***
Sei du Selbst!
Werde zum neutralen Beobachter der Geschehnisse!
Der stille Zeuge erwartet nichts,
er urteilt oder bewertet nicht,
er kennt weder Vorlieben noch Abneigungen.
Die Emotionen des Egos lassen ihn unberührt.
Dies ist eine Funktion deiner wahren Identität.
***
Hier und Jetzt
Lulan interessierte die medizinische Seite „seiner" Krankheit nicht besonders. Er sah Dr. Detlefsen alle zwei bis drei Monate. Es brauchte eine Weile bis die emotionale Schwere der fatalen Diagnose sein Ego-Bewusstsein durchdrungen hatte. Zu Beginn tat er sie als Irrtum ab. Es könne ja eine Verwechslung vorliegen, vielleicht wurden die Blutproben vertauscht.
Eigentlich habe ich ja gar keine Beschwerden, dachte Lulan. Nichts! Zumindest fühle ich nichts. Mir geht es wie immer!
Der mentale Verarbeitungsprozess nahm zögernd Fahrt auf und kündigte eine radikale Veränderung an. Die Unabänderlichkeit seiner Situation drang zu Lulan durch. Es gab nichts, was er hätte ausrichten können, er war machtlos. Nach der Ohnmacht kam die Wut. Auf den Schock, den das Erkennen der Unentrinnbarkeit auslöst, reagierte sein Ego abwechselnd mit kurzen, heftigen Panikattacken und zornigen Kampfansagen. Es musste doch einen Weg geben dem diagnostizierten Ende zu entgehen. Aber es kam nichts in Sicht.
Als Lulan beschloss täglich Rad zu fahren, hoffte er, der Körper würde durch sportliche Aktivität an der frischen Luft wieder ins Lot kommen. Er schaffte sich ein neues Fahrrad an, ein leichtes Modell mit Trommelbremsen. Es kostete 1159 Euro. Damit jagte er jeden Nachmittag einmal um den Maschsee herum. Dr. Kimble auf der Flucht. Der äonenalte Impuls einer Bedrohung davonzulaufen. Doch kein Mensch kann sich dem Schicksal durch Flucht entziehen; die Außenwelt bietet kein Entrinnen. Lulan richtete seinen Blick nach innen und begann zu meditieren. Die sofortige wohltuende Wirkung interpretierte er als Signal. Dies war der richtige Weg! Lulan entschloss sich aus dem Bauch heraus nur noch zu meditieren; er wollte nichts anderes mehr tun oder machen.
Der erleuchtete Tabakhändlers Nisargadatta Maharaj hat der Menschheit Empfehlungen für die Meditation hinterlassen. Nisargadatta lehrt, den Körper und die Gedanken komplett zu ignorieren. Im Falle einer lebensbedrohenden Krankheit ist das Negieren des Körpers kontraintuitiv. Das Ego beschäftigt sich geradezu manisch mit körperlichen Befindlichkeiten. Es möchte den Leib, der es glaubt zu sein, umsorgen und schützen. Bedrohungen von »außen« werden so gut es geht abgewehrt. Das Ego selbst, der Verursacher von Krankheiten, glaubt für die Heilung des Körpers verantwortlich und zuständig zu sein. Den Körper durch Meditation vollständig zu negieren unterläuft diese Bemühungen des Egos, so entsteht zunächst Angst, denn die wahnhafte Identität des Egos wird hierdurch rigoros infrage gestellt.
Die Erkenntnis kein Körper zu sein war die erste Realisierungsstufe, die Lulan erreichte. Er stellte sich Tag für Tag ein ganzes Jahr lang die stets gleiche Frage. Wer bin ich? Was bin ich?
Auf diese unablässig gestellte Frage versucht der Gefragte eine der Wahrheit entsprechende Antwort zu finden. Der Ego-Geist unterbricht seinen ununterbrochen fließenden Gedankenstrom und sucht nach einer sinnvollen Erwiderung. Entscheidend für den Erfolg ist, dass der Satz Wer bin ich? - diese ursprünglichste Sinnfrage des Menschen, aufrichtig geäußert wird.
Je eindringlicher Lulan die Frage stellte, desto konzentrierter suchte sein Geist nach einer Lösung. Zu Beginn konnte er nichts finden, keinen Anhaltspunkt. Wenn er um sich sah, war da nichts außer dem grenzenlosen, dunklen Raum, der ihn umgab und gleichzeitig erfüllte. So entdeckte Lulan die Leere, und kurz darauf, dass sie nur scheinbar leer war. Denn sie enthielt Alles. Er fand in der dunklen Weite Antworten, die nicht von ihm selbst stammen konnten. Lulans lärmender Geist wurde still und andächtig. Er hatte den unbegrenzten Raum des universellen Bewusstseins betreten.
28.10.2016
Hannover
Wann habe ich zuletzt regelmäßig meditiert? Es muss 2011 gewesen sein, in Siegen. Danach, in Hannover, habe ich irgendwann damit aufgehört. Ich meditiere jetzt wieder täglich und mache meine Qi Gong-Übungen. Trotz der langen Pause ist die Verbindung mit der Quelle sofort hergestellt, frisch, aber vertraut, als wäre seit dem letzten Mal keine Zeit vergangen. Schon die ersten Meditationen wirken beruhigend, wie ein krampflösendes Mittel, das direkt nach der Einnahme Erleichterung verschafft.
Ab morgen werde ich nur noch meditieren. Zurzeit schaffe ich 20 bis 40 Minuten, dann schweifen meine Gedanken ab. Über den ganzen Tag verteilt sind das viele kurze Meditationen. Ich will versuchen den Zustand der permanenten Meditation zu erreichen. Ich schaffe das.
Meine Gitarren sind eingepackt und das E-Piano abgedeckt. Ich werde alle Freizeitaktivitäten und Hobbies ruhen lassen. Die Musikinstrumente, die Bücher und Bildbände – die Utensilien, die in fast jeder Ecke der Wohnung herumliegen – sie sind mir keine Hilfe. Sie sind nutzlos, denn sie verschafften nichts weiter als Ablenkung, und Ablenkung ist das Letzte, das ich gebrauchen kann. Ich suche das genaue Gegenteil von Ablenkung, nämlich die zielgerichtete Konzentration auf ein akutes Problem: die ernst zu nehmende Erkrankung meines Körpers.
