Hier und Jetzt
Bad Gandersheim lag am nordwestlichen Rand des Harzes, nur rund 80 km von Hannover entfernt. Anders als bei der ersten Anfahrt mit dem Auto gewann Lulan während der Zugreise dorthin den behaglichen Eindruck provinzieller Abgeschiedenheit. Unbebaute Landschaften lösten das dichte Netz der Städte mit ihren Vororten ab und nach dem Umstieg in Göttingen verlor sich die geschäftige Sphäre der besiedelten Welt in der Ferne. Lulan hatte den Aufenthalt in Göttingen genutzt, um einen To-Go-Kaffee und ein belegtes Brötchen für die Weiterfahrt zu kaufen.
Zwei Monate zuvor hatte ihm seine Krankenkasse mitgeteilt, dass eine Überprüfung seiner gesundheitlichen Verfassung wünschenswert sei. Es gelte, festzustellen, ob er in absehbarer Zukunft in der Lage sein würde, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Man schlug vor, diese Frage im Rahmen einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in der Bad Gandersheimer Paracelsus-Klinik klären zu lassen. Lulan war auf das Ergebnis gespannt.
Die fahle Herbstlandschaft zog wie ein melancholischer Film an den Zugfenstern vorbei. Lulan ließ die vergangenen Monate des Jahres Revue passieren. In den zweieinhalb Jahren seit der Feststellung einer Myelofibrose hatte sich sein Körper erstaunlich gut an die Erkrankung angepasst. Er hatte inzwischen sechs Erythrozyten-Transfusionen erhalten. Zwar konnte er keine anstrengenden Arbeiten mehr verrichten (selbst Joggen im Schritttempo brachte ihn an den Rand eines Kreislaufkollapses), doch leichte, nicht zu lange andauernde Tätigkeiten lagen durchaus im Bereich des körperlich Machbaren.
Der Weg, den er gegangen war, führte in die Freiheit, daran bestand kein Zweifel. Sein Leben bestand aus Meditationen und Healing-Sessions. Er war so glücklich wie nie zuvor, und er war es ununterbrochen. Alle Aktivitäten, die den Frieden des reinen Seins störten, hatte er ruhen lassen.
Ein paar letzte Begehren des Ego-Körpers ließ er „spaßeshalber" zu. Zwei- bis dreimal pro Monat »gönnte« sich Lulan zwei Bier und ein paar Zigaretten (die mehr als halb volle Schachtel warf er am folgenden Morgen stets in den Mülleimer). Eigentlich waren diese Rückfälle - das Aufleben jahrzehntelanger Gewohnheiten - überhaupt nicht nötig; es wäre Lulan vergleichsweise leicht gefallen ganz darauf zu verzichten. Warum ließ er diese einmalige Chance ungenutzt?
Ihm war bewusst, dass sein Ego Gefallen an den Rückfällen fand, und er wusste auch, dass sich der Ego-Geist von den kleinsten Bröckchen ernähren konnte. Solange dieser Verführer des Geistes die geringste Zuwendung bekam, würde er nach mehr verlangen. Lulan hielt sein Ego wie einen in Ketten gefangenen Tyrannen am Leben. Er nahm sich vor, den dreiwöchigen Aufenthalt in der Reha-Klinik zu nutzen, um das sporadische Aufflackern seiner Süchte endgültig zu eliminieren.
29.11. - 20.12.2018
Im Zug nach Bad Gandersheim
Donnerstag, 8:10 Uhr
In der Sitzgruppe mir schräg gegenüber beschäftigt sich eine junge Mutter mit ihrem quengelnden Baby. Sie kann kaum älter als siebzehn sein, ein Mädchen noch. Sie hält das Kind emsig wibbelnd in ihren Armen. Neben ihr sitzt ein etwas kurz geratener stämmiger Mann mit verschränkten Armen. Ich schätze ihn auf Mitte bis Ende vierzig. Wären seine Hände und Unterarme nicht großflächig von blauschwarzen, ineinander verschlungenen Tattoo-Mustern bedeckt, würde ich ihn für einen biederen Verwaltungsbeamten halten. Wer weiß - vielleicht arbeitet dieser Mann tatsächlich als Beamter und ist die Rechtschaffenheit in Person. Stereotype Denkmuster werden im Zeitalter des digitalen Wandels zunehmend obsolet.
Der Tätowierte ist der Vater der jungen Mutter, er gibt ihr nützliche Ratschläge mit auf den Weg.
„Am besten stellste dir einfach ʼn Wecker. Auf sechs Uhr. Wende ihn gefüttert und gewickelt hast, kannste ja noch ne Runde schlafen." Der besorgte Großvater schweigt ein paar Augenblicke, bevor er fortfährt.
„Und zum Wickeln lehchste dir ne weiche Decke auffe Kommode. Da lehchste ihn dann drauf. Du musst alles in Reichweite hahm! Lass ihn nich alleine liegen, weil du erst noch die Windeln holen musst! Wenn der da runtafällt, ist ganz schnell Feierabend! Du musst alles parat hahm, Windeln, Waschlappen, Puder, Kreme … und den Mülleimer.
„Was ist, wenn ich verschlafe?", fragt das Mädchen.
„Stell dir einfach den Wecker. Du musst dir den Wecker stellen! Auf sechs am besten. Dann nimmst du ihn, ganz vorsichtich, auch wenna noch schläft. Du brauchst ihn nich aufwecken, der wird von ganz alleine wach. Dann lehchste ihn vorsichtich auffe Kommode. Schön sachte, und imma mit eina Hand den Kopf abstützen! Und sieh zu, dass de alles schon liegen hass, dass er nich alleine auffa Kommode liecht und vielleich runtafällt. Dann wickelste ihn. Du musst den Rüttmuss einhaltn, das iss echt wichtich! Kannst dich ja hinterhea noch mal aufs Ohr legn."
Die junge Mutter sieht nachdenklich aus dem Fenster. Ihr Vater, dessen Redefluss noch nicht versiegt ist, wendet seine Aufmerksamkeit nun dem unzufriedenen Baby zu.
„Op-pa! Sach mal Op-pa! Ich bin dea Oppa! Mam-ma! Das iss die Mam-ma! Ja-ha! Ich bin der Op-pa! Oppa Marco. Ja-ha! Och, Schätzelein, nicht weinen! Das ist doch nur dea Schaffna! Dea Schaff-na! Och, Schätzelein!"
Ich muss den Impuls unterdrücken, Opa Marco zu widersprechen. Niemand ist ein Körper! Hör auf mit dem Quatsch! Die suggestive Selbst-Täuschung beginnt quasi mit dem ersten Atemzug, bereits als Baby wird man unablässig mit einem Irrtum gefüttert:
„Du bist jemand.
Ich bin jemand.
Du bist eine Körperperson.
Du bist von anderen Körperpersonen getrennt.
Ich bin Papa, das ist Mama.
Du bist unser Sohn."
Die kleine Körperperson, die in Wahrheit weder eine Person noch ein Körper ist, wird getauft und erhält einen Namen. Die ununterbrochene Wiederholung des Namens dient der Festigung einer nicht realen Identität. Diese Gehirnprogrammierung findet seit unserer frühesten Kindheit statt. Wenn alle mir nahen Menschen wiederholt behaupten, dass ich ein Körper namens Horst sei, und es niemanden gibt, der diese Behauptungen berichtigt, dann wird eine irrtümliche Annahme durch ständige, tägliche Wiederholung zu einer vermeintlichen Gewissheit verfestigt. Dann wiederholt der fehlgeleitete Geist das Gelernte.
„Hallo! Ich bin der Horst!"
Es existiert niemand, der Horst ist, auch nicht der Horst. Man könnte höchstens behaupten, dass dieser oder jener Körper Horst heißt oder so genannt wird.
Unser Geist lernt durch diese Konditionierung sehr früh, eine Projektion für wahr zu halten. Es ist eine hartnäckige Illusion, die höchst selten infrage gestellt wird, sie beherrscht unser Dasein, unseren Alltag. Ein Leben lang - wenn wir den Irrtum nicht berichtigen. Diese Berichtigung ist das eigentliche Ziel einer Inkarnation. Sie ist der Sinn des Lebens.
