Hier und Jetzt
Im Samadhi lag der Ozean der Stille, der endlose Pazifik der Meditation, hier ruhte der vom Umherirren ermüdete Geist im Frieden des Selbst. Zwischen Lulans Meditationen erhoben sich die Landmassen der äußeren Welt über den Spiegel des friedlichen Meeres, und die Ereignisse des Alltäglichen nahmen ihren Lauf. Die beiden Wahrnehmungssphären wechselten sich unvereinbar miteinander ab. Sobald Lulan die Welt mit den Augen des Körpers sah, blieb das Reale verschleiert, und wenn er in der Meditation mit dem alles durchdringenden Sein ununterscheidbar vereint war, existierte weder sein Körper noch seine Person. Im Samadhi gab es keine Welt.Seit der Reha in Bad Gandersheim rauchte er wieder. Vielleicht wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn er seinen Laptop nicht mitgenommen hätte. Das Verlangen nach einer Zigarette war besonders unerbittlich, wenn er an einem Computer saß. Lulan war regelrecht entzückt von der Vielseitigkeit der digitalen Datenverarbeitung. Er konnte in einem rein virtuellen Schaffensprozess »reale« Kunstwerke entstehen lassen: Großformatige Bilder (die er in Copyshops ausdrucken ließ), CDs mit eigenen Songs aufnehmen oder selbstproduzierte Videos. Die digitale Entfaltung seines kreativen Potenzials versorgte ihn fortwährend mit neuer Energie. Bemerkenswert an dieser Situation war, dass er den Zugang zum Fluss der unbegrenzten Kreativität durch Meditationen erhielt, die Befriedigung des schöpferischen Ausdrucks empfand jedoch sein Ego, und das verlangte stets mehr frisches Futter.
Es war definitiv kein Zufall, dass der Rückfall in alte Rauch- und Trinkgewohnheiten zeitgleich mit Computerarbeiten einherging. Diese unglückselige Kombination stammte aus der Zeit, als man noch überall rauchen durfte und überquellende Aschenbecher neben den PCs standen. Lulan selbst hatte diese Verknüpfung geschaffen.
08.02.2019
Hannover
Meditation
Ich bitte um Hilfe! Wie komme ich raus aus dieser Nummer? Wie kann ich befreit werden?
Du sprichst zwar davon den ganzen Tag zu meditieren, aber du tust es nicht. Immer wieder kehrst du zurück in die Welt, weil sie dir so gut gefällt und ihre Vergnügungen dir Spaß bereiten. Doch die Verleugnung des Wahren ist ein krankhafter Zug. In der Welt entstehen deine Probleme. Alles, was du brauchst, um zu heilen, sind deine Meditationen. Sie helfen dir im Gleichgewicht zu bleiben, sie erhalten deine Gesundheit und Stabilität. Momentan bist du noch nicht stabil genug, um in der Welt nach Belieben zu erschaffen.
Meditiere weiter! Meditiere und halte dein Gleichgewicht. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du stabil sein wirst.
08.08.2019
Hannover
Die Komposition des Heimkehrers ist fertig. Endlich. Geschafft. Ich habe während der Ferien in Vrist alle bis dahin grob bearbeiteten Ebenen in Photoshop übermalt. Jetzt kommt die langwierige Feinarbeit, die abschließenden Korrekturen und die malerischen Feinarbeiten.
Der Ursprung dieses Bildes ist ein kleines, altes, vergilbtes Schwarzweiß-Foto, das meinen Vater in einer sonderbaren Szene abbildet. Er steht mit einem Koffer in der Hand an einer Haustür und drückt auf die Klingel. Das Foto ist inszeniert. Mein Vater »spielt« einen Spätheimkehrer, der nach längerer Zeit in russischer Kriegsgefangenschaft wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist und an der Tür seines Elternhauses steht. Ein Nachbar hat auf den Auflöser gedrückt.