Die Arbeit, mein Unterricht, neben Physik und Chemie hauptsächlich Biologie, muss bis zu den Weihnachtsferien nebenherlaufen. Wird wohl gehen, ich kenne die Themen auswendig.
Heute Morgen hatte ich die 7B, »meine« Kinder, die sich rührend bemühen leise zu sein und fokussiert zu arbeiten. Ich hatte geplant, ihnen die Grundlagen von MS Excel beizubringen und teile sie in Zweiergruppen ein; jede Zweiergruppe erhält einen Laptop. Sicherlich eine sportliche Herausforderung; theoretisch sollte alles reibungslos klappen.
Die Klasse wird schnell laut. Ich ermahne sie zur Ruhe. Keine Chance, die Magie der Computer ist stärker, sie können sich nicht beherrschen. Wie ein Jongleur im Zirkus, der simultan 20 rotierende Teller auf dünnen Stäben in Bewegung hält, springe ich von Zweiergruppe zu Zweiergruppe, um sie von ihrer spontanen Herumklickerei auf alle verfügbaren Schaltflächen und App-Symbole abzuhalten. Nach einer Weile werden es zu viele Teller, die ich in der Luft halten muss, ich verliere die Kontrolle. Dann platzt mir der Kragen. Ich werde sauer und blaffe sie böse an.
Ich: „Laura und Grethe! Es reicht jetzt! Ihr arbeitet jetzt im Flur in euren Bio-Büchern weiter!"
Greta (beim Hinausgehen): „Ich heiße Greta!"
Ich: „Mir ist es egal, ob du Grethe oder Greta heißt, ich habe genug von euch!"
Ich weiß zwar, dass es in Ordnung ist Grenzen aufzuzeigen, und es ist auch okay im Ton mal lauter zu werden. Doch dieses Mal war mein Verhalten ganz und gar nicht akzeptabel. Nach dem Vorfall fühle mich direkt schwach und sehe blass aus. Mir tun die Mädchen leid, mittags entschuldige ich mich bei Laura und Greta.
Am Abend (Freitagabend) kommt die Angst vor der Nacht. Ich kenne das seit meiner Kindheit. Die Angst kommt mittlerweile wie ein bekannter Gast. In der Nacht ist alles anders, die Vernunft zieht sich vorsichtig zurück, macht bizzarren Fantasien Platz, der sichere Halt der Tagesgeschäfte geht verloren. Dazu kommen die üblichen körperlichen Qualen, jeden Abend, besonders beim Fernsehen vor dem Schlafengehen beginnen meine Beine unruhig zu zucken. Restless Legs. Ich mache eine interessante Beobachtung: Sobald ich im Bett die Augen schließe, beginnen auf meiner Haut die Nadelstiche, öffne ich die Augen, hören sie sofort wieder auf. Ich wiederhole das mehrmals, der Effekt bleibt. Wie um Himmels willen ist das möglich?
Hier und Jetzt
Das intuitive Bedürfnis, jegliche Aktivität zugunsten der Meditation ruhen zu lassen, schloss noch ein weiteres Verhaltensmuster mit ein. Lulan beschloss, ab sofort nicht mehr zu rauchen und keinen Alkohol mehr zu trinken. Er meinte, dass dieser Schritt vor allem von Medizinern enthusiastischen Zuspruch erhalten müsste. Seine Ärzte reagierten jedoch mit zurückhaltender Zustimmung auf sein Vorhaben. Es sei eine gute Idee den Nikotinabusus einzustellen, dieser stehe jedoch in keiner ursächlichen Beziehung zur Grunderkrankung seines Körpers. Diese Sichtweise beschränkt das Prinzip von Ursache und Wirkung auf die physische Ebene der Körperperson. In einem spirituellen, ganzheitlichen Bezugsrahmen war Lulans Konsum von Rausch- und Genussmitteln ein zentraler, eng vernetzter Persönlichkeitsfaktor, der den Verlauf seines Lebenswegs entscheidend beeinflusste.
Zwar hatten die Meditationen einen stabilisierenden Effekt auf seine allgemeine Verfassung, aber zwischen den Meditationen, hauptsächlich nachts, fantasierte sich Lulan angst- und sorgenvoll durch alle denkbaren Szenarien, die ihm durch die Erkrankung seines Körpers zukünftig bevorstehen könnten.
Es gab keine medizinische Therapie, die PMF heilen konnte; eine Stammzellentransplantation lehnte er nach wie vor strikt ab. Dennoch hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass »seine« Krankheit heilbar war. Um diese Heilung zu verwirklichen, hatte er Hilfe nötig.
29.10.2016
Hannover
Es gibt jetzt nur noch die Meditationen und die Zeiten zwischen zwei Meditationen. Ich versuche konstant in der Meditation zu bleiben, aber die Momente der Ablenkung sind zu viele und dauern zu lange.
Alles lassen, alles ruhen lassen! Jetzt kann ich mich voll und ganz auf die Meditationen konzentrieren. Da ist etwas, das auf mich wartet; ich weiß, dass diese Richtung stimmt. Was die Vorgehensweise beim Meditieren betrifft, folge ich den Anleitungen des Buches I am That von Nisargadatta Maharaj und seit 2009 auch der sogenannten Selbsterforschungsmethode (Self Inquiry Method) des erleuchteten Gurus Sri Ramana Maharshi (1897 - 1950).
Ich habe jetzt auch die Upanishaden gelesen und die Bhagavad Gita, beides sind historische Quellen, in deren Licht man die Lehren von Nisargadatta Maharaj und Ramana Maharshi begreifen kann. Wie die Lehre Nisargadattas sind auch die spirituellen Texte Ramanas bestechend in ihrer unkomplizierten Direktheit. Sie enthalten ein reines Extrakt des universellen Bewusstseins und sind absolut widerspruchsfrei und unzweideutig, sowohl in sich selbst als auch im Vergleich mit anderen primären spirituellen Quellen.
Der direkte inhaltliche Vergleich der beiden Lehren bietet interessante Gesichtspunkte, die gerade durch geringfügig unterschiedliche Blickwinkel oder sprachliche Besonderheiten zu Tage treten. Einige der Dialogantworten Nisargadattas verstand ich erst, als ich die Texte Ramanas gelesen hatte (und auch andersherum).
