richtigen Antworten automatisch zur nächsten Frage führen. Frage 4 verlangte Grundkenntnisse über Raubtiergebisse: Welcher der vier Schädel stammt von einem Wolf, A, B, C oder D? Wenn man auf B klickt, erscheint eine Folie mit dem Bild eines Schwarzbären und sein Grollen ertönt. Die Antwort ist leider falsch, stand auf der Folie, dieser Schädel gehörte einem jungen Schwarzbärmännchen. Bären sind Allesfresser, sie besitzen kein Scherengebiss wie Hunde und Wölfe. Man konnte danach entweder zu Frage 4 zurückkehren oder mit Frage 5 weitermachen. Bei manchen Falschantworten erschallte spöttisches Gelächter, bei richtigen Klicks tosender Applaus.
Der Tag der offenen Tür war gut besucht, Eltern waren mit ihren Kindern gekommen; sie stürzten sich begeistert auf die Laptops und klickten sich durch Das Große Quiz der Tiere. Die Idee mit Ratespiel war der Renner!
Als ein ruhiger Moment eintrat, bemerkte ich eine kleine betagte Dame, die sich mir schüchtern näherte. Sie trug einen altmodischen dunklen Mantel mit Nerzkragen und wirkte darin seltsam zerbrechlich. In ihren Händen hielt sie ein abgegriffenes Büchlein, eine A5-Kladde.
„Mein Name ist Rosemarie Born", sagte sie schließlich. „Ich finde das sehr schön, was Sie hier gemacht haben. Biologie war früher mein Lieblingsfach."
„Vielen Dank! Es freut mich, dass es Ihnen gefällt!", antwortete ich und musterte sie. Rosemarie mochte Mitte achtzig sein.
Sie zögerte einen Augenblick und blickte auf ihre Kladde, bevor sie sie mir überreichte. „Ich habe etwas mitgebracht. Mein Biologieheft. Ich habe 1937 mein Abitur gemacht."
Ich blätterte vorsichtig durch die vergilbten Seiten der Kladde. Sie enthielt feinste, kolorierte Zeichnungen von Einzellern, Körperorganen, Pflanzengeweben und Diagrammen, alles war akkurat in Sütterlin beschriftet. Die perfekten Abbildungen korrespondierten mit den Biologie-Lerninhalten, wie man sie auch heute noch in der Oberstufe unterrichtete. Dieses Büchlein war ein anrührendes Zeitdokument. Es illustrierte den damaligen Kenntnisstand der Genetik, die noch in ihren Kinderschuhen steckte und entsprechend kurz behandelt wurde, während die angewandte Genetik, die Vererbungslehre, überproportional viele Seiten in Beschlag nahm, fast ein Viertel der Kladde.
„Ich brauche es nicht mehr", meinte Rosemarie. „Ich dachte, dass Sie vielleicht Verwendung dafür haben könnten."
„Das habe ich ganz sicherlich, Frau Born! Dies ist ein fantastischer Schatz. Ihre Zeichnungen sind fantastisch, ganz hervorragend!"
Ich lasse Rosemaries Biologie-Heft in jeder neuen Mittelstufenklasse rundgehen, von Hand zu Hand. Die Kladde leidet darunter, trotzdem möchte ich auf keinen Fall auf sie verzichten. Wenn ich zu Beginn des Schuljahres den Gebrauch der Lehrbücher und das Führen von Arbeitsheften bespreche, gebrauche ich die Kladde als Anschauungsmaterial. Die Kinder sehen sich Rosemaries Zeichnungen meist still und lange an. Sie absorbieren in dem Augenblick eine ihnen fremde Detailtreue und Sorgfältigkeit.
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Montessori-Pädagogik im 21. Jahrhundert
Sind die Bildungssyteme des frühen 20. Jahrhunderts mit der heutigen Bildungslandschaft vergleichbar?
Die traditionelle Erziehung in Elternhaus und Schule neige dazu, die Natur eines Kindes zu unterdrücken, was zu sozialen und mentalen Anomalien während seiner Entwicklung führe, schreibt Montessori. Sie glaubte, dass „Bildung, wie sie bis heute gedacht wurde, reich an Methoden, an sozialen Zielen und Endgültigkeiten ist, (...) aber kaum das Leben selbst berücksichtigt". In der Welt der Erwachsenen sei das Kind ein Außenseiter, ein Fremdkörper, den man in Schulen verbanne, „in jenes Exil, in dem der Erwachsene das Kind solange hält, bis es imstande ist, in der Erwachsenenwelt zu leben, ohne zu stören".