Das Foto zog mich schon als Kind in seinen Bann. Ende der siebziger Jahre besorgte ich mir eine mittelgroßformatige Künstlerleinwand (ich entschied mich merkwürdigerweise für ein annähernd quadratisches Format) und übertrug das Foto mittels Sepiawasserfarben vergrößert und links von der Mitte auf das Tuch. Ich hatte die Szene freihändig auf Anhieb gut getroffen und versuchte anschließend, das Bild von der zentralen Heimkehrer-Figur ausgehend nach außen hin aufzubauen. Als rund 65% der Leinwandfläche bedeckt waren gingen mir die Ideen aus.
Den Eingangsbereich des Hauses hatte ich zu einer Fassade erweitert, ein Dach war nicht zu sehen. Dafür gab es kaltgraue Kellernischen, in denen überdimensionierte Einweckgläser mit Pflaumen und Erdbeeren standen. Das Haus trohnte auf Betonpfeilern über einem Wasserbecken. Und mitten in diesem Kellerpool befand sich eine zweite Figur, die sich, nackt bis zu den Hüften im Wasser stehend, die schulterlangen Haare wusch. Es war ein junger, schnurbärtiger Mann, dessen Körper mit zwei üppigen fraulichen Büsten ausgestattet war. Diese Figur war ich selbst.
Die Leinwand war zu groß für mein möbliertes Apartment bei der Spediteurswitwe; ich ließ sie auf einer kleinen Staffelei in meinem ehemaligen Zimmer in der Hausberger Dienstwohnung zurück. Mein Vater mochte das Bild nicht, was er mir sogar persönlich mitteilte.
„Also, das gefällt mir gar nicht, was du da malst", meinte er gleich bei zwei Gelegenheiten.
Zuerst war es mir piepegal, ob es ihm gefiel oder nicht. Das war avantgardistische Kunst, Magischer Psychoneorealismus, das musste überhaupt keinem gefallen, außer mir selbst, denn ich war der Künstler. Ich wähnte mich - gerade zwanzig geworden - meinem Vater haushoch überlegen. Auf dem Ölbild hatte ich mich als spektakulärer Gegenentwurf zu dem biederen Heimkehrer inszeniert. Der begnadete Künstler entwarf ein mysteriöses Bildnis von Vater und Sohn, ihre Unversöhnlichkeit als Variante eines uralten Dramas.
Dann hatte ich eine Halluzination, als ich ein Wochende allein in der Wohnung verbrachte. Eigentlich war es eine Vision, aber ich nenne es mal etwas zurückhaltender »Halluzination«, denn ich war ein wenig angeduselt. Meine Eltern hatten mich gebeten, während ihres Ausflugs an die Mosel bei ihnen einzuhüten. Ich saß vor der Leinwand mit dem Heimkehrer, angenehm bekifft, und hatte zudem noch eine Flasche Bier geleert, als in mir ein lauter, scharf artikulierter Text abgespult wurde.
Du verfügst über andere, hochmütig, ohne auf ihre Gefühle zu achten, wie bei deinem Vater, den du ungefragt für dein Bild verwendest, für deine Kunst, die du über alles stellst, für die du bereit bist zu verletzen. Du bist wie ein gefräßiges Schwein, das gierig alles vertilgt und wegschlabbert, was ihm in die Fänge kommt. Ein gieriges Schwein, das alles beschmutzt, was heilig ist!
Diese Worte waren vernichtend. Ich ein Schwein!? Ich war auf einen Schlag ernüchtert, die Kritik war nicht nur klar und direkt, sie traf auch noch zu, wie ich mir selbst ehrlichkeitshalber eingestehen musste. Ich war schockiert, denn ich selbst hatte mich für einen heroischen, ehrenvollen Tafelritter gehalten. Sir Lancelot, ein versierter Haudegen, der in seiner Freizeit neorealistische Kunstwerke erschuf.
Ein paar Tage nach dieser Hallu-Vision löste ich das bemalte Leinwandtuch vom Keilrahmen und verbrannte das Bild im Garten. Die Aktion sagt mir heute, wie ernst ich die Vision damals genommen haben muss. Es war eine Kurzschlusshandlung, die ich jahrzehntelang bereut habe. Wer weiß, wofür es gut war, krächzte meine Begleiterin, die blinde Krähe, um mich zu trösten, doch das verlorene Bild ließ mir keine Ruhe.