Es geht mir nicht um religiöse Vorschriften, Regeln oder Glaubenssätze. Mich interessieren die authentischen mystischen Erfahrungen derer, die ihren Weg unabhängig von Religion und Ideologie gingen. Sie sind überall zu finden, in den Lehren des Buddhismus, des Neuen Testaments oder den Bezeugungen der Mystiker aller großen Religionen: Konfuzius, Christus, die Philokalia und die Wüstenväter, Meister Eckhart, Shankara, David von Augsburg, Rūmī (Maulawī), Hildegard von Bingen, Jakob Böhme, Fénélon, Ramakrishna oder Vivekananda.
Sie alle bezeugen die Offenbarungen der einen Quelle, unabhängig ihres ethnischen, sozialen oder religiösen Hintergrunds. Auch die Botschaften, die ich selbst erhalte, seit ich mich bewusst erinnern kann, decken sich widerspruchsfrei mit denen, die ich in der Literatur finden konnte.
27.12.2016
Hannover
Das habe ich jetzt, eine Proliferative Myelofibrose oder auch Myeloproliferative Neoplasie oder auch Primäre Myelofibrose. Doch das ist genau genommen nicht richtig, denn nicht ich habe diese Krankheit, sondern mein Körper scheint sie zu haben.
Habe zu wenig Blut. Bin schwach und krank und sage Carola, Carsten und den Kindern den gemeinsamen Weihnachtsurlaub ab. Zu sechst in einem 10-Personen-Aktivitätshaus mit Schwimmbad in Jütland. Cora und ich hatten es im Sommer gebucht.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich körperlich nicht in der Lage wäre nach Dänemark zu fahren. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, einen Tisch mit Menschen zu teilen, die sich auf ein paar Tage Spaß und Entspannung freuen und die an den Abenden das Bedürfnis haben werden, das Leben bei einer Runde Dopfelkopf zu genießen, rauchend, trinkend, lachend, wenn witzige Small-Talk-Geschichten die Runde machen.
28.12.2016
Hannover
Botschaft
Innerhalb gewisser Grenzen, die du selbst bestimmst, geschieht im Prinzip nur dein Wille.
Es existiert nur das, was du dir denkst, wünscht oder möchtest. Wenn du dich mit mir verbindest und dir vorstellst, dass sich der Energiefluss in deinen basalen Chakren erhöht und in deine Beine ausstrahlt, passiert genau das. Die Energie folgt stets den Gedanken.
Wenn du dich auf eine Frage konzentrierst und mich um eine Antwort bittest, erhältst du sie. Auf jede deiner Fragen hast du eine Antwort erhalten.
Du hast gelernt, was Heilung bedeutet, und dass deine Heilung gleichzeitig deine vollkommene Erlösung beinhaltet. Nun wirst du lernen, dass in diesem Heilungsprozess eine Rangfolge bestimmter Schritte erforderlich ist. Der letzte Schritt kann nicht vor dem ersten Schritt erfolgen.
Ein verwirrter Geist kann erst dann erlöst werden, wenn er erkennt, was ihn gefangen hält [1].
[1] 12.07.2017: Ich lese heute diese Zeilen zum ersten Mal wieder, nachdem ich sie vor einem halben Jahr aufgeschrieben habe. Ich bin überrascht wie schnell ich diese Worte vergessen konnte. Mein Gott, ich fürchte mich vor dieser Art Vergesslichkeit!
Hier und Jetzt
Aus einem ihm unerfindlichen Grund geriet die Botschaft, die Lulan kurz nach Weihnachten 2016 erhielt, in Vergessenheit. Das Vergessen erfolgte nicht allein auffallend schnell (von einem Tag auf den nächsten), die Transmission verschwand restlos aus seinem Bewusstsein, ohne auch nur eine leiseste Spur zu hinterlassen.
Erst ein halbes Jahr später entdeckte er die Botschaft in seinem digitalen Tagebuch erneut - und drückte in einer Fußnote sein Erstaunen über die Deutlichkeit der Nachricht aus; insbesondere ihre inhaltliche Nuancierung schien ihm bemerkenswert. Dann er vergaß die Mitteilung schon bald nach ihrer Wiederentdeckung abermals, und wiederum so vollständig, als hätte er sie nie vernommen.
Der Inhalt der Nachricht ließ ihn wissen, dass das Wunder der wahren Heilung erst erfolgen könne, wenn die Ursachen der Erkrankung erkannt und die Fehler des Verursachers berichtigt worden seien. Doch auch das wiederholte Vergessen der Mitteilung enthielt eine Botschaft, die Lulan zunehmend beschäftigte. Diese extreme Vergesslichkeit, woher kam sie? Welche Verhaltensmuster konnten diesen ungewöhnlichen Gedächtnisverlust bewirken? Dies herauszufinden war Lulans Lektion während der elften Phase seiner Entwicklung.
Doch wenige Wochen nach Weihnachten wendete sich das Blatt. Die Peinigungen waren höllisch, sie kamen jede Nacht und ergriffen Besitz von Körper und Geist, ließen seine Arme und Beine qualvoll zucken, wälzten ihn hin und her und stachen seine Haut mit heißen Nadeln. Lulan lief durch das dunkle Tal der Todesschatten und wollte sterben.
Ich halte es nicht mehr aus, dachte sein Ego, während er es weiterhin aushielt.
Ich kann keinen klaren Gedanke mehr fassen, dachten seine Gedanken. Es gibt keinen Ausweg mehr! Du stirbst sowieso!
Endlose Qualen, Nacht für Nacht. Bananen essen, kalt duschen, eine Zigarette rauchen (Vielleicht hilft es!) - nichts half.
Indem er litt, lernte Lulan, dass Leiden Folgeerscheinungen von Gedanken sind. Der Zusammenhang war unmissverständlich, hyperreal. Er erlebte, wie die unkontrollierte Dominanz des Egos zielstrebig in den Untergang führte.
28.01.2017
Hannover
Warum ist mein Körper an PMF erkrankt?
Ebene 1, aus medizinischer Sicht
Mutation durch Chemotherapie
Die Erkrankung könnte 1994 durch eine Chemothreapie ausgelöst worden sein; hierdurch wurde in den Stammzellen des Knochenmarks eine Mutation mit Langzeitfolgen verursacht. Auch der zeitliche Rahmen spricht für diese Vermutung.
