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Was denn?

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27 Karma und die letzte Stufe

Am Anfang war das Wort.

Die Welt der Menschen und ihre Lebenswege

sind Schöpfungen ihrer Gedanken.

Das gedachte Wort ist der Anfang von Allem. 

***

Juli 2020

Die Frage, ob unsere Handlungen dem universellen Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegen, kann ich mit absoluter Gewissheit bejahen. Ich »sehe« die Dynamik dieser Gesetzmäßigkeit in perfekter Klarheit, viel klarer als die Augen meines Körpers Himmel und Erde sehen.

Ob jemand über jeden Furz wiehert oder das Lachen verlernt hat und sich täglich vor Sorge verzehrt - der Charakter einer Person wird durch seine individuellen Gedankenmuster definiert. Doch wie entstehen diese Muster? Woher kommen Gedanken?

Liegt der Ursprung unseres Wesens im Gen-Code der Eltern oder sind Persönlichkeitsmerkmale das Resultat einer karmischen Vorbestimmung? Ich bin mir in diesem Fall, was Karma betrifft, nicht ganz sicher. Noch nicht. Ich weiß nicht, ob es Karma gibt und ich frage mich, ob Menschen es überhaupt wissen können.

Was ich lange Zeit für Karma hielt, könnte auch ein Netz aus Gewohnheiten und Vorlieben sein, das ich selbst erschaffen habe. Ein Netz, dem »ich« mehr als 40 Jahre lang nicht entrinnen konnte. Jeder Knoten darin ist das Ergebnis meiner Entscheidungen. Warum fand ich als Dreizehnjähriger Rauschmittel spannender als Briefmarkensammeln?

Siehst du! Genau das ist Karma!

Meine Skepsis bei der Frage nach dem Karma erstaunt mich selbst. Eigentlich sprechen alle Indizien für seine Existenz. Ich vermute, dass meine zögerliche Haltung nicht zuletzt auf eine Bemerkung zurückgeht, die meine weißäugige Krähe mir vor einiger Zeit zuraunte.

Karma gibt es, keine Frage, krächzte sie. Allerdings verhält sich die Sache anders als du denkst. 


Strandjutter


 August

Die Sache mit dem Karma lässt mir keine Ruhe. Ich persönlich kann nicht mit konkreten Inkarnationen aus vergangenen Zeitaltern aufwarten. Eher mit allen, den gesammelten Inkarnationen der Körperleben der Menscheit im Hier und Jetzt.

Manche Menschen können sich offenbar verblüffend detailliert an vorherige Leben erinnern. Ich kann bei diesem Thema nicht mitreden, geschweige denn beurteilen, ob an den Geschichten etwas dran ist. Bei einigen allzu konkreten Schilderungen überkommen mich offen gestanden leise Zweifel. Etwa wenn jemand behauptet, er habe in seiner 256. Reinkarnation als Wirt einer mittelalterlichen Schenke seinen Gästen Sägemehl ins Essen gestreut, und das sei die Ursache seiner Zellulose-Unverträglichkeit.


Zwei Wochen später

Corona-Krise, Kontaktsperre. Ich meditiere täglich bei der großen Platane auf dem Schulhof.

Ich und ich.

Wie ist das Ego beschaffen? Was genau ist dieses »Ich«, das die Kontrolle über Geist und Körper übernimmt, sobald ich die Augen öffne und die Welt erblicke? Der Ursprung des Ich-Gedankens ist schwer fassbar, das Geflecht des Egos durchzieht verschiedene Ebenen.

Mit den Mitteln der Logik komme ich nicht weiter; um diese Fragen beantworten zu können, gehe ich in die Meditation. Ich möchte die Antworten hören, die nicht vom Ego stammen. Antworten, die jedem jederzeit zugänglich sind.

Ich schließe die Augen. Das oberflächliche Ego, das Kleine Ich, verharrt noch im Geist, es dominiert den Strom der Gedanken. Ich wende verschiedene Techniken an, um den Gedankenstrom vorbeiziehen zu lassen, stelle mir Wolken vor, die der Wind durch den Himmel treibt. Ich lasse sie ziehen, ich beachte sie nicht.

In der tiefen Versenkung erscheint das wahre, körperlose Selbst in meinem Bewusstsein. Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen »Ich« und »Nicht-Ich«. Alles ist eins und ich bin untrennbar mit Allem verbunden.