Die jüngsten dieser Aussagen sind vor rund 70 Jahren erstmals veröffentlicht worden. Was hat sich seitdem geändert und was ist gleichgeblieben?
Züchtigende Schulmeister gehören glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Inzwischen werden Menschenwürde und Menschenrechte staatlich geschützt. Heute garantieren Gesetze die Grundrechte - und hierzu zählt unter anderem das Recht auf Bildung. Doch trotz der Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre stellen mangelhafte Bildungsstandards die Politik unverändert vor akute Herausforderungen. Kinder mit psychiatrischen Störungen finden sich in jeder Klasse, Fälle von ADHS nehmen tendenziell zu. Bereits im Vorschulalter werden Kinder getestet und diagnostiziert, um ihren IQ sowie potentielle Lernstörungen wie Dyskalkulie und Legasthenie so früh es geht zu entdecken. Der Lern- und Leistungsdruck ist bei Schulkindern zu einer Dauerbelastung geworden, klassische psychosomatische Krankheiten wie Burnout oder Depressionen sind keine Seltenheit.
In der Schulpraxis unterliegen die Lerninhalte einer engen Regulierung, deren Einhaltung von den Schulbehörden kontrolliert wird. Der Staat legt fest, was zu welchem Zeitpunkt gelehrt wird, er bestimmt außerdem die Modalitäten der Leistungsüberprüfungen. Eine nicht erbrachte Leistung ist ungenügend und wird mit der Note 6 oder 0 Punkten bewertet. Spätestens bei den staatlich koordinierten Abiturprüfungen offenbart sich, dass es nicht ausreicht, das erlernte Fachwissen fehlerfrei wiederzugeben, es muss auch in einer bestimmten Zeitspanne reproduziert werden. Man definiert schulische Leistungen im Sinne des physikalischen Leistunggesetzes, obwohl alternative Bewertungskriterien durchaus denkbar wären.
P = W / t, Arbeit = Leistung / Zeit
Wer Biologie als Abiturprüfungsfach wählt, muss für eine sehr gute Prüfungsleistung den Inhalt des Oberstufenlehrbuchs beherrschen. Darin werden alle Teildisziplinen der Biologie auf relativ hohem Niveau behandelt: Zellstoffwechsel, Molekularbiologie, Genetik und Vererbungslehre, Humangenetik, Physiologie, Neurobiologie, Immunologie, Ökologie, Ethologie, Evolutionsbiologie, Systematik und Phylogenetik sowie die wichtigsten biologischen Merkmale von Tieren und Pflanzen.
Falls sich jemand nach dem Abitur für ein Biologiestudium entscheidet, wird er oder sie erstaunt feststellen, dass die ersten Vorlesungen keineswegs an das Abiturniveau anknüpfen. Im Bachelorstudium beginnt man noch einmal neu von vorne, nämlich mit den Grundlagen der Zellbiologie, der Genetik und so weiter.
Durch die strikt vorgegebenen Lerninhalte wird der Lernprozess schematisiert, unter anderem um mittels normierter Leistungsabfragen aus der Masse der ehemaligen ABC-Schützen Eliten herauszusieben. In den Schulen des 21. Jahrhunderts wird das angesammelte Wissen der Menschheit für jede Jahrgangsstufe didaktisch aufbereitet und in kleinen Portionen schrittweise erweitert. Der komplexe Prozess dieser Informationsverarbeitung findet während der zweiten und dritten Entwicklungsphase der Kinder und Jugendlichen statt.
Es reicht nicht aus, dass die Lehrerin das Kind liebt. Sie muss zuerst das Universum lieben und verstehen.
Diese vermutlich am häufigsten zitierte Aussage von Montessori offenbart den spirituellen Kern ihrer Pädagogik. Sie erkennt, dass Liebe die Grundlage wahren Lernens ist, nicht nur im schulischen Alltag, sondern auch in jeder Form von Beziehung, die Menschen miteinander eingehen.
Es sei unerlässlich, so Montessori, die Bedürfnisse eines Kindes während seiner Entwicklung zu verstehen. Dieses Verständnis müsse umfassend sein; die gesamte Entwicklung eines Kindes sowie seine Bedürfnisse nach körperlichem, geistigem, sozialem, intellektuellem und geistigem Wachstum seien zu berücksichtigen. Eine Definition der menschlichen Entwicklung sollte laut Montessori demnach ganzheitlich sein.