Kurz nach der Jahrtausendwende habe ich das Foto mit meinem Vater als Heimkehrer eingescannt und in Photoshop restauriert und freigestellt. Dabei beließ ich es, denn ich hatte immer noch keinen Plan für das eigentliche Bildkonzept, in dem der Heimkehrer ja nur eine Szene beitragen würde. Im März 2019 tauchte auf dem achtzigsten Geburtstag meiner Mutter ein weiteres Foto auf, das kurz nach dem Heimkehrer aufgenommen worden war. Carola hatte es als Geschenk ausgesucht, eine vergrößerte Farbkopie in einem Glasrahmen. Auf diesem Foto lehnt meine Mutter aus dem Fenster des Hauses, in dem mein Körper geboren wurde; es war eines der Nachbarhäuser in der Nähe des Heimkehrer-Hauses.
Das Foto war das fehlende Puzzlestückchen! Es sprang mich geradezu an. Das Fenster, die Ziegelsteine – es würde perfekt zu der Heimkehrer-Szene passen. Ich begann an einer neuen Version zu arbeiten, dieses Mal als digitales Bild.
Jetzt schaue ich auf die fertige Komposition. Ich stehe als Achtjähriger halbtransparent zwischen meinen voneinander getrennten Eltern. Im Hintergrund das Wiehengebirge mit dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal, genau an der Position, wo er 1964 vom Kirschbaum im Garten aus zu sehen gewesen sein musste. Neben mir im Kinderwagen liegt ein Baby (das man nicht sieht), mein Schwesterchen Carola.
In diesem Moment schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, der mir zunächst unverständlich erscheint.
Nicht mein Vater ist der Heimkehrer, ich bin es selbst!
Ich verstehe es nicht sofort, erst nach und nach dämmert es mir.
Der Heimkehrer bin ich! Mein Papa spielt ihn, ich bin es wirklich!
Ich werde ins Haus meines Vaters heimkehren.
Heute. Morgen. Für alle Zeit.
10.08.2019
Bad Cannstatt
Ich soll Papa wieder zu Helma chauffieren, zurück nach Bad Cannstatt. Dies war unser fünfter Trip in seinem vollgepackten Golf.
Anfang Juni hatte ich ihn dort abgeholt. Der alte Mann hatte zu unserem blanken Entsetzen verkündet, ein paar Monate alleine in seinem leerstehenden Apartment in Hausberge verbringen zu wollen. Die fahrstuhllose Wohnung liegt im vierten Stock, auf dem Balkon wirkt das Kaiser-Wilhelm-Denkmal zum Greifen nahe, noch näher als in unserer ehemaligen Dienstwohnung ein paar Straßen weiter. Sogar ohne Fernglas sind die großen Fenster des neuen Panoramarestaurants Wilhelm 1896 zu erkennen.
Jetzt stehen wir auf dem Parkplatz an seinem beladenen Golf und überprüfen, ob auf der Rückbank die Getränke und Snacks sicher verstaut und während der Fahrt problemlos erreichbar sind.
„Wenn du nicht mehr kannst, fahre ich weiter", sagt mein Vater. Er versucht es beharrlich stets aufs Neue, doch in dem Punkt bleibe ich unerbittlich:
„Das kommt auf gar keinen Fall infrage. Wenn ich müde werde, halten wir an, damit ich mich ausruhen kann. Ich bin hier, um dich nach Stuttgart zu bringen und genau das werde ich tun. Sobald du dich ans Steuer dieses Wagens setzt, werde ich aussteigen und zu Fuß weiterlaufen!"
Er weiß, dass ich es ernst meine. Papa wird nächstes Jahr 90, er ist halb blind und taub, sein Reaktionsvermögen reicht für die Verkehrsteilnahme mit einem PKW nicht mehr aus. Als ich mit ihm vor zwei Monaten in Bad Cannstatt zu einem nahegelegenen Stadtpark gehen wollte, blieb er plötzlich auf einem Radweg stehen, um zu verschnaufen; die Radfahrer, die direkt auf ihn zurasten, übersah er glatt. Ich konnte gerade noch einen Unfall verhindern.
