Hier und Jetzt
Die dunkle Nacht dauerte vom Februar bis in den Frühsommer 2017 hinein. Wenn Lulan daran zurückdachte, fiel ihm ein Blues-Stück von Blind Willie Johnson ein. Er »hörte« es dann in Gedanken, sein Gehirn spielt ihm den Blues.
Das Stück heißt Dark was the Night, ein wortloser Gesang, andächtig, langsam und einfühlsam, ohne Text und ohne Instrumente. Der Titel des Stückes stammt aus dem ersten Vers der Hymne Gethsemane, die der englische Pfarrer Thomas Haweis 1792 komponiert hat.
Selbst in der schwärzesten Nacht, in den Momenten größter Verzweiflung, herrscht niemals völlig lichtlose Dunkelheit. Irgendwo scheint immer ein Licht, man muss nur die Augen schließen und still werden. Man muss es sehen wollen.
Trotz der insgesamt erfreulichen Entwicklung, fand Lulan, dass es nicht genug sei, alleine vor sich hin zu meditieren. Er wünschte sich Heilung und dachte an Alex Wu und Denise de Haan im Oibibio, die 1994 seinen Körper von Metastasen befreit hatten. Damals hatte Alex von einer Wunderheilung gesprochen, sogar die Landesnachrichten waren an der Geschichte interessiert. Jetzt brauchte Lulan wieder ein Wunder.
Konnte man ein zweites Mal durch ein Wunder geheilt werden? Oder hatte Lulan sein Quantum bereits erhalten und seine Ration an Wunderheilung aufgebraucht?
Wunder gibt es immer wieder, sang Katja Ebstein in den siebziger Jahren. Sie lag richtig. Wunder sind Ausdruck uneingeschränkter Liebe, sie treten stets aufs Neue auf und nutzen nicht ab. Nur wir selbst können ihr Erscheinen verhindern. Auch Lulan zögerte ein weiteres Wunder zuzulassen. Mehr als ein Wunder in Anspruch zu nehmen roch nach Maßlosigkeit. Doch nun hielt er im Internet nach Heilern Ausschau. Die besten, die es gab, wollte er suchen, und mit Denise und Alex würde er beginnen. Außerdem wünschte sich Lulan einen Guru, einen spirituellen Lehrer, der die Befreiung von der Illusion in- und auswendig verstand. Jemand, der ihn lehren konnte Fehler zu vermeiden und ohne Zeitverlust zum Ziel zu kommen. Denn Lulan konnte das Damoklesschwert der Myelofibrose, das über ihm schwebte, nicht ausblenden. Von den fünfzehn Monaten, die ihm laut Dr. Detlefsen noch blieben, waren inzwischen drei verstrichen.
Alex Wu
Anfang Mai 2017 besuchte Lulan Alex Wu in einer ländlichen Gemeinde nahe Arnheim. Seit ihrer letzten Begegnung waren 23 Jahre vergangen. Bis zum Frühjahr 2018 fuhr Lulan dreimal in die Niederlande, um sich von Alex behandeln zu lassen.
Alex Wu verstand es, feinste körperliche Signale seiner Patienten zu lesen. Seine Fähigkeiten als TCM-Heiler verdankte er einer besonderen Gabe. Jedenfalls vermutete Lulan, dass neben physischen Merkmalen auch Informationen aus nicht sichtbaren Körperebenen in seine Diagnosen miteinflossen. Alex »sah« die Energie einzelner Körperorgane mit den Augen des Geistes. Lulan kannte diese Art Hellsichtigkeit von seiner weißäugigen Krähe. Durch die langjährige Erfahrung als Qi Gong-Lehrer war Alex außerdem in der Lage, die Vitalenergie Qi sowohl in als auch zwischen Körpern zu konzentrieren und zu bewegen.
Die Ursprünge der gegenwärtigen Qi Gong-Kultur entstammen jahrhundertealten Kampfsporttechniken, deren Ziel es war, die Energie des Körpers zu maximieren und in bestimmten Körperteilen zu sammeln. Um diese Techniken erfolgreich anwenden zu können, richteten sich viele Übungen auf die Energetisierung der Hände, die als körpereigene Verteidigungs- und Angriffswaffen eingesetzt wurden. Gleichzeitig lehrten die Qi Gong-Meister, Angriff und Aggression zu vermeiden. Die tiefere Philosophie hinter dem disziplinierten körperlichen Qi Gong-Training beinhaltete das Streben nach innerem Frieden und Ausgeglichenheit. Wer seine Mitte finden und in sich ruhen konnte, beherrschte auch sein körperliches Gleichgewicht.