Die Wissenschaft steht in dieser Frage vor einem Dilemma, da sie den Menschen keine integrative, holistische Erklärung der humanen Ontogenese an die Hand gibt. Die Erforschung von Wachstum und Reifung beschränkt sich auf die Beschreibung molekularer Prozesse. Verhaltensstörungen werden separat behandelt und oft monokausal auf zeitlich zurückliegende Ereignisse der Lebensgeschichte eines Individuums zurückgeführt. Im Störungsfall korrigiert man die Symptome der Körperperson therapeutisch, die gesellschaftlichen Ursachen der Symptome bleiben unverändert bestehen.
In Deutschland ist jede Privatschule, die eine formelle Anerkennung als Ersatzschule beantragt, an die Schulgesetze und die behördlichen Vorschriften und Erlasse gebunden. Eine uneingeschränkte Umsetzung des montessorianischen Studien- und Arbeitsplans ist für staatlich anerkannte Sekundarstufenschulen hierzulande derzeit kaum realisierbar.
Es gab einen Vorfall mit den Mädchen der 10. Klasse.
Wir haben uns im Kollegium auf verschiedene Regeln geeinigt, die während des Unterrichts und in den Pausen gelten sollen. Ein striktes Handy-Verbot gehört dazu, und ich stehe überzeugt hinter diesem Verbot. Wir haben oft genug erleben können, was abgeht, wenn diese Regel auch nur ansatzweise gelockert wird. Es brechen in kürzester Zeit alle Dämme. Die Kids sind kaum aufzuhalten, wenn es um Smartphones oder das Internet geht.
Ich gehöre zu denen, die eine strikte Einhaltung der Schulregeln durchsetzen. Ich setze sie durch, weil ich es kann, und ich setzte sie durch, weil ich nicht anders kann.
Der Arbeitsplatz Schule ist naturgemäß ein konfliktreiches Minenfeld. Die Konflikte entstehen, weil verschiedene Interessen aufeinanderstoßen. Als Lehrer muss ich die SchülerInnen objektiv bewerten und den Grundsatz der Gleichbehandlung wahren. Die Schüler und Schülerinnen möchten sehr gut bewertet, zugleich jedoch so wenig wie möglich belästigt werden. Eltern, die die Macken ihrer Kinder gerne in einem positiven Licht darstellen, muss ich als Lehrer regelmäßig just von deren Unzulänglichkeiten berichten. Und genauso regelmäßig stelle ich fest, dass die wunden Punkte der Kinder Spiegelbilder der Schwächen ihrer Eltern sind.
Einige der KollegInnen scheuen vor potentiellen Auseinandersetzungen zurück. Sie haben verschiedene Konfliktvermeidungsstrategien entwickelt, unter anderem schnell wegzusehen, wenn ein Schüler gegen das Handy-Verbot verstößt. Dieses Verhalten verschlimmert die Sache bloß. Anstatt die abgesprochene Regelung anzuwenden und das Handy zu konfiszieren, wird der Verstoß legitimiert. Inkonsequentes oder widersprüchliches Verhalten destabilisiert zuvor getroffene Regelungen, meistens umgehend, und wenn in der Folge die Dämme brechen, laufen die Schüler innerhalb kürzester Zeit scharenweise mit dem Smartphone in der Hand durch die Flure. Wir haben das schon einige Male mitgemacht.
Ich gehe also die Treppe bei der Sporthalle hinauf und höre im Umkleideraum der Mädchen laute Musik. Sapperlot! Ich öffne die Tür, bleibe vor der Schwelle stehen und nehme in einem Sekundenbruchteil die Situation in mir auf, schließe die Tür sofort wieder, während ich das Gesehene verarbeite.
Neun Mädchen, glücklicherweise alle bekleidet, zwei in Unterwäsche, Riane mit Smartphone und Lautsprecher.
Ich öffne die Tür einen Spalt, ohne in den Raum zu sehen, strecke meinen Arm hinein und rufe: „Das Handy, bitte! Ich möchte das Handy haben!"
Die Musik wird ausgeschaltet, weiter passiert nichts. Ich werde sauer, die Situation ist unangenehm, ich möchte die Sache so schnell es geht beenden. Ich öffne die Tür etwas weiter und zeige jetzt, dass ich es ernst meine.