29.11.2018
Donnerstag, 16:20 Uhr
Bin heute mit meinem riesigem Koffer hier eingetroffen. Sie sind sehr nett hier, wie im Henrietten-Stift. Ich fühle mich sofort wohl und bin entspannt. Ich bekomme ein Zimmer in der vierten Etage, mit Balkon. Durchaus der Standard eines Drei- bis Vier-Sterne-Hotelzimmers, einschließlich Minikühlschrank und separatem Dusch-WC-Raum. Lediglich das schmale Bett und die Notrufklingeln geben dem Raum einen dezenten Krankenhaus-Touch.
Jeder Reha-Patient bekommt ein Schließfach im Bereich der großen Eingangshalle.
„Bitte regelmäßig in Ihrem Schließfach nachsehen, ob es aktuelle Änderungen gibt! Auch zwischendurch immer mal nachsehen!", sagt die Dame vom Empfang.
In meinem Schließfach liegt ein Blatt mit den Programmpunkten für die laufende Woche, in meinem Fall für Donnerstag, Freitag und das Wochenende. Schön übersichtlich, mit Uhrzeit und Zimmernummer. Ich habe schon in 30 Minuten meinen ersten Termin.
Aufnahmegespräch, 11:00 Uhr, Zimmer 330, Frau Schamerland.
Mit dem zuvor ausgehändigten Orientierungsplan in der Hand wandere ich durch lange Flure und Gänge, suche den Aufzug in die dritte Etage. Ich trage meine Meditationskette, meine Mala. Aloha-he! Nichts kann mich ängstigen oder erschüttern. Ich bin, der ich bin.
In der dritten Etage wartet Frau Schamerland bereits auf mich. Sie bittet mich in ihr Arbeitszimmer, ein geschmackvoll eingerichteter Raum mit bequemen, modernen Sesseln und kleinen Accessoires, aufmerksam arrangierte Naturgestecke und Steine, gerahmte Fotos, Nebelwälder im Morgenlicht.
Frau Schamerland ist Diplompsychologin und stellt mir einige Fragen nach meinem Befinden. Ihre körperlich-energetische Erscheinung ist fein und harmonisch. Diese Art Makellosigkeit verbinden die meisten mit Schönheit. Die junge Frau ist selbstbewusst ohne zu dominieren, allürenfrei, ohne nerviges Getue, sachlich und gleichzeitig rundheraus nett.
Ob bisher alles zu meiner Zufriedenheit verlaufen sei? Meine Infomappe vom Empfang, ob ich die erhalten hätte?
„Ja", sage ich, „alles pima!"
„Herr van Rij, wie geht es Ihnen zurzeit? Haben Sie Beschwerden, die durch Ihre Erkrankung verursacht werden?"
„Nein, eigentlich habe ich überhaupt keine Beschwerden", antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich bin auch weitgehend symptomfrei, obwohl mein Hämoglobinspiegel etwas tiefer im Keller liegt, bei 8 bis 9 g/dl", erkläre ich, „bei Männern wäre ein Wert um die 13 normal."
Frau Schamerland macht einen aufgeschlossenen Eindruck. Ich erzähle ihr ganz unbefangen, dass ich jegliche Aktivitäten, Hobbies und dergleichen aufgegeben hätte, um nur noch zu meditieren.
„Ach, das ist ja interessant", sagt sie, „Haben Sie bei den Meditationen eine bestimmte Methode oder Richtung, der Sie folgen?"
„Ja, das habe ich. Ich bin Anhänger einer Methode, die zur Advaita-Vedanta-Philosophie gerechnet wird. Die Methode funktioniert sehr gut, zumindest für mich.
Frau Schamerlands Blick verriet mir, dass sie wusste, was wovon ich sprach.
„Wie schön", sagt sie lächelnd. „Ich habe mich auch hin und wieder mit Meditationstechniken beschäftigt. Ich nehme an, dass Sie bei uns auf psychologische Betreuung verzichten möchten?"
Ich bin erleichtert und bejahe ihre Frage. So viel Verständnis hatte ich nicht erwartet.
18:15 Uhr
Man kann sich seinen Sitzplatz im Speisesaal nicht selbst aussuchen, man wird einem bestimmten Tisch zugewiesen. Wer schon einmal eine Klassenfahrt organisiert hat, kann spontan nachvollziehen, dass diese Regelung als friedenstiftende Sozialmaßnahme unerlässlich ist. Wenn man Körperpersonen, seien es Jugendliche oder Erwachsene, frei wählen lässt, vor allem, wenn sie ihre gewohnte Umgebung verlassen müssen, basiert ihre Wahl zu 100% auf Prinzipien der Trennung.
Oh, müssen wir unbedingt mit der 8A gemeinsam auf Klassenfahrt gehen? Die sind so doof!
Stefan, wir brauchen unbedingt ein Vierbettzimmer! Cleo, Mieke, Jona und ich. Bitte? Ja? Wir können uns auf keinen Fall ein Zimmer mit den anderen Mädchen teilen.
Das Ergebnis ist jedes Mal das gleiche – es finden immer jene zusammen, die eine zeitweilige Vorliebe miteinander verbindet. Dies ist die Macht der Gewohnheit. Die, die sich aneinander gewöhnt haben, bleiben am liebsten unter sich. Sie wollen das Gewohnte behalten, das, was sie am besten kennen und berechnen können; sie wehren alles Neue und Fremde ab. Die Extrovertierten finden zueinander und gestatten in ihrem äußeren Kreis allenfalls Körperpersonen, die sie attraktiv oder cool finden. Die Raucher suchen meistens die Gesellschaft anderer Raucher auf, ebenso bleiben die Intellektuellen vorzugsweise unter ihresgleichen. Die, die übrigbleiben, sind die stillen Sonderlinge, die sprachbehinderten Schweiger, die hoffnungslos Veralteten, die Unversorgten und die abnorm Übergewichtigen. Die Unerwünschten, die keiner haben möchte.
Wer eine derartige sozialdarwinistische Restbildung vermeiden möchte, kommt an einer Verteilungsregelung nicht vorbei. Im Speisesaal der Paracelsus-Klinik von Bad Gandersheim werde ich Tisch 21 zugeteilt.
Wir sind zu viert an unserem Tisch, mir gegenüber begrüße ich Joerg aus Walsrode, neben ihm auf Platz 21A sitzt Karla aus Hildesheim und an meiner rechten Seite, auf 21C, Christina aus Celle. Die drei machen einen ungezwungenen Eindruck. Christina und Karla sind schon seit zwei Wochen hier, sie berichten mir freudestrahlend, dass sie in der kommenden Woche entlassen werden. Joergs Körper ist groß und hager, in seinen Augenwinkeln liegt ein schalkhaftes Zwinkern. Er fragt, ob meine Anreise problemlos gewesen sei. Ah, aus Hannover, dort laufe es momentan nicht gerade rund mit den 96ern. Ich stimme ihm zu. Die Körperperson Karla hat kupferrote Haare, ist übergewichtig und wirkt ein wenig unversorgt. Karla nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie lästert in einem fort und klopft lässige, teils vulgäre Sprüche, über die ich schmunzeln muss.
Hier und Jetzt
Um sich während der Reha an den anwendungsfreien Abendstunden und Wochenenden beschäftigen zu können, hatte Lulan seinen Laptop mitgenommen. Die Fotos vom letzten Dänemark-Urlaub mussten noch bearbeitet und sortiert werden. Außerdem hatte er sich vorgenommen in seinem digitalen Tagebuch weiterzuschreiben. Wenn er bestimmte Begebenheiten, Gedanken oder Gefühle schreibend festhielt, folgte er einem inneren Bedürfnis. Lulan dokumentierte seit 45 Jahren sein Leben in Wort und Bild. Mit welchem Ziel – er wusste es nicht.
30.11.2018
Paracelsus Klinik, Freitag,14:00 Uhr
Das Frühstück beginnt pünktlich um 7:00 Uhr. Um zehn vor sieben stehen bereits rund 15 »Insassen« vor der noch geschlossenen Tür zum Speisesaal. (Ich hörte gestern, wie ein Patient im Adidas-Trainingsanzug die anderen ReHa-Patienten als »Inssassen« bezeichnete, ob gewollt ironisch oder aus einer sprachlichen Ungeschicklichkeit heraus, konnte ich nicht erkennen.) Als die Tür geöffnet wird, streben die Wartenden zielstrebig auf das Buffet zu, es bildet sich schnell eine Schlange, weil weitere Insassen zum Frühstück eintreffen. Sie warten schweigend, die Stille scheint vor Anspannung zu knistern. Als ein älterer, gebrechlicher Mann umständlich lange an den Salamischeiben herumwerkelt, wird die gereizte Stimmung greifbar.
