Artigral
Menu

Was denn?

Font size: +

22 Diagnosen und Prognosen

Hier und Jetzt

Bei einer Routineuntersuchung im Frühjahr 2016 wurde festgestellt, dass die Anzahl der roten Blutkörperchen in Lulans Körpers viel zu niedrig war. Als Hämoglobinkonzentration gemessen lag sie bei 10,3 Gramm pro Deziliter (g/dl). Der Normbereich bei Männern liegt zwischen 14 und 18 g/dl. Nach einigen Folgeuntersuchungen wurde eine sogenannte Primäre Myelofibrose als Ursache für den niedrigen Hämoglobinwert vermutet. Diese Erkrankung ist medizinisch schwer bis nicht heilbar; der Erfolg einer Therapie lässt sich nicht verlässlich vorhersagen. Die einzige erfolgversprechende kurative Therapie ist eine Stammzellentransplantation. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Körper die vorbereitende Chemotherapie und die anschließende Transplantation nicht überlebt, liegt im zweistelligen Prozentbereich, während die Chancen auf eine Heilung vergleichsweise gering sind. Beides hängt von verschiedenen Risikofaktoren ab; hierzu zählen unter anderem die körperliche Verfassung, das Alter des Körpers sowie Stadium und Ausprägung der Erkrankung eines Betroffenen.

Die Entscheidung fiel Lulan nicht schwer, er traf sie im Sommer 2016, nachdem er sich ausreichend über die Erkrankung informiert hatte. Er hatte die Qualen einer Chemotherapie bereits 1994 am eigenen Leib erfahren. Einmal reichte ihm. Eine Stammzellentransplantation kam nicht infrage.

Der deutsche Name des Fachbegriffs Myelofibrose lautet Knochenmarkszerfaserung. Dabei ist ein Zelltyp der Stammzelllinien des Knochenmarks mutiert, und produziert nicht mehr wie vorgesehen rote Blutkörperchen (Erythrozyten), sondern Faserproteine, die allmählich das Knochenmark ausfüllen. Der Mangel an Erythrozyten, deren Aufgabe es ist die Muskeln und Organe des Körpers mit Sauerstoff zu versorgen, macht sich durch einen erheblichen Leistungsabfall bemerkbar. Schon das Ersteigen einer Treppe führt aufgrund der verminderten Sauerstoffzufuhr zu Atemnot und Herzklopfen und war in Lulans Fall mit einem 100-Meter-Sprint vergleichbar.

Von der Feststellung eines auffällig niedrigen Hämoglobin-Wertes im März 2016 bis zur gesicherten Diagnose verging mehr als ein halbes Jahr. Lulan fand es begrüßenswert, dass die Ärzte ihm keine Details ihrer Untersuchungsergebnisse vorenthielten. Wie schwerwiegend der Befund auch ausfallen mochte, was medizinische Diagnosen betrifft, wünschte sich Lulan vorbehaltlose Offenheit. Für eine Evaluierung seiner Situation wollte er unbedingt alle zu berücksichtigenden Faktoren kennen und berücksichtigen können.

Man kann höchstens Mutmaßungen anstellen, welche Faktoren zur Mutation der blutbildenden Stammzellen seines Körpers geführt haben könnten. Lulan selbst geht davon aus, dass die Mutation durch die vergleichsweise schwere, zellschädigende Chemotherapie verursacht wurde, die er im Herbst 1994 über sich ergehen lassen musste.

Nach dem Urlaub auf Bornholm im Juli 2016 riet ihm sein behandelnder Hausarzt, die weitere Behandlung bei einem Facharzt fortzusetzen. Leider war der Hämatologe, den er empfahl, für mehrere Monate ausgebucht, so dass sich Lulan per Google-Suche nach hämatologischen Fachärzten mit kürzeren Wartezeiten umsah. Er meldete sich schließlich bei Dr. Detlefsen in einer kleineren Gemeinschaftspraxis am Rande von Hannover an. Gleich während der ersten Besprechung bestätigte Dr. Detlefsen, dass alle bisherigen Symptome auf eine Primäre Myelofibrose hindeuteten. Letztendliche Gewissheit könne man erst nach der Analyse von Zellmaterial aus dem Beckenknochen erwarten; die Entnahme dieser Gewebeprobe erfolge durch eine Knochenmarkspunktion. Ansonsten schlug Dr. Detlefsen vor, mit dem Beginn einer Therapie zunächst zu warten und die Entwicklung der Erkrankung im Auge zu behalten; dies sei bei myeloproliferativen Erkrankungen in diesem Stadium durchaus die übliche Vorgehensweise.

Der Vorschlag den weiteren Verlauf erst einmal abzuwarten erleichterte Lulan, denn dies bedeutete, dass ihm in der näheren Zukunft keine Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie bevorstand. Er hatte eine vage Vorahnung, dass die Erkrankung seines Körpers eine größere Bedeutung für ihn haben könnte. Nichts Konkretes, Deutliches, nur ein diffuses Gefühl. Es musste einen Grund für diese Myelofibrose-Geschichte geben. Die Mutation einer Stammzellenlinie war lediglich ein physischer Faktor, aber Ursache und Wirkung lassen sich auf verschiedenen Ebenen betrachten. Außerdem verspürte Lulan den starken Wunsch, seinen Lebensstil sofort zu verändern. Krankheiten sind Warnzeichen, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, dass eine Gewohnheit Oberhand gewonnen hat, und dass dieser Habitus schädlich sein könnte.


Red Blood Cells


28.01.2017
Hannover

Es ist Mittwochabend, 23:00 Uhr. Ich will schlafen gehen und bekomme im Moment des Hinlegens unglaubliche starke Schmerzen in der rechten Seite, wo die Leber liegt, kann vor Schmerzen kaum noch atmen, habe Angst ohnmächtig zu werden. Kein Vermuten, was das sein könnte.

Cora ruft ein Taxi (was sich als folgenschwerer Fehler erweisen sollte), ich werde zur MHH-Notaufnahme gebracht. Dort beginnt ein furchtbarer Albtraum.