„Ich möchte jetzt sofort dieses Handy haben! Sofort!", rufe ich, und die Mädchen begreifen, dass jeder Widerstand zwecklos ist. Dann kommt nicht Riane, sondern Tamira zur Tür und reicht mir ein veraltetes Handy mit gesprungenem Display.
„Dieses ist nicht das richtige Handy!", rufe ich laut, gebe mich aber mit dem Ergebnis zufrieden, denn ich möchte weg von dieser dämlichen Tür.
Zehn Minuten später höre ich im Flur, wie sich noch während der Pause ein Gerücht lauffeuerartig ausbreitet. Ich sei in die Kabine mit leicht- bis unbekleideten Mädchen gestürmt, um ein Handy zu konfiszieren; ich hätte die Privatsphäre der Mädchen verletzt.
Einige Sekunden Schockstarre! Damit hatte ich nicht gerechnet! Diese Verleumdung kann ich auf keinen Fall unwidersprochen stehen lassen! Der Ruf des Mädchenkabinenstürmers würde mir bleibend anhängen. Ich reagiere sofort und lasse die Mädchen wissen, dass ich nicht gewillt sei, ihnen als Prüfer für die bevorstehenden mündlichen Bio-Prüfungen zur Verfügung zu stehen, falls sie ihre unwahre Anschuldigung nicht zurücknähmen. Innerhalb der nächsten halben Stunde spielen sich dramatische Szenen ab. Tränen fließen, Eltern werden verständigt.
Lange Gespräche mit Wim, der mich leider nur halbherzig unterstützt. Er möchte Ärger in der Schüler- und Elternschaft vermeiden. Mein Ruf scheint ihm weniger wichtig zu sein. Er apelliert an meine Vernunft, der Klügere gebe nach. Verwendet sein Wissen um meine Spiritualität gegen mich.
„Du fühlst dich von den Mädchen angegriffen. Das ist eine typische Ego-Reaktion, das weißt du besser als jeder andere. Da stehst du sicher drüber! Der Klügere gibt nach!", sagt Wim, der Mathematiker.
„Na klar, es ist mein Ego, das jetzt reagiert", antworte ich. „Ich werde dennoch keine Rufschädigung akzeptieren. Tut mir leid, Wim, die Mädchen verleumden mich, das kann ich nicht so stehen lassen. Das werde ich nicht machen."
Abends suche ich nach einer ehrlichen, gerechten Lösung für den Konflikt. Am nächsten Morgen ein Gespräch mit den Mädchen, Wim ist dabei. Ich finde die richtigen Worte, erkläre meine Situation, dass ich als Lehrer nicht akzeptieren könne, wenn Unwahrheiten über mich verbreitet würden. Biete an, den Vorfall vorbehaltlos zu vergessen, wenn sie der wahren Version des Ablaufs zustimmen würden.
„Alle Mädchen waren bekleidet, Riane gehörte das Smartphone, auf dem die Musik lief, ich wollte es konfiszieren. Tamira drehte mir stattdessen ihr veraltetes, beschädigtes Handy an, ich habe die Schwelle des Umkleideraums zu keinem Zeitpunkt überschritten, habe meinen Arm durch einen schmalen Spalt der geschlossenen Tür in den Raum gestreckt." Ich schildere den Ablauf, so wie er sich zugetragen hat, und jedes der acht Mädchen bestätigt, dass meine Version der Wahrheit entspricht. Nur Fiona will es nicht über die Lippen kommen; sie stammelt sich etwas Undeutliches zurecht. Ausgerechnet Fiona, die ich für verbindlich und ehrlich hielt. Ich lasse es dabei, die Zustimmung der acht Mädchen ist für mich ausreichend. Fiona mag mich weiterhin verleumden - ich kann problemlos damit leben.
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Lulan hatte im Bio-Raum einen A4-Bilderrahmen im Bücherregal stehen. Der Rahmen enthielt das Gedicht »Wien, Heldenplatz« von Ernst Jandl sowie drei Fotos von Nazi-Massenveranstaltungen, um den historischen Bezug des Gedichts hervorzuheben.
Das Gedicht passte offenkundig inhaltlich nicht in einen Bio-Fachraum, aber in der Montessori-Pädagogik werden fachfremde Themen durchaus als willkommene Ergänzung des Unterrichts verwendet. Hierdurch wird den Lernbegleitern ein hohes Maß an kreativer Freiheit gewährt. Von der Meiose zu den kruden Schlussfolgerungen der faschistischen Vererbungslehre war es nicht weit. Ausschlagebend in der Montessori-Pädagogik ist, ob eine Botschaft auf offene Ohren und Herzen trifft.