„Geht es da mal weiter?", raunzt jemand hinter mir.
Ich lade mehr auf meinen Teller als ich frühmorgens zu essen gewohnt bin. In meinen Begrüßungsunterlagen stand, dass es nicht gestattet sei, Speisen vom Buffet mit auf die Zimmer zu nehmen. Das bedeutet, dass man in den Zeiten zwischen den Mahlzeiten nichts zu beißen hat. Jetzt verstehe ich, warum am Buffet eine gewisse Nervosität herrscht. Die irrationale Urangst, nicht satt zu werden, berherrscht auch im 21. Jahrhundert die Instinkte des Primaten Homo sapiens.
Meine drei Tischnachbarn sitzen auf ihren nummerierten Plätzen. Karla wirkt aufgebracht, sie lässt verbal Dampf ab.
„Das war ja wohl grade echt abseitig! Ich kriege schon wieder n´ Hals!"
„Was ist denn los?", frage ich leicht beunruhigt.
Karla versucht ihre Stimme zu dämpfen: „Die Rolli-Fahrer am Buffet! Wie die sich dazwischen drängeln! Als wenn die nie wieder was zu futtern kriegen, so drängeln die! Wenn die angezuckelt kommen, müssen alle anderen zur Seite springen."
„Ich habe gar nichts bemerkt", erwidert Joerg kauend.
Joerg hat recht. Die Insassen mit Rollator waren auch mir bisher nicht besonders aufgefallen. Außerdem befinden sich unter den rund 200 Patienten im Speisesaal höchstens zwei bis drei mit Rollatoren. Karla scheint zu übertriebenen Verallgemeinerungen zu neigen. Sie gibt die Inhalte unserer Tischgespräche vor und sie bestimmt auch die Tonart.
Jetzt wechselt Christina das Thema: „Ich habe heute ein volles Programm. Richtig voll! Es geht gleich um halb acht los mit Ergometer-Training."
„N´ volles Programm hab ich auch", meint Karla. „Aber glaubst du, dass ich da überall hingehe? Die könn´mich mal! Ich gehe lieber mit den anderen aufn Weihnachtsmarkt. Da kriegt man zumindest was Ordentliches zu beißen. Hier wird man eh nich satt. Geile Fleischspießchen gibt es aufm Weihnachtsmarkt!"
„Ich bin ganz froh, dass ich die Anwendungen hier bekomme", wendet Christina ein. „Mein Fuß ist durch das Training hier viel besser geworden. Nach der OP konnte ich ohne Krücken gar nicht laufen."
Karla duldet keinen Widerspruch. „Ja und!", faucht sie gereizt. „Glaubst du, du bist hier die Einzige, die was hat? Ich hab ´ne Narbe von hier bis hier." Sie zieht mit dem Finger eine Linie quer über ihren Bauch. „Was glaubst du wie weh das tut, wenn ich damit rumturne! Die können sich ihre Gymnastik sonst wo hinstecken!"
Als Christina aufsteht, um pünklich zu ihrem Ergometer-Training zu erscheinen, verlässt auch Karla unsere Tafelrunde.
„Man sieht sich später!", verabschiedet sie sich und wedelt mit ihrer Zigarettenschachtel herum. „Ich muss erst mal `ne Runde inhalieren gehen."
Als Karla den Speisesaal verlassen hat, sieht Joerg mich vielsagend an.
„Ich weiß nicht, warum die eigentlich hier ist", sagt er nach einer Weile und blickt auf Karlas verlassenen Platz. „Die hat überhaupt keine Lust auf gar nichts. Seit ich hier bin, hat die viellleicht zwei oder drei Anwendungen mitgemacht. Und ewig über alles meckern. Echt über alles!"
Dann erzählt mir Joerg mit knappen Worten, dass auch er vor Kurzem operiert worden sei. Er hatte Krebs, man hatte seinen Magen entfernen müssen.
14:30 Uhr
Chefarzt und Leiter der Klinik ist der junge, sehr zuvorkommende Dr. Zirakzadeh. Er fragt nach meinem Befinden und scheint sich zu freuen, als ich meine Meditationen erwähne. Es ist das erste Mal, dass ich einem traditionellen Mediziner begegne, der aufgeschlossen auf meine spirituellen Aktivitäten reagiert. Dr. Zirkazadehs Familie stammt aus dem Iran. Ob es daran liegt?
Nachdem er mich ausführlich über den Verlauf meiner körperlichen Erkrankung befragt hat, erkundigt sich Dr. Zirakzadeh nach meinen Wünschen; man wolle nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden. Welches Ergebnis dieser Reha ich mir denn vorstellen könne.
Mit diesem Entgegenkommen hätte ich im Traum nicht gerechnet. Ich bin ohne besondere Erwartungen nach Bad Gandersheim gekommen, hatte vor der Anreise jedoch leichte Bedenken, ob die medizinische Beurteilung mich am Ende für erwerbsunfähig befinden würde. Ich zog sogar in Erwägung, die »Leiden« meiner Körperperson etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Doch auf Täuschungsmanöver dieser Art kann ich ruhigen Gewissens verzichten, denn der sympathische Chefarzt fragte mich gerade allen Ernstes, welches Ergebnis mir denn am liebsten sei.
So entgegenkommend könnte die Welt immer sein, denke ich und antworte dann wahrheitsgemäß, dass ich mir vorstellen könne, einige Stunden täglich zu arbeiten, wenn die Tätigkeit nicht zu anstrengend sei. Hoffentlich stellt sich meine Ehrlichkeit nicht als Fehler heraus, schießt mir dabei durch den Sinn.
„Die meisten können es mir nicht ansehen, aber mein Körper hat durch die niedrigen Hb-Werte unter anderem ein Problem mit ausdauernder Belastung", erkläre ich dem Arzt. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn man das in meinem Tagespensum berücksichtigen könnte."
04.12.2018
Paracelsus Klinik, Dienstag, 19:45 Uhr
Allmählich lerne ich den Reha-Betrieb besser kennen. Karla verbringt schätzungsweise 90% ihrer Freizeit im Raucherpavillion, einer offenen Holzhütte in Jurtenform. Der Pavillion ist direkt unter meinem Balkon. Ich höre sie abends um halb elf noch in der Hütte lachen, obwohl es nachts empfindlich kalt wird. In der fröhlichen Runde wird eine Zigarette nach der anderen gepafft, um die langen nikotinfreien Phasen im raucherfreien Hauptgebäude zu kompensieren.
Der Tagesablauf wird für jeden Reha-Patienten individuell festgelegt. Es gibt Therapeuten und Trainer für Qi Gong, Wassergymnastik, Funktionsgymnastik, Ergometer-Training und sogar für Meditationen (die allerdings eher mit autogenem Training vergleichbar sind). Und es gibt die "Mucki-Bude", einen Trainingsraum mit Fitnessgeräten.
Joerg hat mir heute beim Abendessen seinen Handgelenk-Computer gezeigt. Ich weiß nicht, wie man die Dinger bezeichnet, sie können mittlerweile den Puls und den Blutdruck messen, Fitness-Kurven berechnen und vieles mehr. Joergs Puls-Messgerät zeichnet seine körperlichen Aktivitäten auf und verarbeitet diese zu farbigen Kreisdiagrammen; jeder Tag erhält ein separates Diagramm. Joergs Tage sind überaus bunt; man kann auf einen Blick sehen, wann er geruht oder geschlafen hat (graue Flächen), ob er sich schnell oder langsam bewegt und welche Abstände er zurückgelegt hat.
„Hier, dies war der Tag, an dem ich meine Magen-OP hatte", erklärte Joerg und zeigte mir einen grauen Kreis, in dem ein hauchdünner blauer Farbstreifen erkennbar war. „Morgens vor der OP war ich noch mal duschen, das ist diese blaue Linie hier. Danach war erstmal Sendepause."
