Der Geist, der sein wahres Selbst nicht kennt,
hält sich für eine separate Körperperson.
Dies ist das bestimmende Merkmal des Egos.
***
Hier und Jetzt
Seine frühesten Erinnerungen? Bis vor kurzem noch war Lulan davon überzeugt keine zu haben. Es gab keine Momente, von denen er behaupten konnte, dass er zu diesem oder jenem Zeitpunkt das erste Mal seinen Körper, sich selbst oder seine Umgebung wahrgenommen hätte. Er glaubte bereits als Kind, schon immer da gewesen zu sein.
In seinem Gedächtnis waren die Bilder aus seinen ersten Körperlebensjahren zu 90% unterbelichtet, und in nicht gerade wenigen Fällen war sich Lulan nicht mehr sicher, ob er eine bestimmte Erinnerung überhaupt selbst erlebt hatte. Vielleicht hatte er sie nur geträumt oder unbewusst die Erinnerungen von anderen aufgeschnappt.
Sein Langzeitgedächtnis war offenkundig degeneriert, womöglich die Folge einer seltenen neurobiologischen Fehlschaltung, verstärkt durch den Tribut, der seinem langjährigen Konsum von Genuss- und Rauschmitteln gezollt sein mochte. Ihm fehlte etwas, er konnte nicht mitreden, wenn sich andere an jeden Pups ihrer Kindheit erinnerten.
Cora gehörte zu den anderen. Lulan bewunderte ihr lückenloses Erinnerungsvermögen, doch die alltäglichen Konfrontationen mit ihren soliden Gedächtnisleistungen bereiteten ihm Unbehagen.
Sein Freund Uwe Berg, ein ehemaliger Dorfschullehrer, erzählte ihm einst beiläufig bei einer Tasse First Flush Darjeeling, er wisse noch haargenau, wie er als Zweijähriger ein Gedicht aufgesagt habe. Als Zweijähriger? Unvorstellbar! Lulan wusste nicht einmal mehr, welchen Wortschatz er mit vier Jahren beherrscht haben mochte. Dann legte Uwe noch einen drauf, er kannte noch alle drei Strophen, und es war weder Ich und du, Müllers Kuh, noch Hoppe, hoppe, Reiter, sondern ein für Zweijährige reichlich tiefsinniges Werk mit längeren Versen in Kreuzreimen. Leider konnte sich Lulan nicht mehr an den Inhalt erinnern.
Irgendwann hatte Lulan sein vermeintliches Manko stillschweigend akzeptiert. Sein schwammiges Gedächtnis, das stand für ihn fest, war eine Ausnahmeerscheinung, eine seltene Abweichung, die höchstens bei einigen Sonderlingen auftrat. Ein Onkel mütterlicherseits litt an der gleichen mentalen Schwäche. Der Rest der Sippe konnte auf dem Gebiet der ausführlichen Rückblicke überzeugend punkten.
Anders als sein Neffe verstand es Onkel Emil allzu frappierende Gedächtnisausfälle gekonnt mit offensiver Ironie zu überspielen („Wie, ich soll vergessen haben die Bohrmaschine zurückzubringen? Das hast du dir doch gerade ausgedacht, um den Schwarzen Peter loszuwerden!").
Zum Ende seiner neunten Entwicklungsphase, als er begann stundenlang zu meditieren, entdeckte Lulan überrascht, dass viele Kindheitserinnerungen gar nicht aus seinem Gedächtnis verschwunden waren – sie lagen lediglich im Verborgenen oder wurden von neueren Erinnerungen verdeckt.
Lulan war zu jenem Zeitpunkt 60 Jahre alt. Ihm war aufgefallen, dass bei fahrigen, zerstreuten Menschen scheinbar eher Gedächtnisverluste auftraten als bei wachen Körperpersonen, denen auch kleinste Details nicht entgingen. Gedächtnislücken schienen durch Momente geistiger Abwesenheit zu entstehen. Manche Körperpersonen nehmen hin und wieder nicht die Geschehnisse auf, die üblicherweise registriert werden. Lulan fiel in diese Kategorie.
Er erlebte die Ereignisse um ihn herum, wie einen Film, der ohne Pause weiterlief, ob man zuschaute oder nicht. Der Film selbst war uninteressant, denn er bestand aus einer Abfolge nichtssagender Einzelbilder. Es war viel spannender herauszufinden, was sich jenseits der Bilder abspielte.
Statt sich den Hauptfilm anzusehen, beobachtete Lulan schon als Kind lieber den Kinosaal, die Zuschauer und die flimmernde Leinwand. Er versuchte alles zu sehen, den Film und das Kino. Durch diese Weitwinkelperspektive verpasste er zwangsläufig zahlreiche Szenen des Films, Szenen, die die anderen Kinobesucher in ihrem Gedächtnis abspeicherten, während bei ihm die Bilder ihrer Silhouetten vor dem hellen Leinwandlicht hängen blieben.
Äußerlich gab sich Lulan cool. Er würde sich bewusst keine Nebensächlichkeiten merken, behauptete er oft wichtigtuerisch. Er wolle sich nur an Dinge erinnern, die ihn wirklich weiterbrächten. Statt sich die Birne mit banalen Details vollzukleistern. In Wirklichkeit war ihm sein flimmsiges Gedächtnis peinlich.