Um 10 Uhr brechen wir pünklich auf.
„Ja, Junge, ich glaube dies war wohl das letzte Mal, dass ich hier oben war", sagt mein Vater, und ich denke still, dass er damit recht haben könnte. Wir fahren bei Vennebeck auf die A2.
„Wir sind früher am Wochende auf dieser Autobahn spazieren gegangen. Damals konnte man das. Auf der Autobahn! Kannst du dir das vorstellen?", fragt er und fährt fort, ohne meine Antwort abzuwarten. „Wie oft bin ich nicht am Sonntag mit dem Rad auf der Autobahn nach Frieda gefahren!"
Ich habe Papa in den letzten Monaten ein paar Mal in Hausberge besucht. Die Kommunikation mit ihm verläuft inzwischen stark eingeschränkt, was nicht zuletzt auf seine Schwerhörigkeit zurückzuführen ist; er hat sich trotz eindringlicher Bitten kein Hörgerät angeschafft, und ich muss alles mindestens zweimal sagen, um zu ihm durchzudringen.
Zu seiner Hörbehinderung kommt erschwerend eine gewisse Geistesabwesenheit hinzu. Er ist in sich gekehrt und verweilt zunehmend in sentimentalen Erinnerungen von längst vergangenen Tagen. Oft reagiert er überhaupt nicht, wenn man ihn anspricht.
„Hast du noch mit Herrn Wrenger gesprochen?", frage ich ihn auf der A2 kurz vor Bielefeld.
„Was denn?", fragt Papa zurück.
„Ob du in den letzten Wochen Herrn Wrenger getroffen hast", wiederhole ich lauter, zu ihm gewandt.
„Ja, sicher! Sie haben mich zum Essen eingeladen. Es gab Eintopf."
„Erbseneintopf, nehme ich an?"
„Was denn?"
Mein Vater sagt niemals wie bitte? oder was hast du gesagt? stattdessen sagt er - soweit ich mich zurückentsinnen kann - immer nur was denn? Ich habe bis Kassel über diese Frageformulierung nachgedacht. Was denn? ist zwar uneindeutiger als wie bitte? bietet aber durch die Mehrdeutigkeit letztlich wesentlich mehr Spielraum für inhaltliche Erweiterungen. Was denn noch? zum Beispiel oder was denn sonst? Durch die phonetische Nähe zu was dann? schwingt sogar ein gewisser philosophischer Unterton mit. Man kann damit prima verbissene Sitzungsteilnehmer aus dem Gleichgewicht bringen, wenn man auf lange Redebeiträge ein kurzes Und was jetzt? folgen lässt.
Als ich Papa Ende Juni in Hausberge besucht hatte, gab es Erbsensuppe mit Speck aus der Dose. Das Essen älterer Menschen entwickelt oft eine gewisse geschmackliche Monotonie; meist schmeckt es nach dem Geruch ihrer Wohnungen. Nicht wirklich lecker und frisch. Deshalb hatte ich mir frühmorgens vor der Zugfahrt auf dem Bahnhof vier belegte Käsebrötchen für unterwegs gekauft. Ich wollte damit auf Nummer sichergehen, denn die gewöhnungsbedürftige Reiseverpflegung, deren obligatorische Vorbereitung sich mein Vater nicht nehmen ließ, würde meinen Ansprüchen höchstwahrscheinlich nicht genügen.
Von den vier belegten Brötchen waren zwei, eventuell drei für mich selbst und eines oder zwei für Papa, falls er wider alle Erwartung keine eigene Verpflegung dabeihaben sollte. Als ich ihn bitte mir eines der Brötchen aus der Tüte anzureichen, nimmt er gleich eins für sich selbst.
„Ich verdrücke auch eins", meint er gut gelaunt. „Ich habe hinten im Korb auch belegte Brötchen, falls du noch mehr möchtest. Ich habe sie gestern im WEZ besorgt."