Und von der Vererbungslehre der Nazis war es inhaltlich ein Katzensprung bis zum Wiener Heldenplatz, wo Hitler 1938 pompös Einzug hielt, um theatralisch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zu verkünden, während ihm die Massen mit ausgestreckten Armen zujubelten.
Lulan hatte das gerahmte Gedicht in seinem Fachraum aufgestellt, weil er die skurrile Lyrik Ernst Jandls köstlich fand; in den siebziger Jahren besaß er die „Sprechplatte" Laut und Luise, auf der Jandel selbst seine Sprechgedichte vorträgt. Die LP enthielt auch »Wien, Heldenplatz«, das Lulan für ein virtuoses Meisterstück hielt. Die verdrehte Sprache legte schonungslos den Hitlerschen Wahnsinn bloß, wesentlich effektiver als es normalsprachlich möglich wäre. Jandls sprachliche Verballhornungen kamen zuerst als harmlose Anspielungen daher, ihre Schärfe war nicht direkt auszumachen. Erst beim zweiten oder dritten Anhören entdeckte man hinter den Formulierungen Anspielungen auf den grausamen Irrsinn des Beschriebenen.
Das Gedicht, das zu Beginn der 60er Jahre entstanden war, brach ein Tabu. Über so etwas Schlimmes wie die Nazi-Verbrechen machte man keine Witze! Doch Jandl entlarvt gekonnt die Lächerlichkeit eines Größenwahnsinnigen. Das Gedicht schafft den schwierigen Balanceakt zwischen hilarischer Verspottung und aufrichtigem Entsetzen ohne dabei in Trivialität zu verfallen. Allein die Zeile „hinsensend sämmertliche Eigenwäscher", fand Lulan, würde sich thematisch hervorragend für eine 15 bis 20-seitige literarurwissenschaftliche Hausarbeit eignen.
15.09.2016
Montessori Bildungshaus Hannover
Nun steht der Bilderrahmen annähernd ein Jahr im Bio-Raum, und es haben noch keine SchülerInnen darauf reagiert. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe das Gedicht schließlich nicht für mich selbst dort hingestellt, ich möchte mit den Kids über die Thematik ins Gespräch kommen.
Dann heute eine erste Reaktion! Eine Schülerin der 10B spricht mich nach der Stunde diskret und - wie mir scheint - zaudernd an.
„Stefan, dieses Bild da im Bücherregal …"
„Ja? Was ist damit"
„Lukas meinte, es sei verboten, so was zu zeigen."
„Verboten! Um Himmels willen, nein! Das Gedicht ist anders gemeint. Ich bin doch kein Nazi!"
Mir verschlägt es nicht leicht die Sprache, diese Reaktion habe ich nicht vorausgeahnt. Sie haben das Gedicht nicht verstanden, schlimmer noch, sie haben es falsch verstanden!
Ich opfere eine Bio-Doppelstunde, um die Sache klar zu stellen. Ich habe alles sorgfältig geplant und eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, insgesamt 17 Folien mit Aufnahmen einiger Vernichtungslager zum Zeitpunkt der Befreiung, Bildern der Vertreibungen sowie Fotos meiner Familie mütterlicherseits, die 1945 aus Pommern vor der anrückenden Roten Armee flüchten musste. Als Ergänzung habe ich verschiedene Ton- und Filmdokumente in die Präsentation eingebettet; sie enthalten Beispiele von Hitlers Reden, seiner „aufs bluten feilzer" Stimme, sowie weitere Sprechgedichte von Ernst Jandl. Meine Geschichte reicht bis zum 2. Juni 1968, bis zu dem Tag, an dem der Student Benno Ohnesorg auf einer Berliner Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien von einem Polizisten erschossen worden war. Ich möchte der Klasse darlegen, wie folgenschwer und nachhaltig die Nazi-Herrschaft Deutschland geprägt hat.
Doch sie reagieren nicht. Hören sich mit ausdruckslosen Gesichtern meine Geschichte an. Ich suche in ihren Augen. Da ist nichts, alles blank. Die Schülerinnen wirken unbeteiligt. Das kann nicht sein! Liegt es an mir? Nein, sicherlich nicht! Ich bin zu persönlicher Bestform aufgelaufen und habe alle Register gezogen. Die Kids schweigen einfach vor sich hin.