Sein Gehirn war für ihn eine Art Computer, er verglich seine Erinnerungslücken mit einem Hardwarefehler. Verlorene Einheiten auf einer stark fragmentierten Festplatte, Datenverlust durch Checksummenfehler. Ein zu leistungsschwaches Random-Access-Memory-Modul. Bei Computern ließen sich defekte Bausteine in wenigen Minuten austauschen. Die meisten Gehirnschäden waren bleibend.
Erst als Lulan in Bad Gandersheim begann seine gesammelten Tagebuchnotizen durchzusehen, änderte sich seine mechanistische Sichtweise. Es tauchten nach und nach Erinnerungen an die Oberfläche, von denen er gar nicht wusste, dass er sie hatte. Vielleicht war sein Gedächtnis doch anders als er gedacht hatte.***
Mein Vater, du hast mich noch niemals verlassen.
Ich bin es, der dich immer wieder verlässt.
***
18.09.2019, Hannover
Papa wird im November 89 Jahre alt. Er steht seit einiger Zeit verstörend wackelig auf den Beinen. Sein Atem geht selbst im Ruhezustand keuchend, und seine zittrigen Hände sind nicht mehr imstande feinmotorische Präzisionsgriffe auszuführen.
Wenn ich ihn besuche, beginnt er nach wenigen Minuten von der Vergangenheit zu sprechen. Er möchte von mir wissen, wie ich ihn als Vater gesehen habe, wie ich ihn fand. Allerdings schafft er es nicht, mich direkt danach zu fragen. Er versucht es, indem er an mein Erinnerungsvermögen appelliert.
„Als du klein warst, bin ich stundenlang mit dir durch den Schnee spaziert", erklärt er einleitend, „weißt du das noch?"
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur ein paar vage Erinnerungen daran", sage ich dann.
„Ich habe damals Fotos davongemacht. Hier!", er zeigt mir die Bilder, die er sich auf seinem rustikalen Wohnzimmertisch bereitgelegt hat. Ich kenne die Aufnahmen in- und auswendig.
„Du kennst sie ja", fährt er fort. „Kannst du dich daran nicht erinnern?"
„Nein, tut mir leid, Papa. Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich kann mich an andere Dinge erinnern, nur nicht an diesen Ausflug im Schnee!"
Das ist zwar nicht gelogen, es entspricht andererseits auch nicht hundertprozentig der Wahrheit. Ich kann bis zum heutigen Tag ganz einfach keine einzige positive Kindheitserinnerung an meinen Vater abrufen. Die wenigen Momente, an die ich mich erinnern kann, sind unangenehm. Dazu gehört auch unser Spaziergang durch eine schneebedeckte Winterlandschaft.
Papa hatte sich kurz vor seiner Hochzeit mit Mama eine Fotoausrüstung angeschafft. Aus der anfänglichen Begeisterung für ein neues Hobby entstand schnelll eine seriöse Leidenschaft, die ihn sein Leben lang begleiten sollte. Mein Vater fotografierte am liebsten Motive aus der Natur. Von unserer gemeinsamen Wanderung durch verschneite Felder gibt es fünf oder sechs Fotos, auf denen ich nachdenklich in die Kamera blicke oder mit hängendem Kopf im Schnee herumstochere.
Einige seiner frühen Aufnahmen zeigen mich mit meiner Mutter. Wir stehen mal zwischen Stangenbohnen und Erdbeerbeeten in unserem Gemüsegarten, mal am Ufer der Weser an warmen Sommertagen oder blicken mit verträumten Augen auf einen bunt geschmückten Weihnachtsbaum. Auf jedem Foto halten wir Körperkontakt zueinander, wir berühren oder umarmen uns. Die Fotos deuten auf ein ausgesprochen liebevolles Verhältnis hin, doch der Ehrlichkeit halber muss ich eingestehen, auch hieran keine Erinnerung zu haben.Erinnerungen
Winter 1962, Bornholz, Möllbergen
Hier und Jetzt
Es gibt keinen Gedanken, der jemals in Vergessenheit geriete und verlorenginge. Alle unbeachteten, verdrängten Erinnerungen schweben wie Daunenfedern in die Dunkle Stille hinab, wo sie verstauben und als Ablagerung nach und nach von neueren Schichten überdeckt werden. Die Sedimentation der Erinnerungen findet auf den Dachböden und in den Kellerräumen des Geistes statt; wenn man dort gründlich aufräumt, kommt längst Vergessenes wieder zutage.
Jede Körperperson kann bestimmen, welche Gedanken sie behalten möchte und welche nicht. Persönliche Erinnerungen an Vergangenes suggerieren eine Kontinuität von Geschehnissen, die jeweils in der individuellen Vorstellung eines Menschen geformt wird. Die Selektivität individueller Erinnerungen führt dazu, dass Rückblicke auf gemeinsame Erlebnisse mehr oder weniger stark voneinander abweichen. Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, müssen aus diesem Grund vor Gericht oft viele Zeugen befragt werden.