05.05.2017
Didam, Niederlande
Denise de Haan ist anscheinend vom Erdboden verschwunden, aber Alex Wus Aufenthaltsort konnte ich im Internet ausfindig machen. Er wohnt noch in den Niederlanden. In Didam bei Arnheim. Ich habe telefonisch einen Behandlungstermin mit ihm vereinbart.
Alex Wu besitzt besondere Kräfte und Gaben. Ich weiß noch, wie er 1994 während einer Übungsstunde spontan das ungeheure Energiepotential demonstrierte, das durch Qi Gong aufgebaut und genutzt werden kann. Alex bat einen Kursteilnehmer sich hinter den geschlossenen Flügel einer massiven Holztür zu stellen; der zweite Flügel war geöffnet. Alex selbst stand mit uns auf der anderen Seite der Tür. Der Abstand zwischen beiden betrug knapp vier Meter, sie konnten einander nicht sehen. Der junge Mann auf der anderen Seite der Tür hielt außerdem seine Augen geschlossen. Alex nahm die stabile Qi Gong-Grundstellung ein, beugte sich leicht vor und hob die Arme. Er stand vor der Tür, klein und gedrungen, als wolle er ein immens schweres, imaginäres Gewicht verschieben. Durch den geöffneten Türflügel konnten wir beobachten, wie sich der Körper des Kursteilnehmers schwankend zurückneigte bis seine Haltung an den schiefen Turm von Pisa erinnerte. Dann änderte Alex seine Position, aus der schiebenden Stellung wurde eine ziehende. Er zog mit aller Macht. Der Mann auf der anderen Seite wankte ein wenig und begann sich schließlich vornüber zu neigen. Wir applaudierten beeindruckt, die Nummer war zirkusreif.
Cora ist netterweise mitgekommen. Wir haben ein Zimmer in einem Hotel direkt am Rhein gebucht. Am Abend sitzen wir im halbrunden Terassenrestaurant des Hotels. Die großen Fenster geben den Blick auf die verträumte Stille des Flussufers frei. Im Westen geht die Sonne über dem träge fließenden Rhein unter, ihre Strahlen hüllen die Landschaft und das Restaurant in leuchtende Rot- und Orangetöne. Das Restaurant ist bis auf einen weiteren Tisch leer. Eine junge Mutter füttert ihre beiden kleinen Kinder mit Salat und Pommes. Ich halte den Moment mit meiner Handy-Kamera fest.
Am nächsten Morgen habe ich Schwierigkeiten das Haus an der Adresse zu finden, die Alex mir geschickt hatte. Ich übersehe zwischen den Familienhäusern ein größeres Gebäude, eine langgestreckte, leicht gebogene Hausreihe. Es ist ein ehemaliger Seniorenwohnungskomplex, der von der Gemeindeverwaltung aufgegeben wurde. Hier lebt Alex zusammen mit Johanna und Herman, die ich beide auf Anfang 80 schätze. Johanna und Herman sind sehr zuvorkommende Gastgeber, ich bekomme eine Tasse Kräutertee. Es bleibt undeutlich, ob sie nun Eigentümer der Liegenschaft sind oder nur deren Verwalter. Die Sache entbehrt nicht einer gewissen Komik - eine kleine Reliktgemeinschaft von drei Senioren in einem stillgelegten Seniorenheim. Das Haus dürfte 20 bis 30 Zimmer haben.
Herman zeigt mir seine Esoterik-Bibliothek, die sich über mehr als ein halbes Dutzend Räume ausbreitet. Sind es sechs oder sogar acht Zimmer? Ich verliere den Überblick, es müssen mehrere tausend Bücher sein, Bücherregale an allen Wänden, vom Boden bis zur Decke. Seine Sammlung deckt alle spirituellen, esoterischen, psychologischen und parapsychologischen Richtungen und Quellen ab. Es ist kein Antiquariat, fast alle Bücher sind neu, viele noch eingeschweißt. Ab und zu sehe ich ein Buch, das ich kenne. Während ich mich mit Herman unterhalte, beschleicht mich der leise Verdacht, dass er seine Bücher nicht kennt. Könnte es sein, dass er die Bücher sammelt ohne sie zu lesen?