Ich hocke von 23:30 bis 03:30 Uhr schmerzgekrümmt in der Eingangshalle der Notaufnahme, mein Oberkörper ist dürftig mit einem dieser Flatterhemdchen bedeckt, die am Rücken offen sind. Nach der Blutabnahme (Hämoglobin = 8,3 g/dl) und einem Röntgenfoto beachtet mich niemand mehr, die automatische Eingangstür öffnet sich alle paar Minuten und lässt kalte Januarnachtluft herein, ich sitze halbnackt auf einer fahrbaren Liege, knapp vier Meter von der Tür entfernt. Menschen kommen und gehen, Patienten, Besucher, Pfleger, Ärzte.

Die Eingangshalle ist kühl bis kalt, ich friere, der heftige Schmerz lässt nicht nach, ich leide wie ein Hund, spreche Personal an, frage nach, erwähne, dass ich Schmerzen habe. Ich erhalte unwirsche Antworten.

„Dafür bin ich überhaupt nicht zuständig!"

Ich kann mir vorstellen, dass es in der Notaufnahme hektisch zugeht, dass die Arbeit hier stressig sein kann, doch die Personalkräfte, die ich sehe, wirken relaxed und scherzen miteinander. Ich kann es nicht fassen, ich war noch nie in Rumänien im Krankenhaus und möchte den Rumänen nicht zu nahetreten, aber dieser Vergleich schießt mir in meiner Not durch den Kopf:

Ich bin nicht in der Notaufnahme der MHH, ich bin in einem Lazarett in den Karpaten.

Nach vier Stunden (!) erhalte ich einen kleinen Becher mit einem Schmerzmittel. Danach eine Mitteilung, ich habe eine Lungenentzündung mit einer Pleuritis, einer Rippenfellentzündung.

Von Carola erfahre ich einige Tage später, dass man besser nicht, besser niemals, mit dem Taxi in die Notaufnahme fahren solle; man würde dadurch nicht als dringender Fall eingestuft.

„Besser mit dem Krankenwagen", meint Carola. Das seien die echten Notfälle

Wie um alles in der Welt habe ich eine Pleuritis bekommen?

Ebene 1, aus medizinischer Sicht

Ich habe mir angewöhnt, nachts am offenen Fenster noch eine zu rauchen, mittlerweile jede Nacht, manchmal sogar zweimal in einer Nacht. Weil ich Einschlafschwierigkeiten habe. Ich kann nicht einschlafen, weil ich mich qualvoll hin- und herwälze, wenn diese elende Unruhe aufkommt. Sobald ich liege, beginne ich zu zucken, das ist mein Restless-Leg-Syndrom. Es müsste eigentlich Twitching-Body-Syndrom heißen, weil der ganze Körper betroffen ist. Der Abkühlungseffekt beim Rauchen am offenen Fenster verschafft Erleichterung, danach finde ich meistens Ruhe.

Also hänge ich im Schlafanzug bei Minustemperaturen (es ist Januar) mit dem Oberkörper aus dem offenen Fenster. Davon kann man locker mal eine Lungen- und Rippenfellentzündung bekommen. Okay, gut, dass ich jetzt die Ursache kenne! 


Hier und Jetzt

Eine fatale medizinische Diagnose wird selten sofort akzeptiert. Ob ein Irrtum der behandelnden Ärzte vorliegen könnte, kann ein medizinischer Laie nicht mit Gewissheit beurteilen. Aus diesem Grund sind bei ernsteren Erkrankungen und/oder größeren therapeutischen Eingriffen ärztliche Zweitmeinungen unbedingt anzuraten. Obwohl Lulan Dr. Detlefsens Diagnose und Therapieempfehlungen nicht anzweifelte, holte er sich 2017 die zusätzlichen Gutachten von zwei anerkannten Myelofibrose-Spezialisten ein.

Der erste Spezialist, Prof. Dr. Grieshammer, der am Mindener Johannes Wesling Klinikum praktiziert, bestätigte im Wesentlichen Dr. Detlefsens Beurteilung. Lulan erfuhr von ihm weitere nützliche Details, die verschiedene Alternativbehandlungen betrafen; er kam er zu dem Schluss, dass die medizinischen Optionen bei einer PMF äußerst bescheiden waren. Die Frage, ob das Restless-Leg-Syndrom seines Körpers im Zusammenhang mit der PMF stehen könne, verneinte Herr Grieshammer ganz eindeutig. Obwohl der Facharzt ihm versicherte, dass es keine physiologische Verbindung gebe, hielt Lulan an seiner Überzeugung fest, dass es eine wechselseitige Beziehung im Stoffwechsel geben muste. Die körperlichen Signale, die er wahrnahm, waren zu eindeutig.

Prof. Dr. Grieshammer galt als einer der führenden Myelofibrose-Experten. Trotzdem wollte Lulan unbedingt ein weiteres Zweitgutachten einzuholen, er wandte sich dafür an das Erasmus University Medical Center in Rotterdam. Seine Wahl fiel bewusst ein ausländisches Hämatologie-Klinikum, da es bei der therapeutischen Vorgehensweise bei manchen Erkrankungen durchaus nationale Unterschiede geben kann.

Die Meinung des Facharztes vom Erasmus MC deckte sich grundsätzlich mit den bereits vorliegenden ärztlichen Berichten. Einzig in einer nicht unerheblichen Detailfrage wich die niederländische PMF-Behandlung von der deutschen Praxis ab. Man verabreicht in den Niederlanden bei Bedarf präventiv Blutverdünner, um Thrombosen vorzubeugen.

Wie viel Zeit bleibt meinem Körper noch? Bei dieser Frage sind Ärzte begreiflicherweise vorsichtig, selbst wenn sie eigentlich genauer Bescheid wissen als sie zuzugeben bereit sind. Man stelle sich die Prozesslawine vor, wenn ärztliche Prognosen Optmismus und Hoffnungen vermitteln, die sich nicht bewahrheiten. Auch wenn es auf die Frage nach seiner Lebenserwartung keine konkrete Antwort geben würde, wollte Lulan unbedingt wissen, woran er war. Wie lange bleibt diesem Körper noch, bevor er abtreten muss, Zapperlot?

„Womit muss ich rechnen, Dr. Detlefsen? Wie lautet die Prognose?", hatte Lulan seinen Hämatologen während des Aufnahmegesprächs 2016 rundheraus gefragt.

„Das lässt sich nur schwer einschätzen", hatte Dr. Detlefsen zögernd geantwortet. „Es hängt von vielen Faktoren ab, letztendlich auch von Ihrer physischen Verfassung. Wir werden nachsehen müssen, in welche Risikogruppe Sie fallen. Dazu brauchen wir eine Gen-Analyse, wir möchten wissen, ob bei Ihnen eine JAK2-Mutation vorliegt. Und wir brauchen Knochenmarksgewebe, um ein histologisches Untersuchungsergebnis abzusichern."