Dennoch erhält mein suchender Geist auf seine Frage Wer bin ich? auch auf dieser Ebene die Antwort ICH BIN!

Wer ist „Ich", wenn alles Eins ist?

Keine Antwort.

Die Präsenz dieses Großen Ichs überragt bildlich gesprochen alles. Es existiert allgegenwärtig jenseits (»hinter«) der oberflächlichen Sphäre des Kleinen Egos. Es ist das Erste, das »erscheint«, und das, was bleibt, wenn der Ego-Geist verstummt ist. Dieses basale, Große Ich füllt den gesamten wahrnehmbaren Raum aus, es ist nicht-dual.

Der suchende Geist „sieht" das Große Ich. Er kann darüber hinaus auch die oberflächlichen Emotionen des Kleinen Ichs von der tiefen Schwingung eines »größeren« Gewahrseins, das mit dem innersten Kern verbunden ist, unterscheiden. Sorge, Angst, Wut oder Euphorie entstehen ausnahmslos durch die Fehlidentifikation mit der Körperperson. Die Gefühlsschwingung der innersten Saite, manche nennen es Seele, ähnelt einer Sehnsucht, einem uralten Verlangen, das an der Wurzel des basalen Ichs den Lebensweg der Körperperson bestimmt.

An dieser Stelle in der Meditation, auf dieser elementaren Ebene der Gespaltenheit des Geistes, wiederhole ich meine Fragen nach dem basalen Ich und erhalte die folgenden Antworten:

„Wie ist das basale Ich beschaffen? Wer ist es, der auf dieser Ebene ICH BIN sagt?"

Die Seele ist die Projektionsmatrize der Körperperson.

„Betrachtet die eine Quelle sich selbst, das Selbst, als ungeteiltes Ich?"

Ich bin.
Ich bin, der ich bin.
Es gibt nichts außerhalb von mir.
Es gibt nur mich.
Ich bin Du, und Du bist Ich.
Bleibe bei mir, und alles, was Dein ist,
wird dir zuteilwerden!
Denn alles, was Mein ist,
ist auch von Dir. 


Meditationsstuhl bei der großen Schulhofplatane


13.01.2021
Hannover

Papa hat es geschafft. Sein Körper ist in der Nacht gestorben. Er ist seinen letzten Gang alleine gegangen, in einem Krankenhaus in Stuttgart. Besuche waren nicht möglich, niemand durfte zu ihm. Corona-Lockdown. Helma wurde erst am nächsten Morgen informiert. Angeblich sei der Tod ganz überraschend eingetreten. Ich mag es nicht glauben.


14.01.2021
Hannover

Helma hat im Krankenhaus mit ihrer Tochter Anja zwei Stunden an seinem Totenbett verbracht. Von Anja bekam ich per WhatsApp drei Fotos von seinem leblosen Körper zugeschickt. Gut, dass sie daran gedacht hat, ich bin ihr sehr dankbar dafür.

Seine weißen Haare sind richtig lang gewachsen. Sein Glasauge wurde herausgenommen, wodurch die Augenpartie eingefallen ist. Ansonsten sind seine Züge erstaunlich entspannt und friedlich.

Sein Anblick berührt mich. Ich kenne das Körperleben dieses Mannes wie kein anderer. Er soll mein Vater gewesen sein, doch die entspannte Gelassenheit dieses Gesichts sehe ich zum ersten Mal. Seine Züge haben etwas heroisches, er sieht stolz und schön aus.