Von Alex bekomme ich eine chinesische Kräutermischung (100 Euro); er zermahlt sie zu einem feinen Pulver. Anschließend gibt er mir eine Qi-Gong-Stunde (125 Euro) in einem ehemaligen Gemeinschaftsraum (circa 70 m2 Grundfläche), den er „my livingroom" nennt. In Alex' Wohnzimmer steht eine Tischtennisplatte. Johanna sei sehr krank, erklärt Alex, er würde nachts mit ihr Ping-Pong spielen, wenn sie nicht schlafen könne.
Hier und Jetzt
In der Praxis des Hämatologen hatte Lulan PMF-Patienten in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung gesehen. Sie schlurften kraftlos durch die Flure zum Transfusionsraum, abgemagert bis auf das gekrümmte Gerippe, die Augen tief in die Höhlen gesunken. Groß und ernst schimmerten sie, Augen, die nichts mehr sehen wollten, die unablässig nach innen blickten, beschlagen von einem matten Glanz. Er sah den Körpern die Vorboten des Todes an, Körper, die wie sein eigener an PMF erkrankt waren. Sie wurden immer weniger, um zum Schluss mit letzter Kraft den Löffel abzugegeben.
So wollte er nicht enden, diesen Weg würde er nicht gehen. Die Leute sagen, niemand könne sich sein Ende aussuchen. Aber wenn man entscheiden kann, wie das Leben verläuft, warum sollte man nicht auch das Ende des Körperlebens bestimmen können? Ihm gefiel der Gedanke nicht, sich »bis zum Schluss« zur Arbeit zu schleppen und vom Tod gezeichnet eines Tages zu verkünden, dass er von nun an gerne zu Hause bliebe, um ins Gras zu beißen. Ein derartiger Abgang schien ihm anstrengend und witzlos für alle Beteiligten.
Nach den Sommerferien hatte sich Lulans körperliche Verfassung signifikant verschlechtert. Treppen erklomm er schwer atmend, im Seniorentempo. Er musste sich tageweise krankmelden, weil seine Energie nicht mehr für den Unterricht einer Vollzeitstelle ausreichte. Lulan brauchte eine Pause. Er wollte die Zeit, die seinem Körper noch blieb, unbedingt sinnvoll nutzen. Ein Jahr müsste sie schon dauern, eine große Pause also, dann würde er fit genug sein, um wieder in der Schule arbeiten zu können.
Anfang Oktober besprach er sein Vorhaben mit Wim, erklärte, dass er nicht wisse, wie lange sein Körper noch mitmache, wie viel Zeit ihm noch bliebe. Es gebe Dinge, die ihm wichtig seien, seine spirituelle Entwicklung. Ab der nächsten Woche würde er sich gerne krankschreiben lassen, um sich ganz auf die Meditationen konzentrieren zu können.
Wims Reaktion war positiv, er zeigte sofort Verständnis für Lulans Pläne und Beweggründe. Lulan hatte sich diese Reaktion insgeheim von ihm erhofft und war erleichtert, als Wim ihm spontan Verständnis entgegenbrachte. Er hatte Wim seit den ersten medizinischen Befunden auf dem Laufenden gehalten; der Schulleiter wusste, woran er war. Er hatte Lulan gefragt, in welchem Umfang Stundenausfälle zu erwarten wären. Wann würde der Moment gekommen sein, sich nach einer neuen Lehrkraft für Biologie umzusehen?
Der Abschied von seiner Klasse fiel weniger leicht. Die Kids der 8A wussten von Lulans Erkrankung, er hatte ihnen in aller Offenheit davon erzählt. Sie überreichten ihm ein Fotobuch, in das jeder einige persönliche Zeilen geschrieben hatte. Dann musste er im Bio-Raum warten, bis sie kamen, um ihn auf den Schulhof zu holen. Dort hatten sie eine weitere Überraschung vorbereitet. Bei der großen Platane ließen sie 19 Luftballons in das wolkenlose Blau des Septemberhimmels steigen, für jeden Schüler und jede Schülerin einen. Lulan hörte noch ihre aufgeregten Stimmen und ihr Lachen, lange nachdem die bunten Pünktchen schon in der Atmosphäre verschwunden waren.
Der rote da ist meiner! Ha, ha! Guck mal, das ist meiner!