Schließlich hatte er es doch gewagt, sich halbwegs festzulegen: „Anhand der bisherigen Ergebnisse gehen die Satistiken von zwei bis zehn Jahren aus. Wichtig ist, dass wir jetzt erstmal eine Knochenmarkpunktion machen. Die Gewebeprobe ist für einen genaueren Befund unerlässlich."

Fünf Monate später, im Frühjahr 2017, kündigte Dr. Detlefsen schließlich an „die Knochenmarkstanze" durchzuführen. Lulan hatte insgeheim gehofft, die Probeentnahme hätte sich aus medizinischen Gründen erübrigte. Doch jetzt wurde die Sache konkret. Er bekam ein Info-Blatt ausgehändigt, das den Ablauf erklärte. Im Prinzip wird mittels einer Hohlnadel Gewebe aus dem hinteren Beckenkammknochen entnommen. Dafür wird der Entnahmebreich örtlich betäubt. Das Info-Blatt, das Lulan unterschreiben musste, erwähnte ausdrücklich, dass auf Wunsch zusätzlich eine Sedierung, eine sogenannte kleine Narkose, verabreicht werden könne.

Cora und Carola, die von diversen Erfahrungen mit Knochenmarkstanzen zu berichten wussten, rieten ihm auf die Sedierung nicht zu verzichten. Die Prozedur könne durchaus schmerzhaft verlaufen. Als Lulan in Dr. Detlefsens Praxis seinen Wunsch nach einer zusätzlichen Sedierung mitteilte, reagierte der junge Facharzt überraschenderweise zögernd bis abwehrend.

Eine Sedierung sei eigentlich nicht nötig, meinte Dr. Detlefsen. Die meisten Patienten würden überhaupt nichts van der Punktion merken. Das sei eine Sache von ein paar Minuten. Außerdem könnten sie in der Praxis keine Sedierung verabreichen, das sei nur in der MHH möglich. Lulan ließ sich von ihm überreden. Vielleicht hatte der Arzt ja recht, er würde es ohne Sedierung versuchen.

Ende Februar war es dann so weit. Lulan hatte morgens nach dem Frühstück eine Ibuprofen 800 geschluckt. Doppelt hält besser. Eine Stunde später, nachdem er die Betäubungsspritze bekommen hatte, lag er im Behandlungszimmer der Praxis bäuchlings auf einer Untersuchungsliege. Dr. Detlefsen kam nach einer kurzen Wartezeit zurück, um die Punktion durchzuführen. Der Arzt hielt eine Instrumentenschale mit der »Spritze« in seinen Händen. Genau genommen war es keine Injektionspritze, sondern eine Gewebeprobenentnahmekolbennadel – eine ziemlich große Spezialspritze, mit der man Gewebe aus dem Körper herausholen konnte. 


09.03.2017
Hannover

Das Ding sah aus wie eine Betäubungsspritze für Nashörner und Elefanten, die Nadel hatte in etwa die Dimension einerBleistiftmine.

In meinem visuellen Langzeitgedächtnis liefen Szenen aus alten Wildwest- und Piratenfilmen ab, in denen es galt einem Verletzten mit rotglühenden Messern oder Macheten eine nicht mehr zu rettende Extremität abzusäbeln. Die Opfer lagen meist schweißgebadet im Schein eines offenen Feuers, während sie Whisky oder Rum in sich hineinschütteten als wäre es Wasser; zu guter Letzt pflegten sie auf ein Stück Holz zu beißen und mit gepresster Stimme den verzagten Operateur anzustacheln: „Na los! Mach schon!"

Auch Dr. Detlefsen machte schon. Ich hörte, wie die Kanüle knirschend in meinen Beckenknochen eindrang.

„Ich hole den Kolben jetzt hoch. Es zieht gleich einmal kurz durchs Gebälk!", warnte Dr. Detlefsen, und meine Verwunderung über diese eigentümliche Redewendung lenkte mich ein paar Sekunden lang ab.

Dann, nach einer kurzen Pause, ein verschluckter Fluch und ein leise dahingemurmelter Satz: „… kriege nichts raus!" Detlefsen sprach offenbar mit sich selbst.

Das klang beunruhigend. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie mein Facharzt versuchte mit dem Gewicht seines Oberkörpers die Spritze tiefer in meinen Knochen zu schieben.

„Ahhhrrrg!", sagte ich, denn es tat jetzt echt weh. Er drückte weiter.

„Ahhhrrrggg!", meinte ich, und verstand, dass das Klischee auf Holz oder Leder zu beißen auf ein ureigenes Bedürfnis zurückgeht, auf einen Beißreflex in einer extremen Schmerzsituation.

„Tut es weh? Soll ich aufhören?", fragte Dr. Detlefsen

„Haben Sie denn Gewebe bekommen?", hörte ich meine eigene Stimme matt zurückfragen.

„Nein, nichts. Da ist alles trocken."

„Ja, bitte hören Sie auf!", bat ich ihn schließlich. Es hatte keinen Zweck. Wenn er nach diesem Körpereinsatz kein Gewebe hatte aufziehen können, würde eine Fortsetzung der Probeentnahme mit einer Schmerzzunahme verbunden sein. Die Schmerzen, die ich hatte, lagen bereits oberhalb meines Toleranzbereichs. Außerdem war die Geschichte definitiv anders verlaufen als die versprochenen kurzen und schmerzlosen zwei Minuten, während derer man angeblich gar nichts merke.

Dr. Detlefsens saß an seinem Schreibtisch und versuchte, seine Frustration und seinen Ärger hinter einer emotionslosen Fassade zu verbergen.

„Ich habe keine brauchbare Gewebeprobe entnehmen können", teilte er mir in einem beiläufigen Tonfall mit. „Sie müssen sich einen anderen Arzt suchen."

Holla-di-ho! Wie meinte er das jetzt? Kündigte er mir das Ende seiner Behandlungsbereitschaft an? Ich nahm seine Äußerung schweigend zur Kenntnis und besprach die Angelegenheit zwei Tage später mit Dr. Thomann, dem Internisten der Gemeinschaftspraxis, die mich hausärztlich versorgte.