Joerg wischte auf dem Display zum nächsten Diagramm. „Und dies ist der Tag nach der OP. Da war ich schon wieder unterwegs und bin durch die Klinik gewandert."
Der Kreis war zwar noch überwiegend grau, doch die Anzahl der Farbstreifen nahm zum Ende des Tages zu, und die Streifen wurden schrittweise breiter.
Es ist zugleich beeindruckend und erschütternd. Diesem Mann ist der gesamte Magen operativ entfernt worden, und bereits am folgenden Tag unternimmt er längere Spaziergänge durch die Flure des Krankenhauses. Mann-o-Mann!
Hier und Jetzt
Die Paracelsus-Klinik am See bei Bad Gandersheim ist auf Krebserkrankungen spezialisiert. Viele der anwesenden Patienten hatten ihre Diagnose erst wenige Wochen oder Monate vor der Reha erfahren. Ihre gewohnte Welt war zusammengebrochen, sie befanden sich in einem Schockzustand, auch wenn man dies nicht jedem auf den ersten Blick anmerken konnte.
Die Mitteilung, sie hätten Krebs, trifft die meisten Betroffenen wie ein Blitzeinschlag aus heiterem Himmel. Auf den medizinischen Befund folgt vielfach ein chirurgischer Eingriff, durch den Tumorgewebe oder das befallene Organ entfernt wird. Nach der OP zielt die weitere Behandlung darauf ab, noch im Körper vorhandene Tumorverschleppungen, die Metastasen, zu eliminieren. Hierfür unterzieht sich der von der OP geschwächte Patient nach kurzer Erholung einer Chemo- oder Bestrahlungstherapie. Nach dieser physischen und psychischen Tortur kann in Ländern mit entsprechend hohen medizinischen Versorgungsstandards abschließend eine Rehabilitationsmaßnahme verordnet werden. Was vor einem Vierteljahrhundert noch als »Kur« bekannt (und berüchtigt) war, nennt sich heutzutage Reha. Eine Reha dient der nachhaltigen Erholung kranker Körperpersonen.
Lulans Tischnachbar Joerg absolvierte ein vergleichsweise sportliches Reha-Programm. An manchen Tagen zog er frühmorgens noch vor dem Frühstück im Schwimmbad seine Bahnen, hatte gleich nach dem Frühstück sein Ergometer-Training, nachmittags Nordic Walking durch die steile Hügellandschaft und danach noch einmal Kraft-Training in der Mucki-Bude. Er wollte ohne Umwege seine ursprüngliche körperliche Fitness wiedererlangen. In seinen freien Stunden und an den Wochenenden begab er sich auf lange, mehrstündige Wanderungen durch das Harzvorland rund um Bad Gandersheim.
Joerg war besorgt, weil er nach der Magen-OP einiges an Körpergewicht verloren hatte. Außerdem musste er seine Essgewohnheiten radikal umstellen und aß nun in relativ kurzen Abständen kleine, kalorienreiche Häppchen. Sein magenloses Verdauungssystem vertrug nur kleine Portionen. Wenn sich Karla beim Mittagessen einen üppigen Nachschlag genehmigte, konnte sich Joerg einen Kommentar nicht verkneifen. Er müsse mit Krümeln vorliebnehmen, während sich andere den Bauch vollschlügen, meinte er augenzwinkernd, doch Lulan entging der gramvolle Unterton nicht.
Aufgrund seines ausgeprägten Bewegungsdranges verbrannte Joerg mehr Energie als er seinem ausgemergelten Körper zuführen konnte. Statt zuzunehmen verlor er Gewicht, was dazu führte, dass er im Stundentakt Müsli-Riegel und flüssige Astronautennahrung zu sich nahm, um die verbrauchten Kalorien zu ersetzen.
Die verzweifelte Absurdität von Joergs aussichtslosen Bemühungen ging Lulan nahe. Er musste an die Rote-Königin-Hypothese denken, die er früher gelegentlich in Vorlesungen erwähnt hatte. Der Biologe Van Valen sah die Evolution von Lebewesen als einen Wettlauf zwischen verschiedenen Organismen, die in einer bestimmten Beziehung zueinanderstehen, etwa Raubtiere und deren Beute oder auch Wirte und Parasiten. Jedes Lebewesen muss sich schnell und effektiv entwickeln, um gegenüber seinen Kontrahenten im Vorteil zu sein; beide, Jäger und Gejagte, profitieren beispielsweise von einer effizienten Tarnung. Das Raubtier muss sein Jagdstrategie verbessern, um erfolgreich zu sein, während seine Beute ihre Überlebenschancen durch Wachsamkeit und Schnelligkeit bei der Flucht erhöht.
Dieser Wettlauf findet fortwährend statt und erhält dabei trotz aller Optimierungen ein stabiles Gleichgewicht. Das evolutive Wettrennen, bei dem man nicht einen Millimeter vorankommt, erinnerte Van Valen an eine Analogie aus dem Buch Alice im Spiegelland von Lewis Caroll. Im Buch gibt die Rote Königin Alice einen Rat: „Hierzulande musst du so schnell rennen wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst."
Der Vergleich traf voll und ganz auf Joerg zu. Soviel er auch laufen mochte, er kam dabei nicht von der Stelle. Nur besaß er keine Feinde wie Carolls Rote Königin. Sein einziger Widersacher war sein eigenes denkendes Bewusstsein, seine angsterzeugenden Gedanken, die ihn erbarmungslos in Bewegung hielten. Lulans gut gemeinten, etwas naiven Ratschläge, doch mal in einem bequemen Stuhl sitzen zu bleiben und dabei ein Stück Sahnetorte zu genießen, belächelte Joerg höflich. Es soll Körperpersonen geben, die keine Sahnetorte mögen, jedenfalls eilte Joerg weiterhin im Laufschritt durch die bewaldeten Harzer Hügel.
Lulan kannte dieses Verhalten aus eigener Erfahrung. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht im Angesicht der Unumgänglichkeit der angekündigten medizinischen Prognose. Das lähmende Trauma, das unabwendbar auf den Verlust eines Organs oder Körperteils folgt. Der verzweifelte Wunsch dem Tod zu entrinnen, dem Schicksal davonzulaufen.
Joerg war auf der Flucht.
06.12.2018
Paracelsus Klinik, Donnerstag, 11:30 Uhr
Funktionsgymnastik II. Wir stehen zu acht in einer kleinen Sporthalle. Acht Insassen im Seniorenalter, darunter zwei hochbetagte Frauen, die einen besorgniserregend zerbrechlichen Eindruck machen, eine stattliche Dame mit blonder Dauerwelle und ungleichmäßig viel Masse in der Körpermitte sowie vier greise Urgroßväter, die vermutlich das letzte Mal Sport getrieben haben, als man Gymnastik noch Leibesertüchtigung nannte. Sie haben Handtücher und Klarsichthüllen mit ihren Wochenplänen dabei.
Es ist bereits 8:32, es könnte eigentlich losgehen, doch uns fehlt noch die Übungsleiterin. Frau Bierhoff (Physiotherapie) steht auf dem Anwendungsplan.
„Wir können ja schon mal mit den Bällen spielen", schlägt einer der Urgroßväter vor.
„Das würde Frau Bierhoff gar nicht gefallen", wendet die stabile Dame ein.
Der alte Mann grinst trotzig und greift sich forsch einen der Schaumstoffbälle, den er ungelenk in die Luft wirft und mit einiger Mühe wieder auffängt. Als er den Ball unkontrolliert haarscharf an der blonden Dame vorbeikickt, kommt Frau Bierhoff mit federnden Schritten in die Halle marschiert.
„Da kann es wohl jemand nicht abwarten und möchte unbedingt ohne mich anfangen", ruft sie dem verlegenen Opa zu. „Guten Morgen, Herrschaften!", grinst sie in die Runde. „Alle mal im Kreis aufstellen! Da hinten bei Ihnen ist der Kreis noch gar kein Kreis! Schön rund machen!" Wieder ein breites Grinsen, das ihre Hasenzähne entblößt.
Frau Bierhoffs Körper ist unterdurchschnittlich klein, ich schätze ihn auf 165 cm. Sie steht breitbeinig vor uns, äußerlich relaxed, ihre Hände hält sie hinter ihrem Rücken verschränkt. Ich taxiere ihr Äußeres. Nach ihren Begrüßungssätzen weiß ich 100%ig, woran ich bei dieser Frau bin.