Belegte Brötchen von gestern! Genau die wollte ich vermeiden! Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass Papa die Tüte mit meinen zwei verbleibenden Käsebrötchen nicht zurücklegt, sondern sie in seinem Schoß behält. Seine beiden Hände liegen auf der Tüte. Dort bleiben sie während der nächsten 150 km liegen.
„Ich glaube, ich verdrücke noch ein Brötchen", verkündet er in den Kasseler Bergen. „Der Käse wird wohl geschmolzen sein, aber es kommt ja sowieso alles in den Magen."
Mit dieser Ernährungsphilosophie bin ich von jung an bestens vertraut. Ich habe vor mehreren Jahrzehnten eingesehen, dass sich mein Vater schlicht und einfach nicht für kulinarische Raffinessen begeistern kann.
Zwischen Kassel und Fulda ist er eingenickt. Auch mir macht die Müdigkeit ein wenig zu schaffen. Ich nehme einen Schluck aus der Red Bull-Dose, die ich mir zum Wachbleiben mitgenommen habe. Allein der Kick in den Geschmacksnerven wirkt erfrischend.
Mir fällt eine frühere Autofahrt mit meinem Vater ein, die sich nach meiner Rückkehr aus den USA ereignet hatte. Wir fuhren auf der Hausberger Straße entlang der Weser, direkt durch die Westfälische Pforte. Mein Vater saß auf dem Beifahrersitz, genau wie jetzt. Er war mächtig stolz auf seinen Sohn. Derartig ausgelassen hatte ich ihn selten erlebt, ganz aus dem Häuschen war er.
Als wir am Fuß des Porta-Bergs vor einer roten Ampel standen, verkündete er überschwänglich, es sei eine beeindruckende Leistung, die ich in Amerika vollbracht hätte.
„Doch, doch!", meinte Papa. „Herr Wrenger ist auch der Meinung, er hat es mir selbst gesagt. Es sei etwas Besonderes, an einer amerikanischen Universität seinen Doktor zu machen. Die vielen Prüfungen, und dann noch alles auf Englisch, das kann nicht jeder. Davor muss man Respekt haben! Doch, doch!"
Während er weiterredete und ich seine Frage beantwortete, ob es mir nicht schwergefallen sei, alles auf Englisch zu schreiben, die ganze Doktorarbeit und so weiter, stieg in mir innerhalb weniger Sekunden eine heiße Wut empor. Rätselhafterweise blieb ich äußerlich ausgesprochen cool.
„Nö, so schwierig war das jetzt gar nicht", hörte ich meine eigene Stimme beiläufig sagen, „ich musste ja vorher in Amsterdam auch schon alles auf Englisch schreiben".
Nahtlos hieran anschließend folgte die entrüstete Ergänzung meiner stillen Gedanken:
Und dass ich das geschafft habe, ist einzig und allein mein Verdienst! Ich habe es trotz deiner fehlenden Unterstützung geschafft. Was ich erreicht habe, ist meins, nicht deins! Nicht ein Jota geht auf dich zurück! Es gibt nichts, woran du einen Anteil hattest. Gar nichts. Null. Behalte dein Lob für dich, ich will es nicht haben!
Die Schärfe meiner Wut überraschte mich damals. Sie kam aus unbekannten Tiefen emporgeschossen wie kochende Lava aus einem Vulkan.
Noch dreieinhalb Stunden bis Bad Cannstatt, dort wird ihn seine Lebensgefährtin Helma pflegen und versorgen.
Hinter der Idee, zwei Monate alleine in seinem Hausberger Apartment zu verbringen, verbarg sich der sentimentale Wunsch noch einmal seine Heimat zu besuchen. Sein Körper wurde in Vennebeck geboren, er hat die wenigen Quadratkilometer in und um dieses Dorf niemals verlassen, von unseren Urlaubsfahrten nach Dänemark und Ungarn einmal abgesehen.