Er freute sich mit ihnen, doch der Hals wurde ihm eng dabei. Lulan rührte die Anteilnahme »seiner« Kinder.
06.09.2017
Hannover
Ich bringe Lars in unserem Mazda nach Altkünkendorf, zum Standort unserer Klassenfahrt. Zur Language Farm. Dort sind meine 8A und Orsolyas 8B von Montag bis Freitag untergebracht. Lars leidet laut langer Erklärung seiner Eltern an Heimweh; er ist am Wochenende vor der Klassenfahrt krank geworden. Vor Aufregung. Ich kenne das. Ich musste als Kind vor Aufregung kotzen, selbst bei lächerlichen Tagesausflügen. Ich hatte Angst mir würde im Auto oder auf dem Boot schlecht werden, also wurde mir präventiv schon vorher schlecht.
Auf dem Weg nach Altkünkendorf bleibt der Mazda hinter Berlin plötzlich liegen, schafft dann aber doch den Neustart. Ich fahre mit Tempo 100 bis Altkünkendorf (und auf dem Rückweg auch in diesem Tempo nach Hause). Wie sich nach dem Trip herausstellt, ist der Mazda 3, den ich aus Erwägungen der Langlebigkeit angeschafft hatte, mit einem Peugeot-Motor ausgestattet, die dafür bekannt sind nach einer gewissen Laufzeit an undichten Einspritzdüsen zu kränkeln. Eine Reparatur lohnt sich nicht mehr, der Wagen ist demnach perdu.
Es ist schön die Kinder in Altkünkendorf zu treffen. Allerdings grassiert am dritten Tag der berüchtigte Lagerkoller, und es laufen parallel mehrere Teenager-Dramen, die begleitet werden wollen. Einige Mädchen beschweren sich über einen der beiden neuen Jungen, der zu den Mädchen läuft, wenn sie duschen oder sich umziehen und sie wie gebannt anstarrt. Jens (unser Werklehrer) und ich erklären dem Jungen, das dieses Verhalten nicht akzeptabel ist. Er verbringt anschließend eine Weile weinend auf seinem Zimmer.
Auch Lisa weint. Jonas hat ihr Kuscheltier aus dem Fenster geworfen, und es ist in einer Pfütze gelandet. Und die Mädchen, die sich für die chilensiche Tanzgruppe als Projekt entschieden haben, möchten ihren Tanz plötzlich doch nicht aufführen, weil sie befürchten es könne peinlich aussehen. Probleme von Kindern im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen.
Die Betreuer der Language Farm, allesamt native Speaker (u.a. aus Nigeria, Chile, Australien und den USA) geben ihr Bestes um die Konflikte zu schlichten, aber einigen ist anzumerken, dass sie wenig Verständnis für die Allüren unserer Kinder haben. Ich teile ihre Sicht, aber ich liebe diese Kinder aus ganzem Herzen – auch wenn ich oft sehr streng mit ihnen bin.
Erinnerungen
19.09.2017, Hannover
Nach meiner Krankschreibung hatte ich uneingeschänkt Zeit zu meditieren. Ich las die Schriften von Nisargadatta und Ramana und meditierte dreimal täglich, solange meine Konzentration es zuließ.
Die Meditationen waren eine Art Selbtsanalyse. Dank der Gespaltenheit des Geistes fühlt sich die Rolle des eigenen Beobachters nicht ungewöhnlich an. Jenseits des unablässigen Ego-Gedankenstroms ist der Geist einer Körperperson ein neutraler Zeuge. Man kann lernen diese Unterscheidung bewusst zu nutzen.
Konzentration und Beharrlichkeit sind der Schlüssel zum Erfolg. Der eigene Geist hinterfragt sich selbst. Wer observiert wen? Welcher Teil ist das »ich«? Ist »ich« nicht auch der Teil des Geistes, der sich selbst beim Denken beobachtet? Oder gibt es ein universelles, »ätherisches« Bewusstsein, das unabhängig von den Gehirnfunktionen arbeitet?
Zusätzlich zu den Selbstbefragungsmethoden von Nisargadatta und Ramana verwendete ich ein dreiteliges Mantra.
Ich weiß nichts. Ich will nichts. Ich habe nichts.