Dr. Thomann hörte sich meine Geschichte kommentarlos an, seine Stirn lag in Falten. Er versprach, telefonisch mit Dr. Detlefsen Kontakt aufzunehmen. Ich war ihm aufrichtig dankbar für seine Vermittlung. Am nächsten Tag rief er mich an, um mir mitzuteilen, dass er mit dem Hämatologen gesprochen habe.

„Sie müssen da etwas falsch verstanden haben", behauptete der junge Internist. „Dr. Detlefsen ist selbstverständlich bereit Sie weiter zu behandeln. Er hat mir versichert, dass von einem Arztwechsel nicht die Rede war."

Dr. Thomann glaubte seinem Kollegen, den er persönlich nicht kannte, eher als mir. Keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus, rief meine blinde, weißäugige Krähe, denn hier kannte sie sich bestens aus. Das gilt insbesondere für Corvus medicus, die Weißkittel-Krähe.

Ich bedankte mich bei Dr. Thomann für seine Mühe, verdutzt, denn ich hatte mich weder verhört, noch etwas falsch verstanden. Offenbar hatte Dr. Detlefsen gegenüber Dr. Thomann der Sache einen anderen Dreh gegeben. In der darauffolgenden Woche bestätigte sich meine Vermutung. Detlefsen verhielt sich wie gewohnt gleichmütig, als sei nichts Erwähnenswertes vorgefallen.

„Ich schreibe Ihnen eine Überweisung. Wir werden die Knochenmarkstanze in der MHH durchführen lassen. Sie werden dort eine Sedierung bekommen", sagte er während er auf seinem Monitor konzentriert meine Patientendaten studierte. Er sah mich nicht an. Mich beschlichen verhaltene Zweifel. Die Vorboten des Misstrauens.


20.03.2017
Hannover

Am Dienstag Blutabnahme bei Dr. Detlefsen. Hämoglobin 8,1 g/dl. Die Sprechstundenhilfe fragt mich, wie ich mich fühle, ob ich Atemnot hätte. Ich bin cool und sage "Ach ja, man gewöhnt sich dran." Sie fragt bei Dr. Detlefsen nach, kommt zurück. „Erstmal weitermachen, bis zur nächsten Blutabnahme!"

In den nächsten Tagen bin ich leichenblass und sehr schwach auf den Beinen, mein Hb-Wert ist bestimmt unter 8 g/dl. Eine Bluttransfusion gibt es erst unter 8 g/dl, dies wäre meine erste Transfusion, und ich entscheide mich, nach dem Wochenende einen neuen Termin bei Dr. Detlefsen zu vereinbaren. Am Montag erhalte ich den Termin für den darauffolgenden Dienstag. Mir geht es etwas besser, bin aber noch sehr schwach. Im Labor erhält ein älterer Mann eine Bluttransfusion; ein Beutel ist leer, der zweite halb voll, es scheint ziemlich lange zu dauern. Ich versuche mir auszumalen, wie die MTAs reagieren werden, wenn mein Hämoglobinwert über 8 g/dl liegen sollte. Genau das trifft blöderweise auch ein, 8,3 g/dl.

„Alles in Ordnung!", teilt mir die Sprechstundenhilfe mit; sie will mich wieder nach Hause schicken. Ich wende ein, dass ich das ganze Wochenende sehr schwach war, oft vor Erschöpfung kaum mehr als zwei, drei Sätze sprechen konnte. Sie geht zu Dr. Detlefsen, kommt zurück. Nichts zu machen, ich bekomme kein Blut, stattdessen einen weiteren Termin in einer Woche.

Was für ein merkwürdiges Gefühl - ich bettle um Blut! Lächerlich, das will ich nicht, das brauche ich nicht! Ich denke, ich werde mir einen anderen Hämatologen suchen. Mit diesen Gedanken fahre ich fahre nach Hause. Den Rest des Tages meditiere ich. Die Verbindung ist wieder stärker, mir geht es besser.


18.04.2017
Hannover

Ich soll nicht mit auf Klassenfahrt nach Berlin; mein Körper sei zu schwach, meint Cora. Ich nehme ihr Angebot an, auch wenn es mir schwerfällt. Ich würde auf einer Klassenfahrt, die erfahrungsgemäß einige Reserven kostet, meine Ruhepausen nicht einhalten können.

Vor Ostern fahren wir nach Kopenhagen, hauptsächlich um Jørgen Olesen die Remipedien zu überbringen, an denen ich jahrelang geforscht hatte. Wir verbringen anschließend einen sonnigen Sonntag im Staatlichen Kunstmuseum und im Tivoli.

Ich habe starke Probleme, länger zu laufen; da stimmt etwas mit dem linken Bein nicht. Kein Problem, ich habe ja noch ein zweites, denke ich galgenhumorig als mir die Unfallszene mit Eric Idle und Chevy Chase aus dem Film Hilfe, die Amis kommen einfällt.


20.04.2017
Hannover

Direkt nach Ostern nun endlich die Knochenmarkstanze in der MHH. Ich bin früh eingetroffen. Die Aufnahmeprozedur (die man in einer Viertelstunde erledigt haben könnte) läuft langwierig und zähflüssig ab und zieht sich über Stunden hin.

Mittags kommt Cora mich besuchen. Sie hat für die Reise von der Nordstadt zur MHH erst die Straßenbahn und dann einen Bus genommen. Als sie wieder geht, stehe ich am Haupteingang und sehe ihr nach. Sie dreht sich mehrmals um, ihre Gestalt wird auf dem Weg zur Haltestelle immer kleiner. Ich spüre ihren Schmerz, auch über diese Distanz, wie meinen eigenen. Sie leiden zu sehen, bricht mir das Herz. Ich fühle, was sie fühlt.

Am Nachmittag ist Visite. Der Hb-Wert meines Körpers ist auf 7,8 gesunken. Die Oberärztin, die meine Einweisung fünf Wochen verschleppt hatte, lehnt den Vorschlag des Assistenzarztes mir eine Transfusion zu verabreichen ab.

„Wir wissen ja gar nicht, was Sie haben. Sie könnten ja auch an Eisenmangel leiden!", sagt sie schroff.

Ich traue meinen Ohren nicht, die Oberärztin spinnt! Es ist nicht zu glauben! Und wieder verweigert man mir das Blut, das mein Körper braucht.