06.02.2019, Hannover
Infolge seiner Altersgebrechlichkeit liegt Papas Reaktionsvermögen im vollen Sekundenbereich. Das ist insofern alarmierend, als er mit seinem Golf noch aktiv am Straßenverkehr teilnimmt. Er sagt, er habe beim Fahren alles unter Kontrolle, obwohl sein Seh- und Hörvermögen grenzwertig reduziert ist. Meinem Vater steht seit einem Arbeitsunfall, der sich während seiner Tischlerlehre ereignete, nur noch das linke Auge zur Verfügung; auf der rechten Seite trägt er ein Glasauge. Doch darüber spricht er nicht. Nie.Da seine Beweglichkeit deutlich eingeschränkt ist, hat er sich einen kugelgelagerten Drehteller besorgt und auf den Fahrersitz des Golfs gelegt. Die rotierende Sitzfläche erleichtert ihm das Einsteigen und er behält beim Fahren den seitlichen und rückwärtigen Verkehr zumindest teilweise in seinem Blickfeld.
Vor drei Jahren habe ich ihm meinen ausrangierten PC und später auch meinen alten Laptop überlassen. Es brannte ihn, herauszufinden, wozu man so einen „Kommpuhter" gebrauchen konnte. Er war fasziniert. Seitdem widmet er den größten Teil seiner Zeit der digitalen Bearbeitung seines umfangreichen Fotoarchivs. Leider ist Papa nicht mehr in der Lage sein wichtigstes PC-Werkzeug, die multifunktionale Maus, kontrolliert zu bedienen. Ihm gelingt nur jeder vierte bis sechste Doppelklick. Er reagiert einfach nicht schnell genug, selbst bei länger eingestellten Klickintervallen ist er zu langsam. Aber auch das einmalige Klicken ist keine befriedigende Lösung, seine Hände zittern zu sehr. Er verzittert seine Klicks.
Seit einigen Monaten versucht Papa ein übersichtliches Dateisystem für seine Dia-Sammlung einzurichten. Er hat zwei Jahre gebraucht um alle Dias einzuscannen, insgesamt 2209 Aufnahmen, von denen die frühesten aus den 1950er Jahren stammen.
Auf seinem Laptop ist die Anzahl der Ordner inzwischen auf 43 angewachsen. Mindestens einmal pro Woche kommt es vor, dass ein Ordner wie durch Zauberei verschwunden ist. („Ich kann mir das nicht erklären, gestern war er noch da!") Bisher hat sich noch jedes Mal herausgestellt, dass die Ordner durch eine unkontrollierte Mausbewegung gelöscht, kopiert oder verschoben wurden, ohne dass Papa es gemerkt hätte. Wenn ein Ordner unauffindbar ist, ruft er mich an.
„Stefan, wie geht es dir?"
„Gut, sehr gut. Und wie geht es dir denn?"
„Ja, auch. Hör mal, ich habe da ein Problem! Ich weiß nicht, ob es dir jetzt passt?" Seit seine Dateien und Ordner verschwinden, ist dies seine Standarderöffnung.
„Doch, passt schon. Ich bin gerade beim Abendbrot. Macht aber nichts, wir können reden, ich bin eigentlich fertig. Was gibt es denn?"
„Ja, mir fehlt ein Ordner mit Fotos, der mit den Aufnahmen vom Grünspecht, Nummer 21. Ich weiß nicht, was ich gemacht habe, jetzt ist er jedenfalls weg."
„Tja, dann können wir ihn am besten mal suchen."
Bei unseren Versuchen, das Problem telefonisch in den Griff zu bekommen, stoßen wir stets aufs Neue auf ein kaum überwindbares Hindernis. Es betrifft die Kommunikation. Papa kennt höchstens drei oder vier Begriffe aus der Computerterminologie, darunter Maus und Bildschirm, und ich erkannte erst durch unsere Telefonate, wie umfangreich das Vokabular dieser Fachsprache war. Es kommt erschwerend hinzu, dass Papa noch mit Windows XP arbeitet, und meine besondere Herausforderung besteht darin, mich einerseits an bestimmte XP-Funktionen zu erinnern, die mein Vater andererseits nicht verständlich benennen kann. Zweifellos eine kniffelige Aufgabe, doch ich bin trotz zahlreicher Gegenschläge ganz zuversichtlich, dass wir es schaffen werden. Vielleicht haben wir ja Glück.
„In einem der Menüs können wir einen Suchvorgang nach dem Ordner starten", schlage ich vor, „Ich weiß nicht genau, in welchem Menu es ist. Siehst du irgendwo ein Suchfeld?"
„Was denn?"
„Siehst du eine Lupe oder steht vielleicht »Suchen« in einem weißen Kästchen?"
„Eine Lupe? Nein, sehe ich nicht!"
„Klick doch mal auf den Menüpunkt »Datei« Ist es dort?"
„Ja! Jetzt habe ich ein weißes Schild!"
„Ein Schild? Was für ein Schild?"
„Da steht ‚juhr kommpuhtah iss lohv onn memmohrie', ein weißes Schild."
„Your computer is low on memory?", rate ich, "Hast du mehrere Programme laufen?"
„Programme? Nein! Nur das Schild!"