Ebene 2, aus psychoanalytischer Sicht
Krankheit durch Stress
Ich war über einen langen Zeitraum unzufrieden mit meiner Arbeit. Die Arbeit war reiner Stress. Ich arbeitete viel zu viel und ich trank und rauchte zu viel. Ich war wütend auf mich selbst, angewidert von meinen Suchtgewohnheiten, überhaupt von meinen Gewohnheiten. Ich war unzufrieden mit meinem Leben. Unzufriedenheit, Stress - so konnte es nicht weitergehen! Krankheit bietet einen Ausweg, sie hilft Verirrten zurück auf den richtigen Weg.
Ebene 3, aus geistig-spiritueller Sicht
Krankheit als Folge einer bewussten oder unbewussten Entscheidung
Jede Krankheit ist eine Folge deiner Gedanken.
Was du erlebst, kann nur stattfinden,
weil du es zulässt.
Jegliche Ursache von Krankheit und Leid entsteht auf der geistig-spirituellen Ebene. Ich muss das so absolut formulieren, denn ich habe diese kausale Beziehung 2009 »gesehen«, nachdem ich mir beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten hatte. Die Vision war hyperreal.
Wenn ich mich an einem Samstagvormittag in der Einkaufszone auf eine Obstkiste stellte und verkündete, dass wir uns die Krankheiten, die uns heimsuchen, selbst gewünscht hätten, würde man mir im günstigsten Fall raten, mich erstmal zu setzen und ein Glas Wasser zu trinken. Der Notarzt sei unterwegs und müsse jeden Moment eintreffen. Man wünscht sich gute Besserung und dass man gesund bleiben möge, aber doch wohl kaum krank zu werden!
Die meisten Menschen registrieren ihre Krankheitswünsche nicht, denn diese Entscheidungsprozesse verlaufen sehr subtil im Unterbewusstsein. Ein Krankheitswunsch wird nicht erkennbar formuliert, sondern indirekt verklausuliert; er wird eher als Emotion ausgedrückt, denn als expliziter Gedanke. Gelegentlich finden Krankheitswünsche bewusst statt, wie beispielsweise am vergangenen Wochenende.
Der Samstag ging mal eben für Korrekturen von Klassenarbeiten für die anstehenden Zeugniskonferenzen drauf. Die Arbeit nahm kein Ende und fraß an meinen Reserven.
Meine Blutwerte reichen nicht mehr für solche Anstrengungen, rief mein Ego.
Frustration, ich war wütend. Bei der Kaffeemaschine hörte ich mich tief seufzen, zeitgleich blitzte ein ultraflüchtiger Gedanke auf, den ich gerade noch bemerkte, bevor er unerkannt ins Unterbewusstsein verschwinden konnte:
Wenn ich jetzt eine Erkältung bekäme, läge ich gemütlich im Bett, dann hätte ich den Stress der kommenden Woche nicht.
Aber bedeutet das nicht, dass ich mir auch die Myelofibrose gewünscht habe? Diese Vorstellung kommt mir abwegig vor. Wenn überhaupt, dann unbewusst.
Trotzdem glaube ich an die Gültigkeit meiner Vision. Krankheiten werden durch Gedanken erzeugt.
6:40 Uhr
Bitte
Lass mich meinen Groll im Licht sehen!
Lass mich alles im Licht sehen!
Darum bitte ich!
Und sogleich tritt es ein. Groll gegen Cora während sie Auto fährt. Mein Zorn explodiert scharf und heftig, ich erschrecke mich selbst darüber. Und diese Härte gegen mich selbst, ich will, dass der Wahnsinn aufhört!
In diesem Martyrium kann ich nur mich selbst verletzen. Ich darf die Mittel zur Erlangung der Erlösung nicht einfordern, nicht ungeduldig nach ihnen verlangen. Sie lassen sich niemals herbei befehlen. Ich darf sie mir wünschen und muss zugleich lernen, nichts zu wollen. Obwohl dies klingt wie ein Widerspruch, ist es nichts weiter als die hochkonzentrierte Fokussierung auf ein Ziel.
Ich verstehe, dass der »richtige« Weg zur Heilung führt und die Berichtigung der Krankheitsursachen das Ziel ist. Was für eine wichtige Lektion! Einleuchtend und verständlich - genau darum hatte ich gebeten!
11.02.2017
Hannover
Zweifel. Nagende Fragen. Zweifelnagen.
Kann eine derart schwere Erkrankung des Körpers einzig durch Meditation geheilt werden? Eine Primäre Myelofibrose?
Dann, während einer intensiven Meditation, Verbindung mit der Quelle. »Ich« spüre keinen Körper mehr, es gibt kein Ego mehr. Direkt nach dem Zweifel kommt ein Gefühl großer Gewissheit. Was für ein Gegensatz! Ein Gedanke leuchtet auf wie ein Leitstern:
Heilung findet bereits statt,
Heilung ist jederzeit möglich!
Diese beiden Sätze trösten mich. Helle Zuversicht. Doch schon ein paar Minuten später stellen sich Zweifel ein. Gewissheit worüber? Dass »mein« Körper geheilt wird? Oder dass mein Tröster bis zum Tod des Körpers bei mir ist?
An diesem Wochenende mehren sich Anzeichen von Groll und Aggressionen, die »ich« gegenüber Cora hege. Gleichzeitig schmerzt es mich sie leiden zu sehen; ich liebe sie! Ich liebe sie so sehr, dass es weh tut, sagt das Ego, dessen Liebe typischerweise eine Emotion als Beigeschmack hat. Bittersüße Wehmut.
Während eines Gesprächs mit ihr über meinen spirituellen Weg reagiert mein Ego beleidigt. Cora kann meine Entwicklung nicht verstehen, sie begreift meine permanenten Beteuerungen nicht, dass ich kein Körper sei. Sie findet meine Haltung egoistisch, obwohl mein alleiniges Streben ja gerade auf die Überwindung des Egos abzielt. Es ist putzmunter, dieses Ego, und sieht sich verletzt durch Coras Unverständnis.
Mir ist wichtig, dass sie mich versteht. Wir sind eng verbunden, auf allen Ebenen. Sie wird letztendlich meine spirituelle Entwicklung nachvollziehen, wenn auch auf ihrem eigenen, individuellen Weg.