„Das ist längst geklärt", antworte ich, und ahne, dass diese Person nicht an einer Richtigstellung interessiert ist. „Die Diagnose steht seit 2016 fest. Mein Körper hat eine Myelofibrose!"

„Davon wissen wir aber nichts!", behauptet die Ärztin jetzt, und ich sehe die Lüge in ihren Augen.

„Die Verantwortung, die wir hier tragen, können Sie uns nicht abnehmen. Ich bin für alles verantwortlich, wenn hier etwas schiefgeht", ereifert sie sich, und mittlerweile ist ihr Tonfall reichlich schrill geworden. „Überhaupt ist eine Sedierung für die Durchführung der KMP nicht angebracht. Das ist mit erheblichen Risiken verbunden. Und die Risiken muss ich verantworten!"

Ich halte meine Klappe trotz des Ego-Impulses, meiner Frustration Luft zu machen (was noch bis vor kurzem dem Naturell meiner Körperperson entsprochen hatte, ich hätte wütend mit der Frau gestritten). Durch mein Schweigen klingt die Peinlichkeit ihrer letzten Worte wie ein Echo nach.

Die beiden jungen Assistenzärzte mit fremdländischen Wurzeln blicken verlegen zu Boden. Diese Oberärztin braucht dringend Urlaub; ich vermute, sie steht kurz vor einem Burnout oder ist bereits mitten drin. Sie hat es zu meiner Erleichterung eilig und verwirbelt bei ihrem Abgang die dicke Luft, die sie uns hinterlässt. Ich erwähne noch gegenüber den Assistenzärzten, dass ich Schmerzen im linken Bein habe. Diese Information scheint sie zu überfordern. Sie gehen nicht weiter darauf ein.

Es geht bei der Vergabe von Blutkonserven gar nicht um die Sicherheit der Patienten; dieses Argument der Oberärztin ist ein hypokritischer Vorwand. Wenn die Krankenhäuser mit Transfusionen Geld verdienen könnten, würden sie ihre Patienten bis zu den Ohren mit Blut abfüllen. Da jede Transfusion stattdessen Kosten verursacht, hielt sich die gestresste Oberärztin vermutlich an die strengen, finanzpolitischen Vergaberichtlinien der Krankenhausgeschäftsführung.

Am nächsten Morgen findet die KMP, die Knochenmarkpunktion, statt. Mit Sedierung. Ich höre noch, wie er Assistenzarzt erklärt, dass das Mittel, das er mir soeben in den Allerwertesten injiziert hat, auch in Michael Jacksons Hausapotheke gestanden habe. Er fordert mich auf, von Hundert rückwärts zu zählen. Bei 96 versinke ich in den Nebeln von Avalon. In weiter Ferne höre ich eine leise Stimme.

„So, das war's schon!", sagt die Stimme.

Dies war meine zweite traumatische Erfahrung in den Fluren der MHH. Jetzt reicht es endgültig! Solange es bessere Krankenhäuser gibt, bekommen mich keine 10 Pferde mehr in dieses Irrenhaus.


27.04.2017
Hannover

Am 25.04. geht es wieder ins Krankenhaus, dieses Mal entscheide ich mich für das Henriettenstift, das MHH habe ich abgehakt.

Die Schmerzen im linken Bein haben in den letzten Tagen kontinuierlich zugenommen. Es ist Himmelfahrt, ich humpele in die Notaufnahme. Tiefe Beinvenenthrombose, links, lautet die Diagnose. Durch die Myelofibrose spielen wahrscheinlich einige Signalwege des Metabolismus verrückt; es kommt zu Ablagerungen in den Venen. Mein Bein bekommt einen Kompressionsverband und für meinen Körper gibt es Eliquis, ein gerinnungshemmendes Medikament, ein sogenanntes Antikoagulans. Ein Mittel also, dass PMF-Patienten in den Niederlanden bei Bedarf vorbeugend erhalten.

Im Henriettenstift geht es wesentlich ruhiger und patientenfreundlicher zu als in den Kliniken der MHH. Wesentlich! Ich bin tiefenentspannt und teile mir ein Dreibettzimmer mit Hartmut (alleinstehender Schlosser mit Herzproblemen) und Heino (Tischtennislehrer mit dementer Frau).

Ein netter Oberarzt kommt auf mein Restless-leg-Syndrom zu sprechen. Es gäbe da ein Mittel, Levodopa, ich müsse es nicht nehmen, er würde empfehlen, es einmal auszuprobieren. Das mache ich direkt am gleichen Tag noch. Das Resultat ist sen-sa-tio-nell! Es hilft, und zwar auf ganzer Linie! Die monatelangen abendlichen Qualen – passé! Durch ein simples pharmazeutisches Produkt! Der junge Oberarzt bekommt einen Ehrenplatz in meiner Ruhmeshalle! Wieder einmal zeigt sich, dass es für einige Probleme mehr Lösungen gibt, als wir ahnen. Manchmal sind die Lösungen sogar naheliegend und einfach. Man muss bloß darauf kommen. 


Don't look now


Hier und Jetzt

Nach Auswertung der Knochenmarkstanze bekam Lulan von Dr. Detlefsen ein geschlossenes Kuvert ausgehändigt; es enthielt seinen Bericht für Lulans Hausarzt. Zu Hause öffnete Lulan den Umschlag, um den Arztbrief für seine eigenen Unterlagen einzuscannen. Als er den Brief las, musste er feststellen, dass die Prognose »seiner« PMF weit weniger rosig aussah als noch zehn Monate zuvor. Dr. Detlefsen schrieb: „Aufgrund der Ergebnisse der Knochenmarkbeurteilung in Zusammenschau mit den molekulargenetischen Risiken wird bei Niedrigrisiko mit einer mittleren krankheitsbedingeten Überlebenszeit von 15,4 Monaten in der Literatur gerechnet." Weiter stand dort, dass Lulan „schmerzintolerant" sei und dass die „Stanze vom Patienten abgelehnt" wurde.

Es dauerte einen ganzen Tag, bis Lulan die Infos aus dem Arztbrief verarbeitet hatte. Er verstand jetzt, warum sich die hysterische Oberärztin ihm gegenüber aggressiv verhalten hatte: Doktor Detlefsen musste Lulans Überweisung selbstverständlich begründen, doch statt zu erklären, dass der Patient eine Sedation wünschte, nachdem der Versuch einer Probenentnahme erfolglos geblieben war, entschied er sich, aus Lulan einen schmerzintoleranten, schwierigen Patienten zu machen. Der Hämatologe Detlefsen schien einige Schwierigkeiten mit seiner diagnostischen Objektivität zu haben.