Wie gewohnt bricht Papa unser Telefonat auf halbem Wege abrupt ab. Ich nehme an, dass ihn die Aussichtslosigkeit unseres Vorhabens ermüdet. Auf jeden Fall wirkt er körperlich und geistig erschöpft. Ich höre es am Klang seiner Stimme.
„Hör mal! Lass uns aufhören! Mir wird das jetzt zu viel", sagt er schwer atmend. „Ich versuche es alleine noch mal, ich kriege das schon hin, und wenn es nicht klappt, melde ich mich nochmal."
Vor zwei Wochen rief er mich an, weil er an seinem Laptop eine CD nicht abspielen konnte. Es war eine Eigenproduktion mit Naturaufnahmen, die sein alter Freund Wolfgang Wrenger ihm in treuer freundschaftlicher Verbundenheit geschickt hatte. Herr Wrenger (dessen digitalisierte Dia-Sammlung laut Papa rund 12 000 Aufnahmen umfassen soll) hatte seine Fotos mit Volksliedern für Blockflöte, Mundharmonika und Gesang hinterlegt. Wie schön ist es im Garten lautete der Titel der Scheibe, und Herr Wrenger hatte sogar ein professionell aussehendes Etikett erstellt und auf die CD geklebt.
Die Liebe zur Natur, insbesondere die Naturfotografie, verband die beiden ungleichen Männer seit den frühen 60er Jahren. Mein hölzerner, zu Schroffheit neigender Vater hatte sich als Hausmeister an der neugebauten Möllberger Grund- und Hauptschule beworben; der drahtige, redselige Wolfgang Wrenger übernahm die Leitung der Schule. Die zweite große Passion des Dorfschullehrers galt neben der Tier- und Landschaftsfotografie der Gründung und dem Aufbau des Gemischen Chors Möllbergen.
Herr Wrenger war 1963 seiner Zeit weit voraus, zumindest in Möllbergen, wo die Alteingessesenen noch überwiegend plattdeutsch sprachen. Der eloquente Schulleiter setzte sich für gesunde Ernährung und Achtsamkeit gegenüber der belebten Natur ein; dass er darob von Teilen der schinkenessenden Dorfbevölkerung als Spinner belächelt wurde, entzog sich entweder seiner Aufmerksamkeit oder er ignorierte es gekonnt. 1967 war er zwei Jahre lang mein Lehrer. Ich mochte ihn, er war ein engagierter, freundlicher Mann, dessen unkonventioneller Aktivismus frischen Wind ins dörfliche Einerlei brachte.
In jenen Tagen hatten Papa und Herr Wrenger den größten Teil ihrer Freizeit damit verbracht, in selbstgebauten Tarnzelten am Bachlauf der Kalle „dem Eisvogel" aufzulauern. Der Hausmeister und der Schulleiter. Wochenlang versuchten sie geduldig, oft viele Stunden vergeblich wartend, die Tauchflüge des kleinen bunten Jägers in spektakulären Aufnahmen festzuhalten. Wie bei Heinz Sielmann. Als gelungene Fotos galten Schnappschüsse, die den Eisvogel beim Eintauchen in den Bach oder beim Auftauchen mit einem erbeuteten Fischchen im Schnabel zeigten.
Die beiden Naturliebhaber sprachen aus einem mir nicht geläufigen Grund nie im Plural von den Vögeln; sie sagten nicht „Wir haben Aufnahmen von Eisvögeln gemacht", auch nicht, dass sie einen Eisvogel fotografiert hätten. Nein, sie behaupteten den Eisvogel abgelichtet zu haben, als gäbe es nur ein Exemplar auf der Welt, und als hätte dieser seltene Vogel ausgerechnet das Kalletal bei Möllbergen zu seinem Revier erkoren.
Jetzt ließ sich also die CD Wie schön ist es im Garten nicht abspielen. Papa schilderte mir das Problem am Telefon.
„Die CD funktioniert nicht. Ich sehe nichts. Ich höre auch nichts."
Ich entschied mich für einen objektorientierten Ansatz, um den Fehler einzukreisen: „Ist denn im Datei-Explorer das CD-Laufwerk zu sehen?"
„CD-Laufwerk … CD-Laufwerk …", hörte ich ihn murmeln.
Er konnte es offenbar nicht finden, was nicht bedeuten musste, dass das Laufwerk nicht angezeigt wurde. Ich probierte einen anderen Lösungsweg. „Was passiert denn, wenn du die CD einlegst? Dreht sich das Laufwerk? Kannst du ein Summen hören?"
Er blieb kurz still, dann: „Ja, ich höre es! Es summt!"
„Hm. Das bedeutet, dass das Laufwerk in Ordnung sein müsste. Es ist durchaus möglich, dass die CD von Herrn Wrenger auf manchen Computern nicht abspielbar ist. Ich denke, er benutzt ein veraltetes Softwareprograme, um Tonaufnahmen und Bilder zu kombinieren. Es könnte sein, dass da die Ursache liegt."
Meinem Vater gefiel diese Antwort nicht, dabei hatten Cora und ich auch der vorherigen Wrengerschen Audioproduktion zunächst keinen Laut entlocken können. Alte Freundschaft rostet nicht hieß die CD, sie enthielt bekannte Volkslieder, die Herr und Frau Wrenger im Duett vortrugen (Gesang, Mundharmonika und Blockflöte). Papa hatte die Lieder zum achtzigsten Geburtstag bekommen. Ich fand das Geschenk rührend.