Die Gedanken des Egos bestimmen meine Reaktionen. Ego-Gedanken, die schnell dominant werden und mit zerstörerischer Entschlossenheit ihre Macht demonstrieren.
Die Zeit reicht nicht aus, es geht alles viel zu langsam. Wie soll ich mein Ziel jemals erreichen?
Ich komme nicht mehr dagegen an! So geht es nicht weiter.
12.02.2017
Hannover
Eine weitere Eskalation! Es ist furchtbar. Heftiger Streit mit Cora. Worüber eigentlich? Dass »ich« ohne Absprache eine Praktikantin angenommen hätte. Dass »ich« krank sei und wie das alles weitergehen solle. Während unserer Zankerei werfe ich unvermittelt wütend die TV-Fernbedienung durch das Zimmer. Sie prallt gegen die Wand und zerfällt in ihre Einzelteile, bleibt aber immerhin unbeschädigt. Der Wahnsinn nimmt ungehindert Fahrt auf. Es überwältigt mich.
Ich will nicht langsam dahinsiechen, hohlwanging und blutleer. Wenn das Ende sowieso feststeht, möchte ich, dass es schnell vorbei ist, kurz und schmerzlos.
13.02.2017
Hannover
»Ich« suche im Internet nach Sterbehilfe in der Schweiz und sehe, dass diese Option für »mich« nicht praktikabel ist. Das Verfahren zieht sich über einige Monate hin und erfordert verschiedene Anträge und Gespräche. Mit einer Schusswaffe könnte ich den Körper schnell töten. Leider besitze ich keine. Alles andere kommt nicht infrage, die meisten Suizidmethoden sind grausam und unappetitlich. Cora leidet mit mir, möchte mir helfen. Sie unterstützt meinen Wunsch einen Abgang zu machen. Oh, Mann! Diese Frau ist stark, einfach stark!
Wir finden heraus, dass Sterbehilfe in den Niederlanden diskreter, schneller und direkter angeboten wird. Dann überlegen wir, welche Kombination von Substanzen in die engere Wahl kommen könnten. Mein Gott, dazu ist wahrhaftig nicht jede Frau in der Lage. Sie liebt mich, und ich liebe sie. Sie steht an meiner Seite, auch in dieser dunkelsten Stunde. Ich rechne es ihr verdammt hoch an!
14.02.2017
Hannover
Heute habe ich keinen Unterricht, fahre mit dem Mazda raus, Richtung Hamburg, wo nördlich von Hannover dünn besiedelte Waldgebiete das Landschaftsbild prägen. Ich fahre durch einsame Alleen und versuche abzuschätzen wie schnell ich auf einem geraden Abschnitt fahren müsste, um den Wagen effektiv gegen einen der dicken Baumstämme zu lenken. Mindestens 140, das müsste reichen, am besten früh morgens, wenn die Straßen noch leer sind.
Am Anfang der Landstraße stehen einzelne Campingwagen, bei manchen ein PKW daneben. Straßenstrich. Ich bin relaxed und aufgeregt zugleich, das Vibrieren einer ungewohnten Faszination. Ich meine es ernst. Todernst. Ich werde es machen, es gibt nichts, was dagegenspricht. Weiterfahren. Ein menschenleeres Waldgebiet, ich biege in einen kleinen Wirtschaftsweg ein und parke am Straßenrand. Ein verlassener Lastwagen steht im dunstigen Licht der Frühjahrssonne am Straßenrand. Bilder, die bei einem bleiben. Ich steige aus und überquere die Straße. Ein altvertrautes Gefühl, als ich den Wald betrete, eine mentale Metamorphose. Die Welt fällt von mir ab, ich werde leicht wie eine Feder. Nach ein paar Schritten verschwindet die Straße, es wird still. Ich gehe mit langsamen Schritten, im Zeitlupentempo, nehme alles um mich herum auf, die Gerüche des Waldes, seine Geräusche. In der Nähe eines Feldrandes sehe ich etwas Dunkles liegen und gehe näher heran. Es ist der abgeschnittene Kopf eines Wildschweins, noch ganz frisch. Ein schöner Kopf - mein Gott, wie groß er ist! Er sticht aus der graubraunen Monotonie des Waldes hervor, surreal, als würde er noch leben. Rings herum liegen seine vier abgeschnittenen Pfoten verstreut.
Es gibt kein Bild ohne tiefere Bedeutung, denke ich. Ein Körper, dem das Leben genommen wurde. Der tintenschwarze Kopf, die helle Zunge, sogar im Tode noch eine unbändige Kraft austrahlend. Der Körper fehlt. Ein Kopf mit Pfoten. Dieses Bild, es ist für mich, der Wald, der Wildschweinkopf – all dies ist in mir. Ich gehe durch meine Innenwelt.
Ein paar Schritte weiter leuchtet ein orangenes Mora-Messer zwischen den Bäumen, zurückgelassen vom Wildschweintöter. Ein weiteres Zeichen, ich stecke es ein, emotionslos, laufe weiter. Ein schnurgerader Waldweg in nördlicher Richtung, darüber ein heller Himmel. Endlose Ferne, der einsame Norden.
Kein Mensch zu sehen. Nach zweihundert Metern eine Lichtung, links ein Hochsitz. Er zieht mich zu sich, ich klettere die Leiter hoch, die Tür ist unverschlossen. Trotz der Februarkühle ist es innen heiß. Fenster ringsum. Die Sitzbank, die Fensterleisten, der fleckige Teppichboden - alles ist übersät mit toten Insekten, nur ein paar Fliegen surren noch träge. Mit letzter Lebenskraft, denke ich. Ich setze mich auf die Bank, lasse die Tür offen. Schließe die Augen und meditiere.
Ich bin, der ich bin, frei und leicht, durch nichts beschwert. Wo ist der Ort, an dem ich Erlösung finden kann? Wohin führt mich mein Herz?
Es beginnt zu regnen, ich kann einzelne Tropfen auf die vertrockneten Blätter des vergangenen Sommers fallen hören. Als der Regen aufhört, dringen Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke, Dampf steigt auf. Dann plötzlich Leben! Ein Blaumeisenpaar flattert vor der offenen Tür von Ast zu Ast. Sie werden bald brüten. Mein Blick folgt ihren Bewegungen, bis ich die Augen schließe und weiter meditiere.