Papa glaubt, dass er dort hingehört, an die Porta, dass es ihm dort generell bessergeht. Eine Illusion, keine Frage, doch subjektiv erlebt er es so. In seiner Heimat kennt er jeden Weg und jeden Stein, außerdem alle Angelteiche. Und natürlich die Menschen, die wie er zeitlebens dortgeblieben sind. Seine gesamten Lebenserinnerungen wurzeln in den Hügeln von Porta Westfalica.
Carola und ich fielen aus allen Wolken, als er verkündete für zwei Monate „hoch" kommen zu wollen.
„Ich komme im Juni hoch", sagte er am Telefon. „Ich weiß noch nicht, wie lange. Zwei oder drei Monate."
Wir mussten innerhalb weniger Tage eine Notrufanlage bestellen und einen Pflegedienst ausfindig machen, der sich um ihn kümmern würde.
Papa ist nicht gut auf das Ende des Körperlebens vorbereitet. Er ignoriert den letzten großen Schritt, der vor ihm liegt.
Er verdrängt jedweden Gedanken an Krankheit und Tod, Gesprächsansätze zu diesem Thema lässt er konsequent ins Leere laufen. Man hat vor acht Jahren festgestellt, dass sein Körper fehlerhafte Immunoglobine produziert; die Leichtkettenmoleküle der Antikörper verbinden sich nicht mit den schweren Ketten und sammeln sich im Körper an, bis sie lebensbedrohliche Konzentrationen erreichen. Sobald die Konzentration einen Schwellenwert überschreitet, erhält Papa eine Chemotherapie.
Als die Krankheit diagnostiziert wurde, war der Körper meines Vaters 81 Jahre alt. Nach den vorsichtigen Einschätzungen der Ärzte betrug seine Körperlebenserwartung damals zwei Jahre. Aber davon weiß er nichts, er hat es verdrängt. Das macht er mittlerweile seit acht Jahren.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich mein Vater diametral von meiner Mutter, die mehr oder weniger ununterbrochen von ihren Wehwehchen spricht. Sie leidet an Tinnitus, arthrotischen Gelenken, zu hohem und zu niedrigem Blutdruck, kalten Füßen, Schlafstörungen und Angstzuständen. Angst ist die eigentliche Ursache ihrer Leiden, schon seit ihrer Kindheit, seit der traumatischen Flucht aus Pommern Richtung Westen, als Sechsjährige auf Pferdegespannen unter Decken versteckt, zu Fuß an der Hand ihrer älteren Schwester Edith mitlaufend, den nachrückenden russischen Truppen manchmal nur wenige Kilometer voraus.
Leider ist bei Mama vor einigen Jahren auch noch eine fortschreitende Demenz dazu gekommen. Durch die ängstliche Fokussierung auf ihre Kränkeleien rücken diese ins Zentrum des Bewusstseins und beherrschen den Geist. Angst essen Seele auf hieß 1974 ein Film von Rainer Werner Fassbinder. Der Titel mag metaphorisch bestechen, wenngleich die Ängste des Egos das strahlende Selbst nicht berühren können. Dafür hält Angst den Geist in Knechtschaft; sie dient dem Ego als vorzügliches Herrschaftsinstrument und verhindert die Überwindung der Illusion.
Die Nichtbeachtung von Leiden ist eine empfehlenswerte spirituelle Maßnahme, denn das Ignorieren illusorischer Gedanken markiert den Beginn echter Heilung. Papa ignoriert allerdings alles. Er beschäftigt seinen Geist vorwiegend mit der Bearbeitung seiner eingescannten Fotos und dem digitalen Schachspiel auf meinem ehemaligen Laptop. Alle übrigen Themen, vor allem Fragen, die sein Befinden betreffen, blendet er aus. Eine bewusste Reflexion seiner Entwicklung oder seines Daseins findet nicht statt.
Er kümmert sich weder um die Auflösung seines Hausberger Apartments, das er nicht mehr bewohnen wird, noch um die Planung einer Seniorenheimaufnahme, die in absehbarer Zukunft bevorstehen dürfte, zumal Helma, immerhin auch schon 82, mit den täglichen Pflegeanforderungen sichtlich überfordert ist. Er weigert sich darüber nachzudenken. Auch den Tod des Körpers hat er ausgeblendet.