Am nächsten Morgen klingelte das Telefon noch vor dem Frühstück. Es war Papa. „Hallo! Ich bin es! Wie geht es dir?"
„Hallo Papa! Alles gut hier, alles gut!"
„Hör mal, das mit der CD von Herrn Wrenger klappt nicht. Ich werde mir einen neuen Laptop kaufen, und ich wollte dich fragen, welches Modell da infrage kommt."
Hoppla! Darauf war ich nicht vorbereitet. In meinem Gehirn ratterte ein Alarm-Algorithmus, während ich zögernd antwortete. „Tja, ein neues Notebook! Die Dinger heißen jetzt Notebooks, Papa. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist … das ist gar nicht so einfach."
„Ja, ich weiß, die müssen eingerichtet werden", meinte mein Vater fachmännisch, „Ich habe mit dem Mann von dem Computergeschäft hier gesprochen. Der kann das für mich machen."
„Ist das ein kleiner Laden? Ja? Worauf man da achten muss, ist, dass sie dir einen Ladenhüter andrehen. Und den viel zu teuer an dich verkaufen. Papa, die neuen Notebooks haben jetzt Windows 10, das ist ein neueres Betriebssystem, ganz anders als Windows XP auf deinem Laptop. Windows 10 ist reichlich kompliziert. Ich brauche bestimmt Tage, bis ich einen neuen Computer fertig eingerichtet habe. Die Probleme werden nicht weniger bei einem neuen Notebook, es werden sogar mehr, weil die Geräte dauernd etwas von dir wollen, man wird regelrecht belästigt und aufgefordert, persönliche Vorlieben mitzuteilen. Die Dinger versuchen sogar mit dir zu sprechen! Man wird von einer Stimnme gefragt, welche Aufgaben man erledigt haben möchte. Das kannst du dir nicht vorstellen!"
„Ah, ja", sagte mein Vater erfurchtsvoll; mein Vortrag hatte ihn eingeschüchtert.
„Weißt du was?", schlug ich vor, „Lass mich mal eine Nacht über die Sache schlafen. Mir wird schon etwas einfallen. Ich rufe dich morgen wieder an."
Ich hatte ihn vermutlich in seinem Vorhaben ein Notebook zu kaufen entmutigt, was nicht in meiner Absicht lag. Doch es gab Grenzen, und sich einen neuen Computer anzuschaffen, nur, weil man eine bestimmte CD nicht abspielen konnte, überschritt die Schwelle der Vernunft um einiges. Außerdem würde Papa den virtuellen Zwangsjacken, mit denen Google, Microsoft und Co heutige Computer-Anwender unerbetenerweise ausstatten, hilflos ausgeliefert sein. Also bot ich ihm drei Alternativen zur Auswahl an.
„Papa, ich habe über die Sache nachgedacht", teilte ich ihm am nächsten Morgen mit, „Du kannst natürlich tun und lassen, was du willst, ich will mich nicht in deine Pläne einmischen. Aber ich möchte dir drei Auswahlmöglichkeiten vorschlagen, und wenn dir eine davon zusagt, machen wir das so. Was hältst du davon?"
Mein Vater fand den Vorschlag gut.
Also fuhr ich fort: „Dies ist die erste Möglichkeit: Du gehst in deinen Computerladen und lässt dir von dem Verkäufer zwei oder drei Modelle zeigen, die er im Angebot hat. Du schreibst dir die Namen der Geräte auf, und ich sehe für dich im Internet nach, ob der Preis in Ordnung ist und ob die Modelle noch aktuell sind. Okay? Zweiter Vorschlag: ich gehe hier in Hannover in den Media Markt, suche ein schönes Notebook für dich aus, ich richte es für dich ein und schicke es mit der Post nach Stuttgart. Okay? Als dritte Möglichkeit biete ich dir mein Notebook an, das läuft stabil und ohne Probleme, und ich kann es noch speziell für dich anpassen. Papa, dies sind nur Vorschläge. Du kannst alle drei ablehnen, wenn dir keiner gefällt. Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen, und morgen sagst du mir Bescheid!"
Pünktlich zur Essenszeit rief er am folgenden Tag an, um seine Entscheidung mitzuteilen.
„Guten Morgen, Stefan! Wie geht es dir?"
„Es geht mir sehr gut, Papa. Wie ist es mit dir?"
„Ja, auch gut. Hör mal, ich nehme deinen Laptop! Wieviel hat der gekostet? Ich bezahle das."
Papa ist ein extrem sparsamer Mensch, er hebt alte Brötchentüten auf und hortet sie stapelweise säuberlich gefaltet in einer seiner Kommoden. Seine Lebensmittel stammen vom billigsten Discounter, weil er der Meinung ist, es komme „sowieso alles in den Magen".
Wird er aber um Hilfe gebeten wird - und jetzt kommt das gegenteilige Extrem - bietet mein Vater in gönnerhafter Freizügikeit materielle oder persönliche Unterstützung an. Ich glaube diese Mischung findet man nicht oft.