Die Angelegenheit ließ Lulan keine Ruhe; es sah verdächtig danach aus, dass Detlefsen versucht hatte sein eigenes Misslingen zu kaschieren. Aber da war noch etwas, ein Detail, das er bislang übersehen hatte. Lulan hätte zu gerne gewusst, welchen Beitrag Dr. Thomann zu Detlefsens Arztbrief geleistet haben mochte. 


10.05.2017
Hannover

Na klar! So könnten die hanebüchenen Formulierungen in Dr. Detlefsens Arztbrief gekommen sein! Dr. Thomann war hierbei wohl nicht ganz unbeteiligt! Denn der Internist ist auf Darmspiegelungen spezialisiert, und er hatte mir kurz nach der PMF-Diagnose mit einer gewissen Hartnäckigkeit angeraten, eine Koloskopie bei mir durchzuführen zu lassen, „um Darmblutungen als Ursache der Anämie auszuschließen". Er schlug mir gleich einen Termin vor, obwohl ich gar keine Darmspiegelung wollte. Ich hatte die geplante Untersuchung dann nach ein paar Tagen wieder abgesagt. Warum sollte ich die Tortur einer Koloskopie über mich ergehen lassen, wenn mit meinem Darm alles in Ordnung war? Um Dr. Thomanns Verdacht auf Darmblutungen dennoch auszuschließen, fragte ich ihn, ob man nicht Teststreifen mit Stuhlproben untersuchen lassen könne.

„Na gut, ich verschreibe Ihnen einen Vorsorgetest. Ihnen ist klar, dass die Teststreifen eine Koloskopie nicht ersetzen können?", meinte der Arzt mit ernster Miene. „Warum haben Sie eigentlich diese starken Widerstände gegen eine Darmspiegelung? Haben Sie Angst vor Schmerzen? Sie bekommen von mir eine Sedierung, von der eigentlichen Untersuchung merken Sie gar nichts!"

„Nein, vielen Dank", entgegnete ich. „Ich denke, dass die Teststreifen ausreichend sind. Angst vor Schmerzen? Nicht mehr als andere. Ich habe von mehreren Leuten gehört, dass Darmspiegelungen verdammt unangenehm sein können und ich möchte mir dieses Erlebnis ersparen – falls es nicht zwingend erforderlich ist."

Das war nicht gelogen. Mir hatten verschiedene Leute unabhängig voneinander von heftigen Schmerzen während der Untersuchungen berichtet. Einige konnten sogar trotz einer zuvor verabreichten Sedierung Schmerzen empfinden! Außerdem schilderte unlängst eine junge Arzthelferin am Rande eines Kindergeburtstags sehr plastisch, wie sedierte Patienten während der Koloskopie vor Schmerzen stöhnten und schrien. Die Frau machte einen glaubhaften Eindruck auf mich. Sie bemerkte abschließend beiläufig, dass die Patienten geschrien haben mochten, aber sich hinterher zumindest nicht an die erlittenen Schmerzen erinnern könnten. Das sei das Gute an einer Schlafnarkose. Außerdem nahm die Verarbeitung der PMF-Diagnose meinen Geist vollständig in Anspruch. Was auch immer eine Darmspieglung ans Tageslicht gebracht hätte – es wäre zuviel gewesen. Mir reichte die PMF.

Das Misstrauen des Egos keimt auf wie eine schnell wachsende, parasitäre Pflanze. Mein grundsätzliches Vertrauen in Ärzte ist gefährlich ins Wanken geraten. Dr. Detlefsen hat die ursprüngliche Prognose meiner Körperlebenswerwartung aufgrund der inzwischen vorliegenden molekulargenetischen und histologischen Untersuchungen korrigiert. Mich erstaunt, dass er keine Gelegenheit gefunden hat, mir seine neue Prognose persönlich mitzuteilen. Immerhin sind die ursprünglichen „zwei bis 10 Jahre" auf 15 Monate geschrumpft. Auf eineinhalb Jahre, und davon ist ein Drittel verstrichen.

Mein körperliches Befinden ist alles andere als berauschend. Ich muss mich zunehmend häufiger krankmelden, weil meine Kräfte nicht ausreichen.

Bevor nichts mehr geht und ich meine letzten Tage blass und blutleer in einem Sessel am Fenster sitzend verbringe, will ich noch einmal alles unternehmen, was machbar ist. Alternative Wege beschreiten, alles versuchen. Ich hatte den Kerngedanken dieser Idee zum ersten Mal als Teenager gehabt: Bevor es zu spät ist, gehe ich einfach los ohne zurückzublicken, gehe einfach zu Fuß, so lange die Füße mich tragen.


23.09.2017
Hannover

Es gibt Leute, die sich einen Krankenschein holen, sobald sie erwas zwickt. Andere verlassen ihren Arbeitsplatz erst ab einer erhöhten Körpertemperatur um 39,5 °C. Ich gehöre als Arbeitnehmer eher zu den Durchhaltetypen. Als ich nun Dr. Detlefsen bat, mich vier Wochen lang krank zu schreiben, lehnte er mein Gesuch kategorisch, fast schon aggressiv, ab.

„Nein. Das werde ich nicht machen. Wenn ich Sie jetzt krankschreibe, werden Sie nicht mehr in die Arbeit zurückkehren."

Ich war sprachlos. Der Mann arbeitete gegen mich, er bestimmte mein Leben. Das Maß war endgültig voll.

Eine Woche später hatte ich mich als neuer Patient beim Onkologischen Ambulanzzentrum Hannover angemeldet; das OAZ gehört zur Henrietten-Stiftung und befindet sich zusammen mit dem Krankenhaus im gleichen Gebäudekomplex an der Marienstraße. Man lächelte vielsagend, als ich Dr. Detlefsen als meinen bisherigen Hämatologen angab. Mein neuer Facharzt, Dr. Michaelis, schrieb mich für vier Wochen krank. 


Hier und Jetzt

Die deutschen Patienten haben es nicht leicht mit ihren Ärzten, dachte Lulan entrüstet und schob noch ein paar Plattitüden nach:

Holländische Ärzte sind durchweg anders. Skandinavische auch. Mehr auf Augenhöhe, kein bischen von-oben-herab!