Grauweißer Millimeterbürstenhaarschnitt, Nickelbrille. Typ Feldwebel, denke ich amüsiert, mit Sicherheit lesbisch. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, ich stelle das ganz neutral fest. Man wird ja inzwischen geächtet, wenn man aufgrund des Geschlechts diskriminiert, aber ich darf ja wohl noch still für mich denken, was ich möchte. Das wird noch lustig mit der flapsigen Tante! Hauptsache, ich kann mich beherrschen und mache mich nicht über sie lustig. Die verträgt mit Sicherheit keinen Spaß!
Frau Bierhoff beschließt, der Gruppe erst einmal elementare Grundkenntnisse der Funktionsgymnastik zu vermitteln. Ihr Vortrag erinnert an den motivierenden und inspirierenden Charme einer Kasernenhofübung.
„So! Das A und O beim Sport ist das richtige Stehen! Wie steht man richtig?", sie blickt angriffslustig in die Runde. Einige beginnen schüchtern zu kichern. Die Feldwebelin setzt ihre Belehrung fort ohne eine Antwort abzuwarten.
„Beine leicht gespreizt, nicht durchdrücken! Leicht anwinkeln, Knie unter die Schultern. Den Oberkörper dabei lockerlassen!"
Unsere Gymnastiktherapeutin steht jetzt wie ein Torwart beim Strafstoß und schlenkert übertrieben locker mit den Armen herum. Eigentlich ist dies die Qi Gong-Grundhaltung, denke ich, nur nicht so übertrieben. Sie steht da wie King Luis aus dem Dschungelbuch.
„Sehn Sie das?", fragt sie mit schwingenden Armen, „Mir kann nichts passieren, wenn ich so stehe. So, diese Haltung jetzt mal einnehmen, und dann lassen wir die Arme locker hin- und herbaumeln."
Die Insassen versuchen die Körperhaltung der Trainerin zu imitieren, sie wedeln mit ihren Armen, aber sehr sportlich sieht es nicht gerade aus, wie sie dastehen und wippen. Frau Bierhoff scheint das ähnlich zu sehen. Ihr Habichtsblick richtet sich auf einen übergewichtigen, schwitzenden Patienten, der es nicht schafft, den Oberkörper unabhängig vom Unterkörper zu drehen.
„Nur der Oberkörper dreht sich!", wiederholt sie mit gefährlich leiser, melodiöser Stimme und lässt den armen Teufel keine Sekunde aus den Augen. „Nicht das Becken mitdrehen! Die Arme schön lockerlassen!"
Ihre Anweisung zeigt nicht den geringsten Effekt, die Bewegungen des Schwitzenden bleiben unverändert steif und hölzern. Der Mann muss Mitte achtzig sein, er gibt offensichtlich alles. Mehr kann man eigentlich nicht erwarten.
„Hallo?!", ruft die drahtige Therapeutin jetzt mit schneidender Stimme, „Sie drehen ja immer noch Ihr Becken mit! Gucken Sie mal auf mich! Hallo?! Junger Mann! Ich stehe hier! Die Knie stehen parallel unter den Schultern!"
Der Mann wirkt allmählich gestresst. Ich bin kurz davor einzugreifen, doch jetzt geht Frau Bierhoff reihum, um die korrekte Körperstellung bei den acht Insassen zu überprüfen. Keiner kommt ungeschoren davon, sie findet bei jedem und jeder kleine Ungenauigkeiten.
„Wenn Sie diese Haltung richtig einnehmen, kann Sie keiner umwerfen.Alle mal zu mir herkommen! Kommen Sie, kommen Sie! Ich beiße nicht!", behauptet die Trainerin, die ich durchaus fűr bissig halte. Der Rest der Gruppe scheint ihr ebenfalls zu misstrauen. Man hält respektvoll Abstand.
„So! Jetzt brauche ich mal zwei starke, große Männer!", verkündet Frau Bierhoff ohne auch nur eine Sekunde auf freiwillige Meldungen zu warten, „Sie! Und Sie! Kommen Sie mal bitte her zu mir! Einer vor mir, der andere hinter mir! So! Jetzt legen Sie mir Ihre Unterarme auf die Schulter - kommen Sie näher, sonst wird das nichts! Und gleich drücken Sie mich mit voller Kraft nach unten! So stark, wie Sie können. Wenn ich Jetzt! rufe, lassen Sie los! Ok?"
Frau Bierhoff steht mit gespreizten Beinen zwischen den beiden großen, massigen Opas, sie reicht ihnen knapp bis zum Brustkorb. Die beiden Männer versuchen nun fürwahr, die kleine Frau aus Leibeskräften nach unten zu drücken, ihre Arme zittern vor Anstrengung. Frau Bierhoff weicht keinen Millimeter, sie verharrt standhaft in ihrer metastabilen Grundstellung - wie angekündigt und zu hundert Prozent den Erwartungen entsprechend. Sie blickt entspannt in die Runde, eine kleine Elfe zwischen zwei zitternden Zyklopen, allein dieser Kontrast wäre ein Foto wert.
„Sehn Sie!", meint Frau Bierhoff lächelnd (die dicken Opas drücken weiter). „Mit der richtigen Haltung haut Sie nichts um!"
Dann peitscht ansatzlos ihr heller Befehl zum Loszulassen durch die Gymnastikhalle: „Jetzt!", und als die beiden Männer ihre Arme von ihren Schultern nehmen, hüpft sie federnd ein paar Zentimeter in die Höhe, als würde sich die Spannkraft ihres durchtrainierten Körpers spontan von selbst entladen.
„Haben Sie das gesehen?", fragt sie triumphierend mit großen Augen, als hätte sie gerade einen Weg entdeckt die Schwerkraft dauerhaft zu überwinden.
„Kommen Sie!" fordert sie ihre beiden männlichen Assistenten auf. „Wir machen das gleich noch mal! Arme auf meine Schulter und ordentlich drücken!"
Sie wiederholt die Zirkusnummer tatsächlich ein zweites Mal, als gelte es letzte Zweifel ihres Publikums zu zerstreuen. Wieder drücken die beiden Männer mit zitternden Armen auf ihre Schultern.
„Jetzt!", ruft Frau Bierhoff, und wieder hüpft sie demonstrativ ein paar Zentimeter in die Höhe.
„Das ist der ganze Trick! Wenn Sie richtig stehen, kann Sie nichts umwerfen!", wiederholt sie abschließend zum x-ten Mal.
Das war jetzt also der heiße Tipp für siebzig- bis achtzigjährige Reha-Patienten mit schweren körperlichen Handicaps! Eine stabile Grundhaltung, mit der ihnen nichts mehr anzuhaben sein würde. Doch wer weiß, vielleicht ist die Übung für Senioren, die etwas wackelig auf den Beinen stehen, ein goldener Tipp.
Ich denke an Alex Wu, der beim Qi Gong-Unterricht im Oibibio 23 Jahre zuvor wirklich die Überwindung der Schwerkraft demonstriert hatte. Auch Frau Bierhoff bietet in Bad Gandersheim Qi Gong-Übungen an, neben Funktions- und Wassergymnastik. Ich nehme mir vor, einen großen Bogen um ihre Qi Gong-Kurse zu machen.
„Beim nächsten Mal machen wir mit Ballspielen weiter!", ruft Frau Bierhoff.
Die halbstündige Funktionsgymnastik II ist vorbei. Endlich, denn durch das lange Stillstehen und Zuschauen ist mir richtig kalt geworden. Ich weiß nicht, ob Physiotherapeuten eine didaktische Ausbildung erhalten. Wahrscheinlich nicht.
Meine nächste Anwendung beginnt erst in einer Stunde. Ich bestelle am Kiosk im Foyer eine Tasse heißen Tee. Dr. Zirakzadeh hat meinen Wunsch netterweise berückichtigt, mein Tagesprogramm sieht sehr akzeptabel aus.
Hier und Jetzt
Auf dem schmalen Balkon seines Zimmers konnte man in Längsrichtung zum Klinikgebäude auf einem Plastikstuhl sitzen und die Hügellandschaft der nordwestlichen Harzausläufer bewundern. In der frühen Abenddämmerung waren die Lichter einer benachbarten Reha-Klinik sehen.