Mein Acer Aspire war drei Jahre alt, das Gerät lief gut und ich war rundum zufrieden mit dem Rechner. Seit ich im Herbst wieder begonnen hatte, alte Zeichnungen, Aquarelle und eingescannte Fotos von Ölbildern digital zu bearbeiten, ging dem Acer allerdings bei großformatigen Photoshop-Arbeiten spürbar die Puste aus.
„Papa, du musst nicht den Neupreis bezahlen! Der hat neu gut 500 Euro gekostet."
„Ja, und was ist er jetzt wert?"
Ich hatte mich zuvor im Internet umgesehen und herausgefunden, dass die Angebotsspanne modell- und ausstattungsgleicher Acer Aspire-Notebooks von 200 bis 499 Euro reichte. Zwei- bis dreihundert Euro wäre zweifellos ein fairer Preis gewesen. Um diese Summe zu erzielen, musste ich zu einem Trick greifen und weniger verlangen. Papa würde den Betrag mit Sicherheit erhöhen.
„Rund hundert Euro", sagte ich.
Er überwies mir 500 Euro, und zwei Tage später war das Notebook bei ihm in Stuttgart. Zuvor hatte ich den nervigen Sprachassistenten Cortana deaktiviert, unnötige Software-Programme deinstalliert und den Desktop weitestgehend leergeräumt. Darauf befanden sich außer dem obligatorischen Papierkorb nun nur noch zwei Icons.
Diese Vorkehrungen schienen mir ratsam. Papa bekam zwar keinen Doppelklick auf die Reihe, dessen ungeachtet schaffte er es aber jede App zu öffnen, die mit der Maus erreichbar war. Er hatte die Strategie entwickelt pausenlos auf die linke Maustaste zu drücken und richtete seine Sperrfeuerklickerei einfach auf alle erreichbaren Schaltflächen.
Die beiden Icons waren Shortcuts für zwei Schachspiele, die ich für ihn installiert hatte. Er wollte ein Schachspiel, das die geschlagenen Figuren am Spielfeldrand anzeigt, und ich fand nach einigem Suchen zwei Spiele mit dieser Funktion. Außerdem bestellte ich bei Amazon noch ein Buch für ihn, Windows für Senioren, und ließ es direkt nach Stuttgart liefern.
Schließlich war es soweit. Ich hatte angeboten, ihn beim Hochfahren des Notebooks telefonisch zu begleiten. Ich wollte sichergehen, dass die Inbetriebnahme reibungslos über die Bühne ging.
„So, jetzt kannst du den Laptop einschalten", sagt ich entspannt, „Der Knopf zum Einschalten ist eher unscheinbar, er befindet sich links über der Tastatur."
„Links … links …", wiederholte mein Vater.
„Es ist ein länglicher Knopf, er ist vielleicht nicht gut zu erkennen. Ein länglicher Knopf. Eigentlich ist es kein Knopf, er ist flach. Und langgestreckt, es ist der einzige Schalter in der linken, oberen Ecke."
„Was denn?"
Ich war ratlos, er fand die Einschalttaste nicht. Die erste Hürde kam uns noch vor dem Hochfahren des Geräts in die Quere. Ich kannte den Acer in- und auswendig; es gab in einem räumlichen Abstand zum Tastaturfeld, ein bis zwei Zentimeter über der Escape-Taste, nur diesen einen einzelnen Schalter.
„Du hast ja vor dir die Tastatur mit den verschiedenen Buchstaben- und Zahlentasten", versuchte ich es erneut.
„Ja, habe ich!"
Und die Taste in der linken, oberen Ecke, da steht E-s-c drauf, Escape."
„Esskäipp … esskäipp …", hörte ich Papa sagen.
Dann hatte ich hatte einen Geistesblitz: „Nicht auf dem Bildschirm, auf dem schwarzen Teil, wo die Tasten sind! Links vorne!"
„Ja, habe ich!", rief Papa nach einer kurzen Pause, „Ich schalte ihn jetzt ein!".
Das war der Durchbruch! Die erste Hürde war genommen. Die sprachliche Ungenauigkeit, die meinen Vater auf dem Bildschirm hatte suchen lassen, ging auf meine Kappe. Ich hatte „oben links" statt „vorne links" gesagt.
„Ah, super! So, jetzt müssen wir kurz abwarten bis er hochgefahren ist. Hat er alles geladen? Kannst du den Bildschirm und die kleineb Programmsymbole sehen?"
„Ja, sehe ich!"
Jetzt lief es wie geschmiert. „Ich habe zwei Schachspiele für dich installiert. Du siehst die beiden Symbole rechts oben auf dem Desktop."
„Rechts oben … rechts oben …"
„Ja, genau. Da sind zwei Symbole in der rechten, oberen Ecke. Auf dem Bildschirm, rechts oben!"
„Tja, ich finde da nichts", meinte mein Vater; sein Atem ging allmählich hörbar schneller und schwerer.
Mir fielen keine besseren Beschreibungsmöglichkeiten ein, also wiederholte ich meinen Text. „Rechts oben in der Ecke. Da sind nur diese beiden Symbole. Sonst ist da nichts. Zwei Schachspiele."