Mein Ziel war die Befreiung von allen Konzepten, die auf Irrtümern beruhten und zur Aufrechterhaltung der Illusion beitrugen. Dabei standen zu Beginn in erster Linie nicht Ideen und Gedanken auf dem Prüfstand, sondern überwiegend Gefühle wie Angst, Enttäuschung oder Groll. Meistens waren es Menschen aus dem persönlichen Umfeld, auf die ich meine Emotionen projizierte.
Das Mantra Ich weiß nichts! beinhaltet die Aufgabe aller erlernten Vorstellungen. Ich war mir nicht sicher, wer oder was ich in Wirklichkeit war, oder was real war und was eine Illusion. Daher bot sich als methodische Vorgehensweise an, zunächst alles infrage zu stellen. Im nächsten Schritt konnte ich dann einzelne Aspekte auswählen und diese auf ihre Wertigkeit oder Gültigkeit überprüfen.
Bin ich ein Körper?
Nein! Im hyperrealen Sein bin ich körperlos.
Bin ich die Summe meiner Gedanken?
Nein! Denn wenn ich meinen Geist von dem Strom der Gedanken löse, erstrahlt das Sat-Chit-Ananda des Realen Seins.
Sind meine Emotionen Teil des Selbst?
Nein! Ich verstehe und sehe, dass alle Emotionen durch das Ego verursacht werden. Im Selbst finde ich Glückseligkeit, Liebe und Wahrhaftigkeit, aber keine Emotionen.
Ich bin nicht, was ich zu sein glaubte. All meine Annahmen, Überzeugungen und Vorstellungen erweisen sich als Irrtümer. Ich weiß nicht, wer oder was ich wirklich bin; ich weiß nur, was ich nicht bin. Ich weiß de facto nichts!
Für die Anwendung des Mantras Ich will nichts! hatte ich alle Aktivitäten aufgegeben, die nicht der Fokussierung auf mein spirituelles Ziel dienten. Ich wollte weder an meinen digitalen Bildern arbeiten noch neue Stücke auf der Gitarre einüben. Es gab keine Tätigkeit, die nicht eine unerwünschte Ablenkung von meinem Ziel gewesen wäre. Mein Fokus war punktuell auf die Berichtigung der großen Illusion gerichtet.
Das dritte Mantra, Ich habe nichts, vollzog ich ausschließlich virtuell. Es war nicht zwingend notwendig, die Wohnung samt Inhalt aufzugeben, um fortan auf einem Zeltplatz zu leben. Das Ziel der Leere war nicht äußeres, sondern inneres Non-Attachment, das Loslösen von Verhaftungen oder Anhaftungen.
Das Sat-Chit-Ananda, das ich in der Meditation erreichte, war nicht von dieser Welt. Für eine adäquate Beschreibung meiner spirituellen Erlebnisse musste ich immer häufiger auf Superlative zurückgreifen. Dadurch verlor ich bei einigen Körperpersonen anscheinend an Glaubwürdigkeit; sie reagierten auffallend zurückhaltend auf meine Mitteilungen. Während man mich in der Anfangsphase meiner Meditationen mit motivierenden Kommentaren ermutigte weiterzumachen („Ich finde es ganz toll, was du da machst und wie du an die Sache rangehst! Ich habe selbst auch schon meditiert, ich weiß, wie gut das tut!"), begegnete man mir nun wortkarg oder schweigend.
Ich verstand diese Reaktionen nicht. Warum freuten man sich nicht mit mir? Ich hatte einen fantastischen verborgenen Schatz entdeckt! Einen Schatz für alle und jeden. Mein Zeugnis von der Quelle des himmlischen Friedens hätte andere Körperpersonen vor Freude in die Luft springen lassen müssen. Doch sie schwiegen. Um die Gründe für die unverständliche Zurückhaltung nachvollziehen zu können, hakte ich bei verschiedenen Personen nach; ich wollte wissen, warum sie so reserviert reagierten. Meine Frage löste Betroffenheit aus, man empfand sie als Vorwurf.
„Wenn du von deinen Meditationen erzählst, denke ich, dass ich nie soweit kommen werde. Es ist soweit von mir entfernt!", meinte ein Kollege. Eine nahe Verwandte antwortete geradeheraus, sie nahm kein Blatt vor den Mund:
„Du behauptest diese Dinge, deine Erfahrungen seien real und so. Was ich denke und erlebe, soll also nicht wahr sein? Wieso sollte ich dir glauben? Jeder könnte daherkommen und Dinge behaupten, was andere nicht nachvollziehen können. Soll ich einfach annehmen, was Leute so im Einzelnen als Wahrheit verkaufen?"