Lulan genoss den Aufenthalt in der Paracelsus-Klinik. Von seinen Verpflichtungen befreit, blieb ihm endlich Zeit für sich selbst, für lange Liegengebliebenes. Neben den unsortierten Fotos der letzten Jahre befanden sich auf seinem Laptop noch jede Menge Zeichnungen und Skizzen, die er weiterentwickeln wollte. Hierfür hatte er auf dem Gerät verschiedene Anwendungen für die professionelle Bearbeitung von Bildern, Videos und Tonaufnahmen installiert. Adobe Photoshop, Pinnacle Studio, Magix Samplitude – mithilfe dieser Programme konnte er kreative Impulse zum Ausdruck bringen und Ideen experimentell verarbeiten.
Einzig die leise Stimme der Vernunft äußerte Bedenken. War es nicht das Ego, das glaubte sich ausdrücken zu müssen? Und was bedeutete „endlich Zeit für sich haben"? War die Vorstellung, über Zeit verfügen zu können nicht eine Illusion?
Alles auf einmal, es wird schon in Ordnung sein. Lulan schob alle zweifelnden Fragen beiseite. Der Drang etwas Neues zu erschaffen dominierte seinen Geist. Er begann an einer älteren, halb-abstrakten Kugelschreiberskizze zu arbeiten; für ihn stellte sie eine Art Fantasievogelpiloten dar, der mit flatternden Fähnchen durch die Lüfte schwebte; die fertige Arbeit erhielt den Titel „Vogelfrei". Danach kombinierte er zwei andere Skizzen zu einem einseitigen Nonsense-Comic, den er „Dali-Dali" nannte. Zeitgleich entstand die US-Stamps-Briefmarkenserie „Marilyn".
10.12.2018
Paracelsus-Klinik, Montag, 23:10 Uhr
In den Abendstunden habe ich Zeit für verschiedene Bildprojekte, für die ich seit einigen Jahren Ideen gesammelt habe. Die Sammlung ist umfangreicher als ich dachte, insgesamt um die 60 Fotos, eingescannte Skizzen, halbfertige Zeichnungen und ältere Arbeiten, die mir nicht gefallen haben. Ich hatte vor einigen Jahren einen separaten Ordner hierfür angelegt und ihn »Projekte« genannt.
Die archivierten Bilddateien waren „für später" gedacht. Es sind potentielle Bilder, visuell ansprechende Ideen, für die ich seinerzeit keine Lösung parat hatte. Mir fiel nichts Vernünftiges ein.
Jetzt sehe ich sie mir nach einer längeren Pause wieder an und staune über ihr kreatives Potential. Es juckt mich in den Fingern. Ich öffne spontan die Skizze eines seltsamen fliegenden Vogels in Photoshop. Es ist eine eingescannte Kugelschreiberzeichnung und ich beginne sofort sie zu bearbeiten. Ich sehe das fertige Bild vor mir.
11.12.2018
Paracelsus Kilinik, Dienstag, 14:00 Uhr
Ergometertraining, Raum 106. Frau Bierhoff sitzt am Therapeutentisch und führt Selbstgespräche, an denen sie die anwesenden Patienten teilhaben lässt. Neben mir strampeln vier andere Insassen auf ihren radlosen Tretmühlen. Einige sind verschwitzt, sie vermitteln den Eindruck eiliger Entschlossenheit, als müssten sie dringend ein wichtiges Ziel erreichen, doch sie kommen nicht von der Stelle. Die Rote Königin ist allgegenwärtig, denke ich amüsiert.
Mein »Tempo« ist eher ein wenig zu langsam, ich habe einen relativ geringen Tretwiderstand eingestellt. 30 Watt. Ich könnte wahrscheinlich auch 20 Minuten mit 40 Watt Widerstand durchziehen, aber viel mehr ist nicht drin, mit einem Hämoglobin-Wert von 8,4 g/dl. Der Mann neben mir saust mit 120 Watt durch sein Ergometerpensum.
An ihrem Tisch, über unsere Anwendungspläne gebeugt, hält Frau Bierhoff einen Vortrag über die Grundlagen des Reha-Sports. Die Therapeutin betont wie wichtig es sei, auf seine Kondition acht zu geben, niemals eine Leistung zu forcieren, notfalls eine kurze Pause einzulegen.
„Das ist das A und O", sagt sie mit fachkundiger Miene, „Niemals übertreiben. Sie kennen Ihre eigenen Grenzen am besten."
Dann blättert sie eine Weile ziellos in den Listen und Tabellen auf ihrem Tisch herum. Sie kann sich schlecht mit sich selbst beschäftigen, denke ich. Frau Bierhoff stößt schließlich auf mein Datenblatt, runzelt die Stirn. Ich ahne, was jetzt kommen wird.
"Geht da nicht etwas mehr, Herr van Rij?", fagt sie mich, und obwohl sie ihre Frage vorsichtig stellt, haut mich die Tatsache, dass sie zwei Minuten nach ihren Belehrungen überhaupt diese Frage stellt, fast aus dem Sattel. Die gute Frau hat offenbar keine Probleme mit inneren Widersprüchen. Gerade noch hält sie Vorträge über Leistungsgrenzen, und jetzt stellt sie meine infrage. Wie krass ist das denn?
"Nein, eigentlich nicht", antworte ich nicht ganz der Wahrheit entsprechend. „Ich bin an meiner Leistungsgrenze."
"Darf ich fragen, warum Sie nicht mehr leisten können?"
Ich habe kein Problem damit, Erkrankung meines Körpers vor anderen zu besprechen. Ich habe gelernt, dass das Verbergen von persönlichen Eigenheiten Angst erzeugt. Das Ego möchte gegenüber anderen stark erscheinen, es verbirgt daher tendenziell eigene Fehler und Schwächen – und befürchtet gleichzeitig, dass der Schwindel entdeckt werden könnte. So entsteht Angst.
"Mein Körper produziert nicht genügend rotes Blut", erkläre ich der Physiotherapeutin. „Ich habe einen sehr niedrigen Hämoglobin-Wert, gestern wurde 8,4 gemessen. Ich kann zwar kurzzeitig Kraft aufbringen, aber ausdauernde Aktivitäten gehen bei mir nicht. Vor allem, wenn die Anstrengung die Beine betrifft, Treppen steigen, in den Bergen wandern – das geht nur im Schneckentempo."
Frau Bierhoff schaut skeptisch drein. "Da ist wohl einiges psychologisch", meint sie leise; es klingt wie ein diagnostisches Fazit.
"Nicht nur einiges!", rufe ich munter. „Alles ist psychologisch!"
Meine Aussage findet bei Frau Bierhoff keine Zustimmung. „Nicht alles!", wendet sie ein. „Es gibt ja auch immerhin noch körperliche Ursachen!"
"Nein! Es gibt keine körperlichen Ursachen!" Meine Antwort kommt mit einer Entschiedenheit, die die Trainerin überrascht. Ich kann nicht zulassen, dass dieser unheilvolle Fehler unwidersprochen in den Köpfen der Insassen stehen bleibt. "Der Körper ist in jeder Hinsicht neutral", fahre ich fort."Wir sind keine Körper! Ich bin kein Körper!"
Ich gebe unumwunden zu, dass diese stark verkürzte Behauptung ohne vorherige Erläuterung als Provokation verkannt werden könnte. Und genau so fasst die drahtige Therapeutin meine Behauptung auch auf - als Provokation. Sie erhebt sich von ihrem Stuhl, sichtlich erregt, und stapelt unsere von ihr quittierten Unterlagen am rechten Tischrand.
"Wie Sie sind kein Körper?", fragt sie mit rhetorischer Entrüstung. "Was denn sonst? Sie sind ja als Körper geboren worden!"
"Ich bin nicht geboren worden. Ich bin immer da!", antworte ich und bezeuge das ewige Licht des Selbst.
Meine frohe Botschaft fällt bei Frau Bierhoff nicht in fruchtbare Erde. Im Gegenteil, sie ist jetzt regelrecht fassungslos, und eine steile Falte auf ihrer Stirn verleiht ihr einen grimmigen Ausdruck.
"Also, das hat wohl keinen Zweck so zu diskutieren! Selbstverständlich sind Sie ein Körper!", schnappt sie brüskiert.