In der dunklen Leere scheint etwas Helles, ich kann es nicht gut erkennen. Wie das Licht am Ende des langen, geraden Waldwegs, wie die Sonnenstrahlen, wie das Meisenpaar. Es leuchtet sehr schwach, ich kann es nicht einordnen.
Meditation, die Zeit vergeht um mich herum. Ab und zu öffne ich die Augen und sehe den Himmel über den Bäumen. Der gleiche Himmel über allem.
Als ich steif vor Kälte die Leiter des Hochsitzes hinabsteige, weiß ich, dass ich zum Auto gehen und nach Hause fahren werde. Ich stelle es neutral fest, empfinde weder Reue noch Erleichterung, und frage mich, ob dieses Ergebnis schon auf der Fahrt hierher feststand.
Falls ja, warum war sie mir nicht bewusst?
Es ist, wie es ist, und ich bin da. Heute, morgen. Immerdar.
(Hintergrund modifiziert nach https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fichtenwald_b.JPG?uselang=de; Urheber: Hajotthu)
16.02.2017
Hannover
Die vergangenen Tage waren heftig, so etwas braucht man nicht allzu oft. Mein Körper lebt, aber ein Teil von mir ist gestorben.
Während der Meditation heute Morgen will ich die Ursachen für meinen krassen Todeswunsch wissen. Ich erhalte die Antwort, dass ich zu schnell zu viel will. Habe wieder mal ohne es zu merken Druck aufgebaut.
„Geniet maar een beetje!", hatte Denise de Haan mir geraten. „Don't rush into things too quickly, Stefan!", hatte Wabun gesagt. Beide hatten einen problematischen Wesenszug von mir erfasst. Ich setze mich andauernd unter Druck.
Ich hatte seit Tagen gehofft am Wochenende den entscheidenden Durchbruch zu erreichen (Druck), die Befreiung vom Ego. Die Krankheit schien progressiv fortzuschreiten, das machte mich unruhig (Druck).
Wer ist es, der unruhig ist und glaubt, dass jedes Problem sofort gelöst werden muss? Die Kontrolle durch das Ego ist nackter Wahnsinn! Man muss es bewusst erlebt haben, um den Irrsinn begreifen zu können.
In der Meditation am Nachmittag gebe ich alle Forderungen, alle Begehren des Egos auf, sogar das Verlangen nach Erlösung.
Du, der Du mich führst, und dem ich vertraue! Entscheide du nur für mich, denn ich weiß nicht nicht mehr, was gut und richtig für mich ist!
Die Reaktiom kommt noch während der Meditation. Eine bleierne Schwere fällt von mir ab, die Brust atmet wieder frei. Ich gleite durch einen Ozean der Ruhe und Gelassenheit. Woher kommt dieser Trost? Und dieser Frieden! Ein alles durchdringender Frieden. Mann!
In der Nacht nehmen die körperlichen Beschwerden unerbittlich zu. Knochenschmerzen, juckende Haut und Nadelstiche. Es ist kaum auszuhalten, treibt mich in den Wahnsinn. Ich stehe auf, um verzweifelt um Hilfe zu bitten - und erhalte sie prompt! Im Schlafanzug am Fenster bei der Heizung sitzend.
Ein Energiestrom rauscht durch meinen gesamten Körper, kraftvoll und dennoch sanft, eine ungewöhnliche Kombination. Am intensivsten fließt die Energie in meinen Kopf, wie eine Spülung, wie eine wohltuende, heiße innere Waschung. Ich kann es mit keinerlei bekannten Körpersensationen vergleichen. Es ist pure Glückseligkeit! Jede Zelle in meinem Körper scheint vor Glück zu jauchzen, wenn der heiße Strom sie erreicht. Eine enorme Anspannung löst sich. Mir fließen die Tränen vor Erleichterung. Diese erlösende Wirkung! Mein Körper wird weich, die Beschwerden verschwinden, und mein Geist singt ein lachendes Mantra als Ausdruck seiner Freude:
I am being purged!
I am being purged!
I am being purged!
Ich kann ohne Probleme einschlafen, erschöpft, aber unsagbar erleichtert. Die Nacht verläuft ruhig. Noch den ganzen nächsten Tag hindurch bin ich beschwingt. Mein Körper hat sich regeneriert und ist superbeweglich. Sogar die Blockade im unteren Rücken ist verschwunden.
19.02.2017
Hannover
Das Drängen ist verschwunden, und auch die Dunkelheit ist gewichen. Die Meditationen nehmen an Intensität zu. Herr im Himmel, was war das für eine seltsame, schmerzvoll-süße Läuterung! (Schmerzvoll für wen? Und wer fand es süß?) Nein, ich bin nicht masochistisch veranlagt, auch wenn es den Anschein hat. Indianer kennen keinen Schmerz.
Die Ego-Gedanken sind verschwunden. In den letzten Tagen konnte ich die Verbindung schneller und leichter herstellen. Alles loslassen, in der erregenden Faszination des Unbekannten versinken, die mir zunehmend natürlicher vorkommt. Es ist wie ein aufregendes Abenteuer, eines, das man seit uralten Zeiten kennt und stets aufs Neue erlebt. Man hat es sich selbst ausgesucht, weil es unglaublich superaffengeil ist. Der Mensch sei der Versuch des Universums, sich selbst zu verstehen, hat mal jemand gesagt. Könnte tatsächlich stimmen.
Heute Morgen konzentrierte ich mich während der Meditation auf den Wunsch in die Höhe zu streben. Sofort erfüllte mich eine Energiewelle. Wer dies nicht selbst erlebt hat, wird nicht nachvollziehen können, was ich meine, und für das, was ich meine, finde ich nur unzureichende Beschreibungen.
Es ist wie alle schönsten Momente, alle Orgasmen, alle Augenblicke ekstatischer Freude, zusammengenommen, dachte ich in dem Moment, bloß dann noch 50-mal stärker. Und dabei ist das Ganze auch noch ein reines Naturprodukt!
Diese Aussage enthält keine Übertreibung und klingt trotzdem behämmert. In Gedanken halte ich den groben Vergleich trotzdem fest, er ist erwähnenswert, obwohl er hinkt. Fest steht jedenfalls, dass auf meinem Rücken in Herzhöhe eine unglaublich angenehme Wärme in alle Richtungen ausstrahlte.