Zu den wenigen Menschen, die mir Glauben schenkten, gehörten die Kinder der Mittelstufe. Ich nutzte zwei Vertretungsstunden kurz vor meiner Krankschreibung, um den Schülern und Schülerinnen der 7A und der 7B von der Suche nach dem Selbst zu berichten; anschließend meditierten wir gemeinsam 10 Minuten. Die Kinder waren begeistert, sie warfen mir einige Wochen lang strahlende Blicke zu, wenn ich ihnen in den Schulfluren begegnete.
Hier und Jetzt
Wie lange würde ihm noch bleiben? Lulan glaubte im Sommer 2017 nur noch wenige Monate zu haben. Bei Gedanken an den Tod des Körpers blieb er zu seinem eigenen Erstaunen ganz entspannt. Es kam keine Panik mehr in ihm auf.
Der Körper würde solange überleben, wie er gebraucht werde, behauptete Nisargadatta. Lulans Vertrauen in diese Worte war unerschütterlich. Nicht, weil er den Aussagen des indischen Meisters glaubte, sondern die Wahrheit in ihnen unmittelbar erkannte. Die Worte des Gurus waren bereits in ihm, sie zu lesen war ein Wiedererkennungsprozess.
Er stellte sich vor, einen dieser Guru-Meister zu treffen. Jemanden, der die höchste Stufe der Erleuchtung erlangt hatte und seinen Anhängern den direkten Pfad zum Licht anwies.
So einen Meister hätte ich gerne für mich, meinte sein Ego. Als Lulan bei Google »erleuchtete Personen« in das Suchfeld eingab, erhielt er Listen mit Namen, dazugehörigen Steckbrief-Beschreibungen, und wo man diese Gurus finden konnte.
Es gab Dutzende von spirituellen Lehrern in erreichbaren Entfernungen zur Auswahl. Welcher von ihnen würde »der Richtige« sein? Es musste schon jemand wie Nisargadatta sein. Lulan konnte sich für keinen der Erleuchteten im Internet entscheiden. Darum konzentrierte er sich zuerst auf die Suche nach Heilern. Nach dem Wiedersehen mit Alex Wu begann eine Suchtour, die Lulan zwei Jahre lang quer durch Europa führte.
Auf diesem Trip erhielt er Behandlungen von vier Heilern und vier Erleuchteten. So wie keine Meditation der anderen gleicht, war auch jede dieser Begegnungen einzigartig. Die Healings sprachen unterschiedliche energetische Ebenen an, alle wirkten sofort, einige hinterließen einen Abdruck oder Eindruck, über den Lulan den Behandlungseffekt noch Monate später reproduzieren konnte.
Die spirituelle Odyssee über die Landesgrenzen hinaus kostete Geld. Lulan plante jede Reise minutiös, um die nicht unbeträchtlichen Kosten im Zaum zu halten und unnötige Ausgaben zu vermeiden. Obwohl seine finanziellen Mittel eher bescheiden waren, stand ihm für jede Fahrt genug Geld zur Verfügung, was er nicht zuletzt der Unterstützung durch Eltern und Verwandte verdankte.
23.09.2017
nördlich von Minden
Ich sitze mit Rolf in seinem Wohnwagen. Wir trinken dampfenden Milchtee und smalltalken über das Wetter.
„Es ist noch schön warm für Ende September", meint Rolf.
Ich stimmme ihm zu. „Winter is coming. Fliegst du im Herbst wieder nach Indien?"
Rolf nickt: „Am 1.11."
„Kann ich dich dort mal besuchen? Ich suche nämlich einen Guru", erkläre ich. „Kennst du nicht ein paar Gurus oder Ashrams in Indien? Jemand, der mich weiterbringen kann. Davon müsste es in Indien eine ganze Menge geben. Ich hatte an ein tibetanisches Kloster gedacht, aber die, die ich im Internet finden konnte, fand ich nicht gerade ansprechend. Oder kennst du eins, das du empfehlen kannst?"
Rolf sieht mich lange nachdenklich an. Er lässt sich Zeit mit seiner Antwort.