„Stefan, pass mal auf. Für heute reicht es erstmal. Ich finde die Schachspiele schon noch. Irgendwie kriege ich das hin. Wenn nicht, rufe ich nochmal an."
Ich sah das Abspielen von Herrn Wrengers CD in kaum erreichbare Ferne rücken. Es ist nicht allein das hohe Alter, sondern zusätzlich eine gewisse Computer-Blindheit, die meinem Vater zu schaffen macht. Er kann in der virtuellen Welt nicht Fenster von Bildern unterscheiden, er erkennt weder Schaltflächen noch Icons, und er versteht nicht, dass die linke und die rechte Maustaste unterschiedliche Funktionen haben.
Es tut mir leid, dass ich ihm nicht effektiver helfen kann. Gleichwohl bewundere ich, mit welch zäher Ausdauer er versucht die IT-Technologie zu meistern. Gib nicht auf, Heiliger Pillendreher! Du schaffst es! Rolle deine Kugel diesen unglaublich steilen Hang hinauf!
Erinnerungen
1961-1962, Bornholz, Möllbergen
Ich hatte einen Traum
Ich hatte einen Traum,
ganz fürchterlich, ganz fürchterlich.
Da durfte ich ins große Bett,
ins Mutterbett, das riecht nach Nest,
nach Nähe und Geborgenheit.
Warm und wohlig träumich,
spielich-fühlich mit den Fingern
meine Beine, meinen Bauch,
und dazwischen spielich auch.
Der Vatermann steht in der Tür.
Augenstechen, Unheilsblick.
Drohend bellt er wie ein Hund.
Leg-die-Hän-de-auf-dasss-Betttt!
Heißer Schreck, schnelles Blut,
binnich-binnich angstgelähmt.
Warte man!
Löcher graben, für die Nacht,
für jeden eins, wir sind zu dritt.
Im Sand, im Lehm, hinter der Wiese,
wo die dicken Schweine grunzen.
Gelbes Gras, es brennt wie Zunder!
Schnell, tritts aus! Schwarzes Gras.
Warte nur! Warte man!
Meine Mutter zetert immer.
Muttergezeter. Zetermutter.
Warte nur, bis Papa kommt!
Abends kommt der Vatermann.
Dann wird alles still und ernst.
Ist nicht eigentlich von uns,
lacht nicht viel, spielt nicht mit.
Manchmal bellt er wie ein Hund.
Hier und Jetzt
Zwar hatte Lulan einige unangenehme frühe Erinnerungen an seinen Vater, aber er behielt sie für sich. Es handelte sich um selektive Rückblicke, die im Gedächtnis hängen geblieben waren. Diese Geschichten waren vorüber, längst vergangen. Warum sollte er Salz in alte Wunden reiben wollen? Warum die Befürchtungen seines Vaters bestätigen, dass er kein »guter« Vater für Lulan gewesen war? Wem würde es nutzen, wenn er erwähnte, dass er während seiner gesamten Kindheit und Pubertät das Gefühl hatte, vaterlos gewesen zu sein, keinen »richtigen« Vater gehabt zu haben! Er brauchte dieses Geständnis nicht, es würde ihn weder erleichtern noch voranbringen.
Und sein Vater, der erst vor wenigen Jahren die Identität seines eigenen leiblichen Vaters erfahren hatte? Der als außereheliches Kind nicht nur gefühlt, sondern seit seinem zwölften Lebensjahr tatsächlich ohne Vater aufgewachsen war, als sein Stiefvater von einem Fronteinsatz nicht zurückgekehrt war? Nein, Lulans Vater konnte ein offenes Geständnis noch weniger gebrauchen. Mit 89 stand ihm der Beginn der großen Reise bald bevor. Wer im Begriff ist, die körperliche Hülle abzulegen, sollte ein leichtes, unbeschwertes Herz haben.
Lulan trug seinem Vater nichts nach, wenngleich er durch Erinnerungsfragmente aus Kindertagen hin und wieder in eine dunkle Schwere sank. Sein Vater wiederholte beharrlich seine eigenen Erinnerungen an gemeinsame Wanderung durch den Schnee. Für ihn muss es ein außergewöhnlich freudiges Erlebnis gewesen sein; der stolze Vater nahm den kleinen Sohn mit in die weiße Winterwelt. Es war indessen Lulans bedrückter Ausdruck auf den Fotos, der dem Vater zu denken gab. Er ahnte, dass sein Rückblick nicht mit dem des Sohnes übereinstimmte und kam deshalb wieder und wieder darauf zu sprechen.
Einmal hatte Lulan seinem Vater impulsiv auf sein drängendes Nachhaken geantwortet.
„Papa, ich kann mich an diese Ausflüge nicht erinnern. Ich weiß heute nur noch, dass ich oft Angst vor dir hatte."
„Ja, siehst du!", sagte der Alte daraufhin als habe er es insgeheim schon lange gewusst, und es klang wie ein tiefer Seufzer. Er ließ den Kopf hängen und sah einen Augenblick lang furchtbar traurig und zerbrechlich aus. Seine Reaktion rührte Lulan.