Verallgemeinerungen - allen voran nationale Vergleiche - sind grobgeratene Varianten des Trennungsprinzips. In ihrer Pauschalität können sie gelegentlich extrem ausfallen, dann eignen sie sich als Rohstoff für Kalauer. Kommt ein Mann zum Arzt ist ein klassischer Dauerbrenner wie auch Unterarten des Dreiländerwitzes: Ein deutscher, ein russischer und ein britischer Arzt treffen sich in einer Badeanstalt ... .

Letztendlich ist es die Geisteshaltung, die Attitüde, die die Tradition hierarchischer Beziehungen nährt. Standesdünkel sind langlebig und hartnäckig; erfreulicherweise gibt es zunehmend Ärzte, die bescheidener auftreten, sich als Dienstleister verstehen und ihren Patienten »von Mensch zu Mensch« begegnen. Dies sind Ärzte ohne Grenzen im übertragenen Sinne.

Die meisten Patienten schlucken brav ihre Medikamente, die ihnen selbst für kleinste Wehwehchen angeboten werden. Auch lesen sie die kleinbedruckten, postergroßen Beipackzettel nicht - die komplizierten Fachinformationen überfordern sie. Einige Hausärzte scheinen sie auch nicht zu lesen, denn sonst würden sie ihren Patienten nicht Präparate verschreiben, die sehr häufig nicht kombinierbar sind oder sich sogar negativ auf die eigentliche Grunderkrankung auswirken können.

Welchen Eindruck hinterlassen Durchschnittspatienten bei ihren Ärzten? Der mündigere Patient des 21. Jahrhunderts ist frecher als sein unterwürfiger Vorgänger, vor allem jammert er mehr. Dieser Patiententyp bedient das klassische Verhältnis von Angebot und Nachfrage, bei dem der Hausarzt als Vermittler der Pharmaindustrie auftritt. Der Patient sorgt für die notwendige Nachfrage, wenn er mit jedem Wehwehchen zum Hausarzt läuft; er verlangt sofortige Abhilfe, wenn der Blutdruck ein wenig erhöht ist und kommt klagend zurück, wenn er sich bei niedrigem Blutdruck „richtig schlapp" fühlt. Es gibt sowohl für als auch gegen alles ein Mittel. Man geht zum Arzt und jammert, mal »hat man Rücken«, mal was am Bein. Der Satz Hauptsache, ich werde geholfen, Herr Doktor! aus dem Programm des Arztes und Kabarettisten Ludger Stratmann beschreibt dieses Patientenklischee mit genüsslicher Treffsicherheit.

Bedauerlicherweise stoßen mündige Patienten bei manchen Medizinern nicht gerade auf Gegenliebe. Die Körperperson Lulan war in jeder Hinsicht ein Ausnahmepatient. Er ließ sich so selten bei seinen behandelnden Ärzten blicken, dass ihn der eine oder andere aufforderte häufiger vorbeizuschauen; wenn er dann zur Untersuchung oder Behandlung erschien, konnte es vorkommen, dass sein ausgeprägter Selbstbestimmungswille »eine Welle« verursachte. Lulan verstand nicht, warum einige Doktoren beleidigt oder aggressiv auf seine Entscheidungen reagierten.

Für PMF-Patienten ist die Reduzierung der Transfusionen ein vorrangiges Ziel. Mit jeder Erythrozytentransfusion nimmt die Konzentration von Eisenverbindungen im Körper zu. Das aufgenommene Eisen kann im Stoffwechsel in die molekulare Transportform Transferrin überführt oder in verschiedenen Geweben beziehungsweise Organen als Ferritin gespeichert werden. Der Normwert für das Speichermolekül Ferritin liegt zwischen 60 und 180 µg/l. Lulans Ferritin-Wert lag nach neun Transfusionen bei 1500 µg/l, und sein Körper begann unangenehme Warnsignale abzugeben. Selbst bei leichtesten körperlichen Anstrengungen raste sein Herz wie wild, dazu kamen heftige Extrasystolen, dumpfe Schläge gegen die innere Brust. Er versuchte den zeitlichen Abstand zwischen den Transfusionen zu vergrößern, was ihm auch zu gelingen schien. Von dreiwöchigen Transfusionsintervallen im ersten Halbjahr des Jahres 2017 hatten sich die Abstände innerhalb eines Jahres auf drei Monate verlängert. Das entsprach relativ genau der Lebensdauer einer Erythrozytenzelle.

Regelmäßige Blutuntersuchungen sind bei vielen Erkrankungen ohne Frage unerlässlich. Patienten, deren Körper zu wenig Blut produzieren, stehen in dieser Situation vor einem Dilemma – sie müssen für die Untersuchung etwas abgeben, woran es ihnen dauerhaft mangelt: Blut.

Lulan ergriff eine gewisse Unruhe, wenn die Medizinisch-Technische Assistentin (MTA) zur Blutabnahme mit einem Tablett voller Entnahmeröhrchen vor ihm stand. Zwei bis drei kleine Probenröhrchen konnte er erfahrungsgemäß gut verkraften, obwohl er am liebsten jeden Tropfen für sich behalten hätte. Für das große Blutbild hatten die MTAs jedoch sieben Röhrchen auf ihr Tablett gepackt, davon hatten einige fast das Volumen eines Reagenzglases. Allein der Anblick trieb Lulan den Schweiß ins Gesicht.

Irgendwann stellte er die Frage, ob man nicht auf zwei oder drei Röhrchen verzichten könne. Nein, das sei leider nicht möglich, erklärte man ihm, jedes Probenröhrchen würde gebraucht; die Entnahmemenge sei aber zu gering, um körperliche Beeinträchtigungen zu verursachen. Lulan musste sich zurückhalten, als er diese Erklärung hörte; man versuchte ganz offensichtlich ihm eine Art Propagandalüge aufzutischen. Nach sieben Röhrchen Blutentnahme brauchte er zwei, manchmal drei Tage, bis sich sein Körper wieder stabilisiert hatte. Seine subjektive Befindlichkeit war das Resultat seiner Gedanken, und was er empfand, war für ihn wahr. 