„Ich weiß nicht, ob du so weit fahren musst", sagt er schließlich. „Ich meine, klar kenne ich Ashrams in Indien. Ashrams, wo ich auch selbst gewesen bin. Viele sind echt überlaufen. Da wuseln hunderte von Leuten rum. Sie warten in langen Schlangen, um für ein paar Minuten den Meister zu sehen. Gurus gibt es überall, du musst dafür nicht nach Indien fahren. In Berlin kenne ich einige gute Leute."
„Hmm. Sicher, es gibt im ganzen Land einige", antworte ich zögernd, „wie findet man den Richtigen, wenn man keinen kennt? Es sollte ein erfahrener Guru sein. Ich brauche keinen Anfängerkurs, ich weiß, wie Meditieren funktioniert. Ich mache nichts anderes. Ich möchte das Selbst realisieren. Das ist mein Ziel."
„Ich habe das aufgegeben!", meint Rolf. „Ich möchte Musik machen, nichts anderes. Davon will ich nichts aufgeben müssen. Mir kommt die Suche nach Erleuchtung vor, als würde man mit einem winzigen Handbohrer durch ein meterdickes Brett bohren, weißt du?" Er deutet mit ausgebreiteten Händen an, wie dick er sich dieses Brett vorstellt.
Rolf lacht: „Und alle paar Stunden guckst du rein in dieses kleine Loch, siehst nach, ob du schon durch bist. Aber es ist kein Ende zu sehen. Vielleicht sind es nur noch ein paar Millimeter, vielleicht hat man aber auch nicht mal die Hälfte geschafft."
Ich finde Rolfs Bildsprache amüsant. „Eignet sich gut als Gleichnis! Ich denke, du hast nicht ganz Unrecht: man braucht eine Menge Ausdauer und eine gewisse Hartnäckigkeit, um durch so ein Brett zu kommen. Und das ist genau, was Nisargadatta sagt: You need a lot of perseverence and patience to achieve your objective. Und noch etwas nennt er: earnestness. Man muss es aufrichtig wollen."
Wir nippen an unseren heißen Teetassen.
„Ich will es wissen! Ich bohre weiter!", sage ich mit ernster Miene.
Rolf nickt, er mustert mich schweigend.
„Sag Bescheid, wenn du durch bist!", prustet er lachend heraus.
„Ich war vor zwei Jahren bei Amma als sie auf Hof Herrenberg war. Habe ich dir davon erzählt?"
„Nein, hast du nicht", erwidere ich überrascht. „Du warst bei Amma?"
„Ja, war ich! Sie hatten mich sogar gefragt, ob ich für Amma spielen würde. Wir haben auf der Bühne in den Pausen für sie gespielt", fährt Rolf fort.
„Ach, sieh an! Das wusste ich noch gar nicht. Amma ist doch diese Inderin, die alle umarmt, oder? Richard Gere war dabei, meine ich, aber auch einfache Menschen, oder? Arme Menschen!", antworte ich halb fragend. Und kranke Menschen, ergänze ich in Gedanken und sehe Rolf erwartungsvoll an.
„Ja, genau die. Das ist Amma", bestätigt er. „Spielt in einer Liga mit Papst Franziskus und dem Dala Lama! Ich war da unten zufällig zu Besuch bei einem Freund, auch Musiker, als Amma zum Hof Herrenberg kam. Es war eine große Veranstaltung. Wenn Amma kommt, kommen einige tausend Menschen zusammen. Ich sah diese lächerliche, lange Schlange von Leuten, die alle in der Reihe standen und auf ihre Umarmung warteten."
Rolf macht eine Pause und pfriemelt an seinen Hausschuhen herum.
„Ist ja wirklich albern, das Ganze, ja? Aber dann dachte ich, Was soll die Anstellerei! - he, he! Anstellerei, verstehste? - und hab'mich auch angestellt."
Rolf hat eigentlich recht: was soll die Anstellerei? Man muss Amma einfach ausprobieren, wenn man die Sache beurteilen möchte. Rolf ist es auf jeden Fall gelungen meine Neugier zu wecken.
„Ja, und dann?", frage ich nach. „Hast du eine Umarmung bekommen?"
„Und ob! Sie hat mich an ihren Busen gedrückt."
„Und? Wie war das? Hast du was Besonderes gemerkt?"