"Da haben Sie ganz recht! Man sollte auch gar nicht darüber diskutieren, man muss es sich realisieren! Nur das Ego glaubt ein Körper zu sein", versuche ich zu beschwichtigen.
Der Patient auf dem Ergometergerät rechts von mir stellt mir eine Frage, die ich nicht richtig verstehe, weil auch Frau Bierhoff weiterspricht. Ich versuche ihm zu antworten, doch Frau Bierhoff grätscht herrisch dazwischen:
"Unsinn! Ich weiß, welche Rolle das Ego spielt, ich meditiere selbst auch schon sehr lange. Sie sind ja wohl offensichtlich ein Körper. Sie sind schließlich auf dieser Welt!"
"Es gibt keine Welt!", sage ich, wieder wahrheitsgemäß. Wie viele Menschen mochten für Behauptungen dieses Kaliberswohl schon in der Klapsmühle gelandet sein?
Jetzt ist es Frau Bierhoff des Guten zu viel, sie kann nicht mehr.
"Das reicht dann jetzt, das hat ja wohl keinen Zweck! Absolut lächerlich, so kann man nicht miteinander reden!", entrüstet sie sich und verlässt eingeschnappt den Ergometerraum, während sie im Gang noch böse vor sich hinmurmelt. Wir Reha-Patienten bleiben schweigend zurück, ohne Aufsicht, auf radlosen Rädern strampelnd ohne voran zu kommen. Fünf Insassen im Wunderland.
12.12.2018
Paracelsus-Klinik, Mittwoch, 23:50 Uhr
In der Klinik habe ich zu Beginn ein Haus voll leidender Menschen gesehen, kranke Menschen, hunderte kaum erträgliche Einzelschicksale. Inzwischen ist mein Eindruck etwas differenzierter. Manche sehe ich nach wie vor vergrämt, in sich gekehrt, mit ernsten Mienen ihre Mahlzeiten einnehmend. Andere scheinen ihr Los jedoch leichter und mit Humor zu nehmen - zumindest in der Öffentlichkeit. Sie wirken nach außen fröhlich und guter Dinge; auch ich gehöre als Körperperson zu dieser Kategorie.
Unter den Insassen gibt es einige, die auf andere zugehen. Es sind Kümmerer, Männer und Frauen, die sich - obwohl selbst schwer erkrankt - um andere bemühen, ihnen ihre Hilfe anbieten, mit ihnen mehrmals täglich sprechen, um sie aufzumuntern. Wie aufmerksam wir miteinander umgehen können! Ich sehe wie sich kleine Gruppen formieren und insgesamt eine Gemeinschaft entsteht. Persönlichkeiten, die lernen müssen eine schwere körperliche Erkrankung auf allen Ebenen zu verarbeiten.
Mein Tischnachbar Joerg hat sein Reha-Programm absolviert und ist abgereist. Seit vorgestern sitze ich mit Oktay zu Tisch. Oktay ist 64 und hat vier Herzinfarkte hinter sich. Da die Klinik in Bad Gandersheim auf onkologische Fälle spezialisiert ist, muss Oktay zusätzlich auch noch an Krebs erkrankt sein, mir gegenüber erwähnt er nur die Herzinfarkte.
In Bad Gandersheim erfahre ich Leidensgeschichten, die »meine eigene« körperliche Erkrankung wie eine kleine Schürfwunde am Knie erscheinen lassen.
17.12.2018
Paracelsus-Klinik, Montag, 00:25
Am Wochenende war Cora zu Besuch hier. Schwierige Gespräche.
„Es ist dir egal, ob ich dich besuchen komme oder nicht!"
Ich versuche ehrlich zu antworten, bin aber nicht wach genug. Wieder diese Missverständnisse.
Nachdem das Taxi sie abgeholt und zum Bahnhof gebracht hat, kommt der Schmerz. Ego-Liebesschmerz. Wie kann sie glauben, dass sich 42 gemeinsame Jahre einfach in Luft auflösen könnten? Warum kann sie nicht sehen, dass man nichts verliert, sondern alles dazu gewinnt, wenn man das Ego aufgibt?
Ihr Ego fürchtet sich vor der Überwindung meines Egos.
4:20
Ich bin früh wach und arbeite an der Vogelskizze weiter. Die Bildidee ist originell. Richtig gut.
7:35 Uhr
Ich schnappe während des Frühstücks Dialogfragmente vom Nachbartisch auf. Vier Männer an einem Tisch, Männer unter sich. Sie lassen weder banale noch komplizierte Themen aus und schwafeln bereitwillig über jeden Gedanken, der ihnen durch die Birne schießt.
"Also ich habe ja schon viel erlebt, aber ich war noch nie im Puff!", höre ich einen der vier Insassen sagen. Der Kerl sieht witzig aus, ein eigenwilliger Haarkranz ziert sein ansonsten spiegelglattes Haupt. Mit gut zwei Meter Körperlänge ist er kaum zu übersehen. Der Lange heißt Günni, kommt aus der Wedemark und ist – wie seine T-Shirts unübersehbar verraten - Fan von Hannover 96.
„Bezahlt wird immer vorher", fährt Günni fort. „Erst musst du berappen, damit es hinterher keine Diskussionen gibt."
Günni achtet nicht besonders auf seine äußere Erscheinung. Er trägt ein altmodisches Kassenmodell als Brille, Birkenstock-Schlappen und eine abgetragene Jogginghose. Anderen Insassen begegnet er mit unvoreingenommener, freimütiger Offenheit.
„Und für das Geld kannst du dir dann drei Mäuse aussuchen", meint Günni, während er seine dritte Brötchenhälfte mit Erdbeermarmelade einkleistert. „Mit denen kannst du dann alles machen! Du kannst alles machen, und wenn du die drei schaffst, kriegst du eine vierte umsonst dazu."
Ich frage mich, wie dieser Mann an sein fachkundiges Detailwissen gekommen sein mag, er ist schließlich „noch nie im Puff" gewesen. Günni vertilgt derweil in einem Bissen die Hälfte seines Marmeladenbrötchens und verkündet kauend das Resümee seiner Betrachtungen: „Lieber werfe ich mein Geld in den Gully!"
Ich gebe zu, dass ich nach der Begeisterung über die Angebotsvielfalt der Prostitution diese Schlussfolgerung nicht erwartet habe. Günni gehört sehr wahrscheinlich zu den Menschen, die meinen, was sie sagen. Er ist auch nicht der Typ, der ernsthaft versucht seine Macken zu verbergen. Günni ist authentisch.
Jetzt beschreibt er noch ausführlich einige Highlights der Frankfurter Swinger Club-Szene, bevor er ohne ins Stocken zu geraten einen grandiosen erzählerischen Themenwechsel in die Wege leitet. Von einem Satz auf den anderen vergleicht Günni nicht mehr Bordelle, sondern die beliebtesten PKWs der achtziger Jahre.
"Also mein erster Wagen war noch mein bestes Auto, bis heute. Das war ein Ford, wie hießen die noch?"
"Ford Taunus?" schlägt Günnis rechter Tischnachbar vor.
"Nee, die nicht! Die Flachen!"
"Ford Capri?"
"Genau die. Ein Ford Capri war das! Ein toller Wagen!", erklärt Günni und wendet sich seinem Tischnachbarn zu. Jetzt verstehe ich nur noch Bruchstücke seiner Autogeschichten.
„ ... seitdem haben die keine Probleme mehr mit der Lenkung ... deshalb hatte Mercedes ja lange die Nase vorn ... aber der erste Ford Capri war ganz klar noch mein bester Wagen!"
20:55 Uhr
Raucherhütte, Paracelsus-Klinik
Oktay sieht überwiegend sorgenvoll aus. Sogar, wenn er lacht, schwingen Verzweiflung und Trauer in ihm mit. Ich wünschte ich könnte sie ihm nehmen.
Oktay bietet mir eine Zigarette an. Seine Lebensgeschichte erinnert mich an das Buch Hiob im Alten Testament. Er hatte im Juni seinen vierten Herzinfarkt erlitten und überlebte danach mit knapper Not eine schwere OP am offenen Herzen.
„Ich dürfte gar nicht rauchen", sagt Oktay.