Ich bin erleichtert, dass die Quälerei für ihn ein Ende hat. Es mag verrückt klingen, aber dieser relativ schnelle und leichte Tod des Körpers war möglich, weil er alleine im Krankenhaus lag. Und jetzt wird es noch verückter: Nachdem Papa ins Krankenhaus eingewiesen wurde, haben Carola und ich überlegt, wie wir ihm seine veränderte Situation klar machen könnten. Er konnte unmöglich zu Helma zurückkehren, sie war mit seiner Pflege weit über ihre Belastungsgrenze gegangen. Das bedeutete, dass ein Altenheimplatz für ihn gefunden werden musste. Außerdem war es endgültig an der Zeit, seine Hausberger Wohnung zu aufzugeben. Die Kündigung der ungenutzten Wohnung, die er vor mehr als einem Jahr verlassen hatte und in die er nie wieder zurückkehren würde, war längst überfällig. Wir hatten etliche Male versucht diese Angelegenheiten mit ihm zu besprechen. Leider erfolglos, er wich uns einsilbig aus oder schwieg mit missmutigem Gesicht. Wir hatten ihn sogar darauf hingesiesen, dass irgendwann andere für ihn diese Entscheidung treffen würden, wenn er er es nicht selbst täte. Nun war genau dieser Fall eingetreten. Wir beschlossen uns die Bürde zu teilen, Carola würde ihm mitteilen, dass eine Rückkehr zu Helma nicht möglich sein würde, ich übernahm die Sache mit der Wohnungskündigung. Am 11. Januar riefen wir ihn an. Einen Tag und eine Nacht danach war er verstorben.


15.01.2021
Hannover

Ich hatte kurz vor seinem neunzigsten Körpergeburtstag die Arbeit an einem digitalen Bild abgeschlossen. Als es fertig war sah ich, dass es den letzten Lebensabschnitt meines Vaters symbolisch erfasste. Ich hatte es ihm dann im November zum Geburtstag geschenkt. Das Bild basiert auf einem Schnappschuss, einer Handyaufnahme der herbstlichen Hildesheimer Allee, an einer roten Ampel schnell aus dem Auto heraus genommen.

Das Bild zeigt menschenleere Straßen, mitten auf der Kreuzung steht ein demontiertes Autowrack. Am Ende des Tunnels, den die Alleebäume bilden, scheint sehr helles Licht. Ich wollte ihm auf irgendeine Art sagen, dass er sich nicht vor dem Tod, den es nicht wirklich gibt, fürchten muss. Nicht ewige Dunkelheit bringt der Tod des Körpers, sondern himmlisches Licht -und mit ihm die ultimative Befreiung von allem Elend der Welt. 


Autumn Roads


Hier und Jetzt

Lieber SZ-Spender,

eigentlich sollen sich Spender und Empfänger ja nicht kennenlernen. Das deutsche Transplantationsgesetz möchte verhindern, dass eine Kontaktaufnahme zu außergewöhnlichen Belastungen führt. Als Frau Kasper aus der Ambulanz aber vor zwei Wochen meinte, man dürfe sehr wohl anonyme Briefe verfassen, wollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Wie drückt man seine Dankbarkeit über ein erhaltenes Geschenk aus, das mit keinem anderen vergleichbar ist? Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie diese Geschichte, diese KMT-Therapie, für mich ausgehen wird. Es läuft eigentlich ziemlich gut bis jetzt, besser als ich gehofft hatte. Doch selbst bei einem ungünstigeren Verlauf wäre ich für deine Spende zutiefst dankbar gewesen (vermutlich hätte ich diesen Brief allerdings nicht jetzt schon geschrieben).

Ich habe die Entscheidung eine SZ-Transplantation durchführen zu lassen nur sehr zögerlich getroffen. Die Chancen einer Genesung „meiner" Primäre Myelofibrose (PMF, seit 2016 diagnostiziert) waren nicht gerade überwältigend. Eher mau, wie man in Hamburg gerne sagt. Die Risiken, dass „etwas schiefgeht"- das kam noch dazu - lagen irgendwo im zweistelligen Prozentbereich und hingen von verschiedenen Faktoren ab. Auch die Ärzte rieten mir zu einer abwartenden Haltung, solange sich meine körperliche Verfassung nicht verschlechterte.

Myelofibrose. Man könnte meinen, dass sei der Name einer geheimnisvollen griechischen Göttin. Auf deutsch klingt die Sache weitaus nüchterner: Knochenmarkzerfaserung. Bis zum Herbst 2020 konnte ich mein Leben ganz gut mit der Myelofibrose arrangieren, doch dann trat die unvermeidliche Wende dieser Erkrankung ein, und die griechische Göttin legte einen wesentlich schnelleren Gang ein. Ich hatte keine Wahl mehr und entschied mich für eine KMT an der Universitätsklinik Eppendorf, eine Entscheidung, die ich bis heute nicht einen Moment lang bereut habe.