Wie können sie bei den Filmaufnahmen des geifernden Hitler einfach teilnahmslos dasitzen? denke ich und zeige der Klasse noch ein paar weitere Videos.
„Was geht in euch vor, wenn ihr Hitler reden seht? Was meint ihr?"
Schweigen.
„Ihr könnt ruhig frei sprechen. Vielleicht hat euch diese Hitler-Rede ja gefallen?"
Keine Antwort.
„Oder was fühlt ihr, wenn ihr den Mann mit den Armen fuchteln seht? Haltet ihr Hitler für einen begnadeten Redner, wie manchmal von ihm behauptet wird? Oder findet ihr diese Art zu reden plemplem? Die grroße Umkehrr ist jetzt angebrrochen … die Plutokrraten … haben Deutschland in den Grrondfesten errschötterrt ond zerrröttet", versuche ich Adolfs Redestil zu imitieren.
Annmarie hat kurz vor Ende der Stunde Erbarmen mit mir. „Es ist ganz schön schlimm, das alles zu sehen und zu hören. Wir haben zu Hause schon oft darüber gesprochen."
Ein Mädchen hat sich gemeldet, eine hat geantwortet, das kommunikativste Mädchen der 10B! Sie sagt, sie sei emotional betroffen!
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Nach dieser Doppelstunde glaubte Lulan, dass der deutsche Nationalsozialismus für die Schüler abstrakte Vergangenheit sein musste, etwas Fremdes, ein Relikt aus einer fernen Geschichtsepoche. Ihnen fehlte ein persönlicher Bezug, den er selbst noch hatte. Die Kriegserzählungen seiner Tanten und Onkel, die hundertfach gehörte Fluchtgeschichte seiner Mutter, seine Schul- und Auslandserfahrungen - all das hatte Lulan und seinen Werdegang geprägt. Für seine Schüler waren diese Themen ferne Vergangenheit, sie hatten keinen Bezug mehr zur deutschen Nazi-Geschichte.
Ein ehemaliger Schüler, der während der Jandl-Hitler-Doppelstunde anwesend war, erzählte Lulan Jahre später bei einem Glas Bier, dass die Klasse deshalb träge auf die Thematik reagiert habe, weil sie damals das Thema Nationalsozialismus in verschiedenen Fächer bis zum Überdruss behandelt hätten. Sie hätten genug gehabt von den eindringlichen Appellen, den bohrenden Fragen und einer Flut von Arbeitsaufträgen, dauernd hätte man von ihnen erwartet auf den Nazi-Kram zu reagieren. „Okay, ich verstehe", meinte Lulan. „Davon habe ich nichts gewusst. Aber warum habt ihr mir das denn nicht während der Stunde mitgeteilt?"
16.03.2016
Berlin
Im Kollegium hatten wir beschlossen, dass für die zehnten Klassen der Besuch einer KZ-Gedenkstätte als fester außerschulischer Programmpunkt eingeplant wird.
Jetzt bin ich mit »meiner 10« auf der ersten Fahrt; wir besuchen die Gedenkstätte Sachsenhausen. In der Planungsphase der Fahrt hatte ich mich gefragt, ob sich einige der Jugendlichen während der geführten Besichtigung respektlos verhalten könnten. Die Befürchtungen hätte ich mir sparen können - die Klasse benimmt sich vorbildlich!
Wir schauen uns schweigend die Fotos an, die die Vernichtung von Menschen dokumentierten. Nach dem geführten Rundgang geht es weiter, wir wollen in die Stadt und warten auf die U-Bahn zum Kottbusser Tor. Neben mir unterhalten sich zwei der Jungen.
„Was geht ab, Alter? Was haben wir als Nächstes?"
„Keine Ahnung! Aber um fünf sind wir im Escape Room. Das wird echt cool!"
Wie schön, dass unsere Schule die Notwendigkeit von politischer Bildung anerkennt und fördert! Ich frage mich, wie lange man zukünftig durch solche außerschulischen Aktivitäten den zweiten Weltkrieg und den Holocaust noch lohnend vermitteln kann.
Sie benehmen sich anständig, auch wenn es einen Fade-Out-Effekt zu geben scheint, einen Verblassungsfaktor. Die Aufmerksamkeits- und Betroffenheitsspanne der Smartphone- Generation kommt mir erschreckend kurz vor. Möglicherweise sehe ich das zu eng. Wie war ich denn in dem Alter?
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