Aus Lulans wenigen frühen Kindheitserinnerungen ragt eine Szene hervor, von der sein Vater ein Foto gemacht hat. Dadurch wurde der Rückblick auf das Ereignis langfristig konserviert, die Erinnerung daran blieb relativ frisch. Lulan war damals zwei Jahre alt war.
Er stand im Schlafanzug in der Küche und versuchte drei Bälle unterschiedlicher Größe mit den Armen festzuhalten. Lulan wollte unbedingt die drei Bälle mit in sein Bett nehmen wollte, und zwar alle drei auf einmal. Das Vorhaben war zum Scheitern verurteilt, die Bälle waren ein wenig zu groß für seine Arme, und sobald er den dritten, noch auf dem Boden liegenden zu fassen bekam, fiel ihm ein anderer Ball wieder herunter. So ging das eine ganze Weile, seine Eltern fanden ihren Sprössling goldig, und der Vater fing die Szene mit seiner Leica ein. Dieser Schnappschuss bildet ein wiederkehrendes Kernmotiv in Lulans Körperleben ab; ein basales Verhaltensmuster seiner Persönlichkeit, das durch Ich-Gedanken geformt wird:
Ich will alles haben!
Ich will es jetzt!
Ich will alles auf einmal!
Die Überwindung dieses Ich-Gedankens ist Lulans Lebenslektion. Sie wird ihn begleiten, bis er sie verstanden hat. Die Ballszene versinnbildlicht eine Art Initialentscheidung. Aus der Wurzel der Initialentscheidung erwachsen im Laufe der Entwicklung alle nachfolgenden Entscheidungen.
***
Wer sein Ziel nicht kennt, irrt orientierungslos umher.
Das Ego trifft Entscheidungen,
die den Suchenden vom rechten Weg abbringen.
Jede Entscheidung zieht Folgen nach sich.
So werden von Entscheidung zu Entscheidung
nicht nur die Abschnitte des Weges bestimmt,
sondern auch sein Ziel.
***
Erinnerungen
Weihnachten 1963, Bornholz, Möllbergen
Die Mutter meines Vaters wohnt oben bei uns im Haus. Ich nenne sie Oben-Oma. Seit ich laufen kann, gehe ich Heiligabend mit Oben-Oma in die Kirche in Möllbergen. Zwei Kilometer Fußweg. In der Kirche sind alle Bänke proppenvoll, wir sitzen oben bei der Orgel. Die anderen Kinder aus dem Bornholz sind auch da. In den Nischen brennen Kerzen, die am Altar sind riesig, so groß wie ich. Pastor Arning spricht laut und feierlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er spricht oder singt.
Euch ist heute der Heiland geboren, in Bethlehem, im Stall!
Ich kenne den Singsang auswendig, er ist jedes Jahr gleich. Schön macht er das, der lange, dünne Pastor mit seiner tiefen Stimme. Dann wird wieder gesungen. Einige Lieder kenne ich noch vom letzten Jahr.
Jetzt müssen wir aufstehen und Pastor Arning liest aus einem Buch vor. Es dauert ewig lange. Ich fange an zu träumen: gleich wird zu Hause das Wohnzimmer aufgemacht; zwei Tage war die Tür verschlossen; wenn wir wieder zu Hause sind, darf ich rein, zum Tannenbaum, und meine Geschenke auspacken.
Als die Kirche vorbei ist und wir endlich zurückgehen, ist es schon dunkel. Oben-Oma kann nur langsam gehen. Ich möchte am liebsten rennen.
„Lauf nich so schnell, Stefan!", sagt Oben-Oma. „Wir komm' noch früh genuch!" Zu Hause gehen wir zuerst in die Küche.
Sie haben mir seit Wochen erzählt, dass Heiligabend der Weihnachtsmann kommt, um Geschenke zu bringen. Man kriegt aber nur ein Geschenk, wenn man artig war. Die bösen Kinder versohlt der Weihnachtsmann, haut ihnen mit der Rute auf den Hintern, oder er steckt sie gleich in seinen Sack.
Vielleicht übersieht der Weihnachtsmann in diesem Jahr unser Haus. Ich weiß nicht genau, ob ich artig oder böse gewesen bin. Hoffentlich bekomme ich schöne Geschenke, neues Spielzeug!
Dann bullert jemand von außen gegen die Küchentür, so laut und dröhnend, dass ich die Luft anhalte. Nach einer Pause hämmert es nochmal gegen die Tür. „Ist da wer zu Hause?", ruft jemand aus vollem Hals: Ich erkenne die Stimme sofort. Die Tür geht auf und eine verkleidete Gestalt stampft herein. Es ist Papa, er trägt einen merkwürdigen Umhang und hat sich schneeweiße Watte um den Mund gehängt. In klobigen Lederstiefeln poltert er auf mich zu und macht einen großen, dunklen Kartoffelsack auf.
„Warst du denn auch artig?", brüllt er, und ich zucke wieder zusammen [1].[1] Ab hier ist alles schwarz, ich weiß beim besten Willen nicht mehr wie die Sache ausgegangen ist. Vermutlich hatte ich einen Filmriss oder ein Blackout, falls so etwas bei Fünfjährigen möglich ist. Im Sack bin ich jedenfalls nicht gelandet.
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