„Herr Doktor, ich mache weiter!", hat er dem Oberarzt erklärt, als er wegen einer akut aufgetretene Altersdiabetes in ein Krankenhaus eingewiesen wurde.
Muss man seinen Geist unbedingt auf den Tod vorbereiten? Kann man das Unvermeidliche nicht einfach außen vorlassen? fragt das Ego, das auf seinen freien Willen pocht. Wie alle Überlegungen des Egos verstärken auch diese Gedanken sein Gespinst aus Illusionen; denn das Ausblenden der bewussten Wahrnehmung führt in die Unfreiheit. Die Verleugnung des Selbst ist niemals folgenlos.
Niemand wünscht sich einen qualvollen, schweren Tod. Der Moment des Loslassens, das Loslassenkönnen, erfordert von uns die bewusste geistige Vorbereitung auf ein Ereignis, das das Ego über alles fürchtet. Für unser reales Selbst ist der Tod des Körpers ein leichter, freude- und lichterfüllter Augenblick der ultimativen Erlösung, ungeachtet der Todesursache.
Kurz vor seinem 88sten Geburtstag hatte ich mir vorgenommen, meinem Vater diese wundervolle Nachricht mitzuteilen.
„Man braucht keine Angst zu haben", versicherte ich ihm. „In Wirklichkeit gibt es keinen Tod, nur der Körper wird abgelegt."
Papa blickte grimmig aus dem Fenster und fixierte den steinernen Kaiser Wilhelm auf dem Porta-Berg. Er antwortete nicht, seine Mimik verriet nicht, ob er meiner frohen Botschaft zustimmte oder sie ablehnte.
„In Wahrheit sind wir körperlos, wir bleiben, was wir sind, auch nach dem Tod des Körpers", tastete ich mich vorsichtig weiter vor.
Er schwieg, sprach erst nach einer langen Pause weiter: „Wie muss ich mir das vorstellen? Bin ich dann oben am Himmel zwischen den Wolken?"
Ich war verdutzt, seine Frage war vollkommen ernst gemeint. Papas Vorstellung von metaphysischen Prozessen war auf dem Niveau eines Fünfjährigen stehengeblieben. Womöglich hatte sein Hass auf alle Pfaffen eine seriöse Auseinandersetzung mit Spiritualität für den Rest seines Körperlebens verhindert. Er glaubte an die Souveränität der Wissenschaft.
Man kann jahrzehntelange Entwicklungsarbeit nicht in wenigen Wochen oder Monaten nachholen. Ich bin mir nicht sicher, wie lern- oder aufnahmefähig mein Vater noch ist. In der Kindheit und Jugend meiner Körperperson hat er meine Entwicklung behindert, statt sie zu fördern. Er war nicht für mich da. Jetzt sitze ich an seiner Seite, während er schläft. Bin ich für ihn da? Achte ich darauf, dass es ihm an nichts fehlt, wenn er auf seine letzte Reise geht? Gebe ich ihm, woran es ihn mangelt, und wovon ich reichlich habe?
Als wir die hessisch-bayerische Landesgrenze überqueren, wacht er wieder auf. Er möchte bei der nächsten Gelegenheit eine Pause einlegen.
„Ich habe mich immer sehr für die Raumfahrt interessiert", bemerkt er, als wir auf dem Rastplatz Rhön Ost unsere restlichen Brötchen essen.
„Warum fasziniert dich die Raumfahrt eigentlich?", möchte ich wissen.
„Was denn?"
„Warum dich die Raumfahrt eigentlich interessiert", rufe ich.
„Sie haben eine Sonde zum Pluto geschickt. Unvorstellbar, dass sie es geschafft haben genau da anzukommen."
Ich kann ihm nur zustimmen: „Ja, das ist phänomenal, so eine winzige Sonde durch die Weite des Raums zu lenken, dass sie haargenau bei diesem Zwergplaneten eintrifft!"
„Was denn?"
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