Oh, himmlische Freude, ich bin, ich bin! Ich-bin-unendlich-glücklich!
Gleich nach der Meditation legte ich meine Hand auf Coras Rücken. Sie war perplex, bemerkte sofort die intensive Wärme, die in sie hineinströmte. Diese Energie kann alles heilen, sie muss ein Geschenk Gottes sein. Sie gehört nicht mir, sie wird mir gegeben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!
Trotz allem beginnen jeden Abend vor dem Schlafengehen die üblichen Leiden, das Nagen im Becken und in den Beinen, Nadelstiche an verschiedenen Stellen des Körpers. Allerdings nicht mehr so unerbittlich und langanhaltend wie vor einigen Wochen. Wenn es schlimm wird, bitte ich um Hilfe.
Befreie mich von diesen Qualen, mein Licht! Erlöse mich!
Die Befreiung erfolgt direkt. Ich kann dann die Nacht hindurch ruhig schlafen.
10.03.2017
Hannover
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben! (Johannes 14,6)
Wo stehe ich gerade?
Ich will dich nicht drängen, aber wir müssen unbedingt Fortschritte machen! Du hast kaum noch Zeit, sagt das Ego.
Ich darf nicht zu sehr drängen und unbedingt wollen geht gar nicht; dadurch blockiert der Entwicklungsprozess.
Ich will dieses Auf und Ab nicht mehr, diese Unstetigkeit. Ich will mich konstant weiterentwickeln. Ich möchte ununterbrochen verbunden bleiben.
Wie kann ich das erreichen?
Die Antwort kommt mit der Frage. Es sind Sätze, die ich vor zwei Tagen in den Teachings of Sri Ramana Maharshi gelesen hatte.
Awareness of the Truth is obscured by the limiting ideas of the mind. You are awareness. There is no need to attain or cultivate it. All you have to do is to give up the being aware of other things.
Oh, wie gut ist das denn? So pippileicht, und doch unendlich schwer.
26.03.2017
Hannover
Mit den Kalamitäten, mit dem Elend der vergangenen Wochen, kam nach der Erfahrung der Körperlosigkeit der zweite wichtige Durchbruch. Seit drei Wochen erreiche ich während der Meditation regelmäßig eine Stufe, in dem das Ego nicht oder kaum noch in Erscheinung trat. Dabei reflektiert mein Geist unverändert den gleichen Gedanken:
Ich bin schon erlöst! Ich bin schon befreit!
Ich lese zum zweiten oder dritten Mal in allen drei Büchern (I am That, The Teachings of Ramana Maharshi, Ein Kurs in Wundern).
Die Entwicklung verläuft erfreulich progressiv (weil ich es möchte). Du hast eine neue Stufe erklommen, sagte die Krähe, meine treue Begleiterin.
Sie hatte recht. Der Entwicklungssprung fand in der Tat statt, nachdem ich die Beschreibung von Sri Ramana Maharshis Methode der Selbstbefragung (Self Inquiry) zum dritten Mal gelesen hatte. Das Buch schien Informationen zu enthalten, die ich nicht deuten konnte.
Wie beschreibt Ramana seine Methode?
Was ist das unmittelbare Ziel der Selbstbefragung?
Es geht um das konzentrierte und konsequente Nachfragen und Erforschen der Ego-Gedanken. Ramana nennt es I-thought: I am this or I am that, und er empfiehlt diese Gedanken konsequent zu analysieren. Als ich die Methode - so gut ich sie verstehe - anwende, flackert nach wenigen Meditationen ein Erkennen in mir auf. Es ist die nüchterne Feststellung, dass es kein Ego gibt und auch keinen Ego-Geist. Da ist nichts. Und in dieser Leere, dem Nichts, erscheint im Hintergrund eine Matrix, eine Quelle, aus der Gedanken und Projektionen zu stammen scheinen. Sie kommen aus dem Grau der Formlosigkeit - anfangs noch schemenhaft und dunkel – und nehmen allmählich Gestalt an in einem grenzenlosen Raum, der reine Bewusstseinsessenz enthält.
Zwischen den Meditationen falle ich nach wie vor in alte Gewohnheiten zurück. Vor allem manche Abende sind grauenhaft. Das Ego- wehrt sich, es ist unglaublich subtil und hartnäckig - genau so hartnäckig wie ich es bin.
Es gibt kein Ego im Sinne einer eigenständigen Instanz oder einer bewussten Wesenheit. Es gibt nur Gedanken, die den »eigenen« Körper irrtümlich für eine Person halten, und das Gedankenbewusstsein, mein Ego-Geist, identifiziert sich mit dieser Person und nennt diese Körperperson »Ich«. Das wahre Selbst beginnt erst jenseits dieser Gedanken zu strahlen.
Ich denke, also bin ich, behauptete der Philosoph Descartes.
Werch ein Illtum, fällt mir als Antwort ein, ein Zitat des österreichischen Lyrikers Ernst Jandl, denn Descartes offenbart mit seiner Aussage, dass er das Selbst nicht kannte.
18.04.2017
Hannover
Man hat Angst, dass alles zu viel für mich sei. Ich gehe nicht mit auf Klassenfahrt nach Berlin. Cora bittet mich zu Hause zu bleiben und mich zu schonen. Sie geht ausgesprochen offen und direkt mit der Erkrankung meines Körpers um, und dafür bin ich ihr wirklich dankbar. Verschont mich mit Tabus, ich will keinen einzigen heiklen Punkt ausklammern! Andererseits möchte ich meine Zeit nicht mit Unnötigkeiten verplempern – und genau hierüber scheiden sich unsere Geister.
Denn jetzt bittet mich Co schon zum fünften oder sechsten Mal, meine Beerdigung testamentarisch zu regeln. Ihr Wunsch ist mir eine Spur zu pragmatisch, außerdem ist ein Testament unnötig. Bestattungsrituale sind Angelegenheiten der Hinterbliebenen, nur für sie und nur wegen ihnen finden sie statt. Warum sollte ich über etwas verfügen, was anderen wichtig ist, mir selbst aber nicht? Was mich betrifft, können sie das Ereignis meiner Deinkarnation gestalten, wie es ihnen beliebt. Auch mit der Asche meines Körpers können sie machen, was sie möchten. Ich bin diese Asche nicht.