Deine Zellen kamen per Kurier aus Tübingen, und ich fragte mich, ob da jetzt jemand auf einem Fahrrad Richtung Hamburg unterwegs war. Fast auf die Minute genau um 0:00 Uhr am 24. September floss die Zellsuspension über einen sieben Meter langen Halskatheterschlauch in meinen Körper. Ich hatte mir vorgenommen, jede Zelle beim Eintritt einzeln zu begrüßen (was dann doch einige Zeit in Anspruch nahm): „Kommt rein, herzlich willkommen! Ich freue mich, dass ihr da seid!"

Körperlich fühlte ich während der eigentlichen Transplantation nichts Besonderes, doch auf anderen Ebenen, in der Psyche, herrschte emotionale Aufregung, außerdem eine erhöhte mentale Wahrnehmung. Zumal ich einigermaßen sprachlos über den Zeitpunkt der Übertragung war. Mein Körper wurde am 24. August 1958 geboren, und zwar ziemlich genau um Mitternacht (meine Mutter ist sich nicht mehr sicher, ob es fünf vor oder nach zwölf war). Ich war ein sogenanntes Achtmonatskind, und meine zweite Chance auf ein neues Leben erhielt ich nun mit deinen Zellen genau 63 Jahre und einen Monat später.

Bis jetzt sind all die gefürchteten Abstoßungsreaktionen bei mir ausgeblieben. Deine Zellen arbeiten prima! :-) Nur dauert die Rückeroberung des zerfaserten Knochenmarks länger als erwartet. Die Leukozyten und die Thrombozyten vermehren sich gut (Juchu!), nur die Produktion der Roten Blutkörperchen, der Erythrozyten, kommt nicht in die Gänge. Ich brauche seit der KMT immer noch alle 7 bis 14 Tage eine Transfusion mit Erythrozytenkonzentrat. Darum riet mir Dr. Wolschke, meine betreuende Ärztin in der Ambulanz, eine weitere Zugabe von Stammzellen ins Auge zu fassen, um auf diese Weise das System zu boosten. „Vorausgesetzt natürlich, Ihr Spender willigt ein noch einmal Zellen abzugeben!", meinte Dr. Wolschke. Ich war skeptisch. Ob er das macht?, dachte ich. Tja, und das hast du nun tatsächlich gemacht.

Zwei Wochen vor der KMT im September 2021 ließ ich bei meinem Zahnarzt noch einmal die Zähne auf eventuelle Baustellen überprüfen. Ich erzählte ihm auf Nachfragen von der bevorstehenden Therapie, die Suche nach einem geeigneten Spender usw. Das Thema interessierte ihn. Ich schloss meine Beschreibung mit einer Frage:

„Gut, ich meine, Blutspender gibt es viele, das kennt jeder. Aber ich frage mich, wer eigentlich auf die Idee kommt Stammzellen zu spenden. Das kommt vermutlich doch relativ selten vor, denke ich. Was mögen das für Leute sein, die Stammzellen spenden?"

„Oh, mein Sohn zum Beispiel", sagte der Zahnarzt. „Der macht grundsätzlich Sachen, die andere nicht machen! Also hat er vor zwei Jahren Stammzellen gespendet. Einfach so."

Auf einer nicht sichtbaren Ebene sind wir alle miteinander verbunden, ich darf dies mit Gewissheit sagen. Unsere Körper sind kleine Wunderwerke, finde ich. Lerneinheiten. Empfangsstationen. Die Dankbarkeit und das Glück, die deine Spende bei mir und meinen Nächsten bewirkt hat - sie soll und wird dich erreichen, dich und dein eigenes Glücklichsein!

Namasté! 

***

Der Hauch eines bekannten Geruchs in der sonnigen Abendluft,
Stoppelfelder, gleich nach der Ernte, lachende Kinder.
Die Welt hält kurz inne. Frieden und stilles Glück.


Die Erinnerung an kindliche Glückseligkeit, ausgelöst durch einen Geruch.
Nicht die Augenblicke waren glücklich, nicht die Erntetage im August,
ich bin es, der glücklich war. Ich, der ich nicht bin.


Es gibt keinen Tod.
Die einzig sinnvolle Funktion der Erinnerung ist die Optimierung des Lernens.

***

THE END 


Nisargadatta Maharaj (1897 - 1981)

"Was du sein möchtest, bist du bereits. Bewahre einfach diesen Gedanken."

26 Der Heimkehrer
 

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