17.10.2017
Hannover

Um zu entscheiden, ob ein PMF-Patient eine Transfusion benötigt, müsste nur ein Blutwert bestimmt werden, nämlich der Hb-Wert. Dafür reichen ein paar Tropfen Blut, die man mittels einer kapillaren Blutentnahme erhalten kann. Ein kurzer Nadelstich in die Fingerkuppe genügt.

Wenn eine geringere Menge Blut für therapeutische oder diagnostische Entscheidungen ausreicht, was wird dann mit dem restlichen Blut gemacht, mit den Proben, die täglich tausenden von Körperpersonen entnommen werden? Fünf bis sieben große Probenröhrchen, das sind maximal rund 70 ml Blut, das Daten liefert, hauptsächlich Enzymparameter, die sich sich hinter Abkürzungen wie HCT, RDW-SD, NRBC, EO, BASO und IG verbergen; auch die im Blut vorhandenen Zellen werden erfasst. Da die verschiedenen Enzyme und Zelltypen mittels unterschiedlicher Laborverfahren isoliert werden, scheint der Einsatz von sieben Entnahmeröhrchen durchaus berechtigt. Zweifellos brauchen Fachärzte diese Daten, um den Krankheitsverlauf im Auge behalten und analysieren zu können. Aber brauchen sie alle Daten? Vierteljährlich?

Es kam der Tag, an dem ich die Blutabnahme verweigerte. Bei der ersten Verweigerung ging man noch höflich auf mich ein. Die nächste Verweigerung gestaltete sich bereits weniger harmonisch. Sie löste ein mittleres Drama aus, das man prima für eine Klinik-Soap-Serie verwenden könnte. Viele MTAs sind noch jung, einige zudem unsicher, weshalb ich versuchte meiner Weigerung eine beiläufige, mehr spielerische Note zu geben. Die MTA konnte schließlich nichts für die Irrwege der medizinischen Bürokratie.

„Oha! Sieben Röhrchen!", begann ich in einem luftigen Tonfall. „Wollen Sie die alle mit meinem wenigen Blut füllen?"

„Ja, die brauche ich alle", antwortete die MTA.

„Bitte nehmen Sie es nicht persönlich, ich möchte das nicht. Ich versuche solange es geht transfusionsfrei zu bleiben. Sieben Röhrchen sind mir einfach zu viel."

„Das geht aber nicht", meinte die MTA. „Wir müssen das alles haben!"

Ich blieb locker Ton, aber hart in der Sache: „Doch, doch, das geht sicherlich! Denn ich gebe ihnen keine sieben Röhrchen!"

„Dann muss der Arzt das entscheiden!", sagte sie aufgebracht und verschwand wieder im Labor. Es klang wie eine Drohung, nicht unberechtigt, wie sich einige Minuten später herausstellte.

Die Körperperson namens Dr. Michaelis war ein schlacksiger, jungenhafter Leptosom, der auf den drei Etagen des OAZ stets im Laufschritt unterwegs war. Er lief im Eilschritt durch die Flure, wobei er seinen Oberkörper leicht vornübergebeugt hielt, als ginge es ihm noch nicht schnell genug. Im Treppenhaus nahm er mindestens zwei Stufen zugleich, auch hier folgten die Beine dem Torso.

„Bin gleich bei ihnen!", rief er freundlich, wenn er am Wartezimmer vorbeirauschte.

Nun saß ich vor ihm in seinem Arztzimmer, nachdem ich der Laborassistentin mein Blut verweigert hatte. Dr. Michaelis schien die Angelegenheit als persönlichen Affront aufzufassen.

„Tja, Sie wollen also nicht, dass wir das große Blutbild für Sie machen. Sind Sie denn damit einverstanden, wenn wir Ihnen drei Röhrchen abnehmen?", fragte er spitz.

„Ja, drei sind in Ordnung", erwiderte ich erleichtert und fragte mich, warum der Arzt eigentlich ungehalten reagierte. Es konnte ihm schließlich einerlei sein, es ging um meinen Körper!

Dann beging ich einen Fehler. Ich äußerte Kritik am Blutentnahmeverfahren: „Die Blutwerte, die bei einer großen Entnahme bestimmt werden - sind das nicht rein statistische Werte? Das wird in eine Datei eingetragen, und das war es dann damit. Ich meine, wenn bestimmte Werte dringend benötigt werden, könnte man doch einfach gezielt und schonender dafür Blut abnehmen!"

Diese Kommentare gefielen Dr. Michaelis nicht, jetzt wurde er böse: „Die teuren Medikamente, die Sie bekommen – das alles muss ich verantworten können. Darüber bin ich Rechenschaft schuldig, und dafür brauchen wir Ihre Blutwerte."

Obwohl ich ihm seine Rechtfertigung nicht abnahm, ärgerte ich mich über mein loses Mundwerk. Bei Ärzten muss man vorsichtig sein, ermahnte mich meine blinde Krähe. Wach muss man sein und zurückhaltend! Besser, man sagt zu wenig als zu viel.

Ich hielt meinen Mund und dachte an die Schilderungen meines ehemaligen Doktoranden Mario, der für einen der weltweit führenden Pharmakonzerne arbeitete. Täglich würden millionenfach Blutproben entnommen, hatte Maro berichtet, damit könne viel Geld verdient werden. Die Blutprobenauswertung sei ein sehr profitabler Markt. Seine Firma baute vollautomatische Analysegeräte, große Analysestraßen seien das, da kämen täglich tausende von Blutproben hinein, und am Ende die fertigen Blutwerte heraus, optional sogar inklusive der DNA-Sequenzen.

Ich musste an mein Erlebnis in der Klinik der MHH denken. Man verweigert Menschen, die Blut benötigen, Transfusionen, weil sie der Einrichtung Geld kosten. Dafür nimmt man ihnen zuviel Blut ab, weil die Analyselabore mit größeren Probemengen mehr Geld verdienen können.

„Das ist skandalös!", empörte sich Cora, was in dieser Entschiedenheit eher selten vorkam. „Geld regiert die Welt, wo man auch hinschaut! Aber es hilft ja keinem, deswegen wütend zu reagieren. Es wäre nutzlos, sich aufzuregen, man schadet nur sich selbst mit seiner Wut."

Wie recht sie hatte! Und wem sagte sie das? 


2017
23 Dark was the Night
21 Rette uns, Maria Montessori!
 

Comments ()

  • No comments made yet. Be the first to submit a comment

Leave a comment