Am Tag der Beisetzung jedem ein Tika-Zeichen mit meiner Asche auf die Stirn zu malen, das wäre schon in meinem Sinne. Geht aber nicht, weil es einige abschrecken würde (Ist das jetzt Voodoo?) und mit Sicherheit in Deutschland verboten ist. Wenn man die Asche vom zehnten Stock eines Hochhauses hinabrieseln ließe, würde sie sich bestimmt unauffindbar gleichmäßig verteilen (ein interessantes Experiment). Es ist mir piepegal, was mit meiner sterblichen Hülle passiert.
Doch Cora gibt das Thema nicht auf. Welche Musikwünsche ich für „meine" Beerdigung denn hätte, bohrt sie weiter.
„So ein Tag, so wunderschön wie heute", schlage ich vor.
„Na gut", sagt sie, „schreib es auf!"
So sei es dann. Ich werde ein testamentarisches Manuskript verfassen, darin werde ich kundtun, wie mein letzter Wille lautet.
Anlässlich des mit Abstand schönsten Moments im Leben einer Körperperson (denn das ist die Deinkarnation, da bin ich mir sicher) sollten Freude und Heiterkeit vorherrschen. Nicht so übertrieben durchgeknallt wie im Karneval, mehr kontemplativ. Wer unbedingt etwas Karneval möchte, darf sich eine Pappnase aufsetzen. Um sich von konventionellen Bestattungsvorschriften zu befreien, sollen alle Teilnehmer weiße oder helle Kleidung tragen. Auf keinen Fall Trauerredner oder Pastoren! Dafür muss jeder der Anwesenden etwas sagen, und sei es nur ein einziges Wort. Ich will es so, das hat Cora so gewollt. Zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Ansprache(n) sollen drei frei gewählte Passagen aus meinem Manuskripttestament vorgelesen werden, selbst wenn nur zwei Körperpersonen an der Zeremonie teilnehmen sollten.
Die Auswahl geeigneter Musikstücke ist ein ureigenes Vorrecht der Zurückgebliebenen (sic!), hier möchte ich mich nicht einmischen, sondern nur einen Rahmen vorgeben. Während der gesamten Besetzung soll fortwährend die lange, ca. einstündige Version des Kali-Mantras aus meiner Musiksammlung gespielt werden, leise, aber hörbar, als Hintergrundbegleitung. Nur für Rede- und andere Musikbeiträge soll man das Mantra unterbrechen.
Alles, was ich besitze, gehört Cora; es steht ihr frei, was sie damit macht. Die Musiksammlung und meine Bilder sollen jeweils auf Datenträger kopiert werden, für jeden Teilnehmer eine; Interessierte sollen fünf oder mehr Datenträger erhalten, um sie an Dritte weiterzugeben.
Ich denke, das reicht, fehlt noch die Wahl des Ortes. Die Errichtung einer Grabstätte ist vermutlich so alt, wie die Menscheit selbst. Die sich fürchteten in Vergessenheit zu geraten, ließen sich Pyramiden als Grabmale bauen. Die Toten, die ihre Toten begruben, bedurften eines Ortes der Andacht, Ehrfurcht und Besinnung, um ihren Verlust zu verarbeiten.
Da die Option mit der Pyramide entfällt, komme ich nicht umhin, mich auf eine Alternative festzulegen. Vorzugsweise kein Grabmal, am liebsten in der Natur, wo es schön ist. Das Kalletal wäre in Ordnung. Aber ich möchte nichts a priori ausschließen, der Engesohder Friedhof ist auch sehr schön. Falls Fiedhof, dann mit Granitsäule und darin eingehauen eines der berüchtigten letzten Worte eines bekannten Zeitgenossen. Oder von mir selbst, vielleicht findet sich etwas. Nur kein Gesülze.
Ich könnte Cora ganz schön in Bedrängnis bringen, etwa wenn ich mir wünschte, dass die Asche meines Körpers in Dänemark bestattet werden sollte. Das wäre doch eine schöne Sache. Schade, dass ich nicht dabei sein würde.
Ich will lernen die Illusion zu ignorieren und die Wahrheit zu bezeugen.
20.04.2017
Hannover
Direkt nach Ostern nun endlich die Knochenmarkstanze in der MHH. Am Nachmittag darf ich nach Hause. Die gestresste Oberärztin, die beiden fremdländischen Assistenzärzte: Die Ereignisse laufen ab wie die Szenen einer Soap-Serie.
Seht meine Freude und mein Lachen, so wie ich euch mit anderen Augen sehe! Seht mich: Ich bin, der ich bin. Ich atme Licht und bin voller Liebe.
Die bosnische Reinigungsfrau singt mir zum Abschied im langen Krankenhausflur winkend eine Melodie hinterher. Ich drehe mich um und winke zurück, bevor ich die Station verlasse.
24.04.2017
Hannover
Wir waren gestern zu Renates Geburtstag eingeladen. Tante Renate. Sie ist ganz rührend besorgt um mich. Hatte meine Lieblingstorte für mich gebacken. Patentante Edith war auch da. Und Mama, drei Schwestern vereint, ich genieße diese Treffen. Nur Emil fehlt.
Der Schmerz in meinem linken Bein nimmt zu, wenn ich längere Strecken gehe.
30.04.2017
Hannover
Levodopa. Ein Mittel von einem netten Oberarzt gegen meine zuckenden Beine und Arme. Es wirkt tatsächlich gut. Auf einen Schlag ist ein grauenhaftes Leiden vorbei, ein fast lebensbedrohendes Problem wurde behoben. Mit einem simplen Medikament.
Die Erfahrung des Leidens möchte ich behalten, sie gehört »mir«. Ebenso, was ich gelernt habe: Auch qualvolle Leiden sind ohne äußere Mittel überwindbar. Dies will ich behalten!
Ich meditiere nun regelmäßig auf dem Schulhof. Die Meditation war dort heute sehr intensiv. Erst schien die Sonne, dann fegte jählings ein furioser Wind durch die Bäume. In den Ästen um mich herum sangen die Krähen aufgebracht ihr rauhes Lied, es mussten an die 20 sein.
Als ich mich erhob und ein paar Schritte ging, spürte ich den Körper nicht; er war schwerelos. Höchst angenehm. Ein angenehmer Traum, den die weißäugige Krähe träumt. Ich bin frei!
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