Im August bekam er einen Schlaganfall, von dem er sich kaum erholt hatte, als man Krebs in seinem Dickdarm entdeckte. Oktay spricht mit leiser, sanfter Stimme. Er erzählt seine Geschichte emotionslos und sachlich, als wisse er, dass die Tragik seines Schicksals keine zusätzlichen dramaturgischen Raffinessen erfordere. Sein Blick ist abwesend und nach innen gerichtet. Ich kenne die Ausdruckslosigkeit, die sich in seinen Augen spiegelt. Man versucht zu erspähen, was in der Ferne auf einen wartet.
„Ich hatte einen Schrottplatz", fährt Oktay fort und hält mir die Billigmarkenschachtel für eine zweite hin. „In den 90er Jahren. Ja, ja! Ein großer Schrottplatz war das! 12000 Quadratmeter, mit Montagehalle, Hebebühne und Kranbahn! Habe ich verkauft an einen Araber. Achtzigtausend Mark, was könnte ich mich ärgern! Was könnte ich mich heute ärgern!"
"Wie jetzt?", hake ich nach."Hast du den Schrottplatz für achtzigtausend Mark verkauft?"
"Nein! Nicht den Schrottplatz!", stellt Oktay richtig. „Zweihundertfünfzigtausend habe ich dafür bekommen. Schönes Geld! Schönes Geld! Achtzigtausend hat der Araber für die Montagehalle bezahlt. Viel zu wenig!"
22:10
Ich habe mich entschlossen das Buch zu schreiben. Seit 2003 halte ich meine Gedanken in einem digitalen Tagebuch fest. Die handschriftlichen Notizen füllen acht Tagebücher, die einen Zeitraum von 27 Jahren abdecken, 1976 bis 2019.
Ich hatte mich lange gefragt, warum ich eigentlich Gedanken und Geschehnisse schriftlich aufzeichne. Vor knapp einem Jahr hatte ich die Vision von einem Buch, wobei der Inhalt und die Thematik offenblieben.
Jetzt »sehe« ich das Buch in meinem Geist Form annehmen. Es wird die Geschichte einer spirituellen Reise enthalten. Ganz großes Kino, ein aufregendes Abenteuer, und zwar das Größte, das ein Mensch erleben kann. Ha, ha.
5:25
Wie könnte ich die Geschichte einer atemberaubenden spirituellen Reise so erzählen, dass auch Atheisten, sogar Nihilisten, in ihren Bann gezogen werden? Ich entwerfe den Rahmen, das Konzept, und beginne direkt zu schreiben. Es funzt auf Anhieb. Das ist es! Ich sehe das Buch vor mir, ich weiß, wie ich es aufbauen muss.
Wow! Aufregend!
18.12.2018
Paracelsus-Klinik, Dienstag, 15:10
Wenn sie im Speisesaal am Buffet ansteht, hebt sich Doris durch ihre stattliche, erhabene Erscheinung von der Menge ab. Ihre Präsenz wird durch ihren eigenwilligen Kleidungsstil zusätzlich betont, einer schwer zu durchschauenden Kombination weit fallender, luftiger Hüllen und Schultertücher in beige-blauen Pastelltönen. Doris ist sehr ernst. Sie muss vor kurzem eine Chemo absolviert haben. Jetzt verbirgt sie ihre Haarlosigkeit sorgfältig unter einer straffen Baumwollmütze, die auf den ersten Blick einer Badekappe ähnelt. Manchmal trägt sie eine schlechtsitzende, kastanienbraune Perücke. Ihre kahlen Augenbrauen hat sie mit zwei dünnen Kajal-Strichen übermalt.
In der Cafeteria spricht mich Doris im Vorbeigehen an. Mein Diskurs mit Frau Bierhoff über das Sein und Nichtsein des Körpers scheint in der Klinik die Runde gemacht haben, denn Doris beginnt ohne Umschweife ihrer Verärgerung über unsere Therapeutin für Wasser- und Funktionsgymnastik Luft zu machen.
"Ist das nicht eine Unverschämtheit? Vor allen anderen zu sagen, ich soll mich nicht so anstellen?", fragt sie mich mit bohrender Nachdrücklichkeit.
Durch ihre respektlose, manchmal verletzende Flapsigkeit gelingt es Frau Bierhoff mehrmals pro Woche, Insassen gegen sich aufzubringen. Ich versuche Doris zu beruhigen, nicht übermäßig erfolgreich, wie ich zunächst annehme, denn sie schimpft wütend weiter. Nach drei, vier Sätzen wechselt sie das Thema. Ich erfahre, dass Doris in Marburg wohnt, wo sie bis zu ihrer Pensionierung als Studienrätin (Deutsch und Geschichte) tätig war. Die Erkrankung ihres Körpers erwähnt sie mit keinem Wort. Dann wendet sich Doris mit einer ungewöhnlichen Bitte an mich.
„Entschuldigen Sie meine Direktheit, ich sah vor ein paar Tagen, dass Sie einen Laptop dabeihaben. Wäre es möglich, mir das Gerät für eine Stunde auszuleihen? Ich würde so etwas normalerweise niemals fragen, aber ich müsste ganz dringend eine Email-Nachricht verschicken."
Ich zögere einen Atemzug lang. Der Gedanke, dass man einen fremden Menschen um seinen Laptop bitten könnte, würde mir selbst vermutlich gar nicht in den Sinn kommen. Doris ist eine einsame ältere Frau, die – allein gelassen mit ihrem Schmerz, ihrer Trauer und ihrer Wut - Kontakte zu anderen Menschen weitgehend meidet und sich in die Verbitterung ihres verwundeten Egos zurückgezogen hat. Es würde mich freuen ihr aushelfen zu können.
„Ja, kann ich machen", antworte ich. „Kein Problem! Möchtest du ihn gleich mitnehmen? Ich habe den Laptop hier in meiner Umhängetasche."
Ich habe ein Gastkonto auf dem Laptop eingerichtet, dadurch sind meine persönlichen Daten, Fotos und Dokumente für Fremdnutzer nicht sichtbar; Gäste mit durchschnittlichen PC-Kenntnissen können auf meine Dateien nicht zugreifen, und Doris ist mit Sicherheit weder eine versierte Hackerin noch eine landesweit gesuchte Trickbetrügerin.
Zwei Stunden später mache ich mich auf den Weg, um den Laptop abzuholen. Das Zimmer der Studienrätin liegt im Südostflügel der Klinik. Doris öffnet mir lächelnd die Tür. Es ist bullig warm in dem kleinen Raum, in der Luft hängt ein strenger Geruch.
Sie beginnt sogleich mir Fragen zu stellen, woher ich denn käme, was ich machte. Mit dem Laptop in der Hand erzähle ich ihr in ungefähr 12 Sätzen die Hauptabschnitte meines Körperlebens. Als ich erwähne, dass ich meditiere, fragt Doris, ob ich damit ein positives Ergebnis erzielt hätte.
"Oh ja! ", sage ich. "Mehr noch! Seit ich meditiere bin ich ununterbrochen glücklich. Ich habe keine Ängste und Sorgen mehr. Denn mir ist bewusst, dass ich kein Körper bin"
Dieser letzte Satz war einer zu viel. Ich sehe den Anflug einer Verhärtung in den Gesichtszügen der pensionierten Lehrerin.
„Ach ja, wie schön!", sagt sie knapp. „Jedenfalls vielen Dank, dass ich den Laptop benutzen durfte. Das war sehr nett. Vielen Dank nochmals! Tschüss!"
Kaum kommt das Tschüss! über ihre Lippen, da fällt schon die Tür hinter mir ins Schloss. Au weia! Doris hat es mit der Angst bekommen. Wie schön, dass sie so deutlich reagiert! Ich schätze Deutlichkeit über alles.
Mein Ego ist ein Plappermaul. Die reine Wahrheit zu bezeugen ist nicht in jedem Fall hilfreich, nicht jeder erkennt meinen grenzenlosen Frohsinn.
20:35
Ich gehe zur Raucherhütte, aber es ist niemand dort. Es ist mittlerweile auch zu kalt, um sich länger in der unbeheizten Hütte aufzuhalten. Ich gehe 5 Minuten auf und ab, und verziehe mich dann wieder in die gemütliche Wärme meines Reha-Zimmers.
22:12
Wohin sind die Raucher heute ausgewandert? Es ist den ganzen Abend niemand in der Hütte gewesen.
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