Rolf ist ein geschickter Erzähler; er sieht mich grinsend an, macht wieder eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. Er fummelt hingebungsvoll an seinem ausgefransten linken Pantoffel herum, bevor er weiterspricht:
„Es war total abgefahren. Ich stand nach der Umarmung draußen vor der Halle und redete mit einem der Musiker. Und ich konnte nicht mehr unterscheiden, wer ich war und wer er war. Es gab keinen Unterschied mehr!"
Wahnsinn! Das war genau der Zustand, wie ihn Nisargadatta wiederholt in I Am That beschrieben hatte!
Oh, Mann!", entfährt es mir. „Ist ja krass, Mann! Wahnsinn! Und dann? Wie ging die Sache weiter?"
Rolf grinst wieder über das ganze Gesicht. „Ich habe alle Ziegelsteine genommen, die in Reichweite herumlagen und habe wieder eine Mauer um mich herum gebaut! Ich war verwirrt, ich wollte das nicht. Er war mir unheimlich."
Nein! Oh, Hilfe! Hatte er die Disszoziation des Bewusstseins echt rückgängig gemacht? Ich würde ihn festhalten und nicht wieder loslassen, sobald ich ihn erreicht hätte. Aber die Reaktion passt zu Rolf, finde ich.
Hier und Jetzt
Gut Saunstorf
Die Liste der praktizierenden Gurus, die in Lulans engere Wahl kamen, wurde nach jeder Recherche kürzer, bis nur noch einige wenige Körperpersonen übrigblieben. Er studierte jedes Detail der Online-Beschreibungen und entschied sich für einen Mann, dessen Philosophie er ohne Einschränkungen ansprechend fand.
Om C. Parkin leitete eine Mysterienschule auf Gut Saunstorf, einem „modernen Kloster" in Mecklenburg-Vorpommern. Auf der Webseite des Klosters erfuhr Lulan, dass man unter »modern« ein aufgeklärtes Weltbild verstand, in dem nicht der „veräußerlichten" Ausübung einer Religion, sondern der spirituellen Suche nach dem Innersten, dem „ewigen Kern", zentrale Bedeutung zukomme. Spiritualität sei das Herz jeder Kultur; auf Gut Saunstorf würden die spirituellen Überlieferungen östlicher und westlicher Lehren miteinander verbunden.
Was Lulan hier las, entsprach seinen eigenen Auffassungen. Auch die Fotos des modernen Klosters machten einen einladenden Eindruck. Das ehemalige Gutsgebäude war von Grund auf saniert und niveauvoll renoviert worden; es bot Besuchern und Gästen einen „Ort der Stille", der in seiner klösterlichen Genügsamkeit noch komfortabel wirkte. Auf der Webseite wurde ein umfangreiches Programm an Seminaren, Darshans und vielen weiteren Veranstaltungen angeboten. Die Preise einschließlich Kost und Logis waren deftig und passten zu dem anspruchsvollen Ambiente.
Mitte Oktober 2017 fand auf Gut Saunstorf eine Nacht des Heilens statt. Lulan hatte sich dafür angemeldet und stellte bei seiner Ankunft fest, dass die Selbstdarstellung auf der Homepage des Klosters ohne Abstriche zutraf. Insgesamt verbrachte er 2017 drei Aufenthalte auf Gut Saunstorf. Die andächtige Stille des Hauses und die liebevolle Atmosphäre des Klosteralltags erfüllten ihn mit innerer Ruhe und Frieden. Lulan war glücklich.
13. und 14.10.2017
Gut Saunstorf
Nacht des Heilens mit Om C. Parkin auf Gut Saunstorf. Cora ist auch mit dabei. Wir sitzen in einem lang gestreckten Raum im Souterrainbereich des Klosters. Dezente meditative Musik, Dämmerlicht. Die Teilnehmer treffen nach und nach ein, leise, meist schweigend, nehmen auf Yogakissen Platz. Es sind überwiegend Frauen. Die Luft vibriert vor Spannung. Erwartungsstille.
Parkin hatte sich als Autor, Mystiker und Philosoph einen Namen gemacht. Er wurde außerdem als spiritueller Advaita-Lehrer in der Tradition Ramana Maharshis beschrieben.
Dann betritt Om den Raum. Er wird von vier Helfern begleitet, sie nehmen ihre Plätze ein. Lange Stille.
Als Om sich zu seiner Assistentin beugt, geht ein Flüstern durch den Raum. Es geht los. Eine junge Frau ist als Erste an der Reihe. Sie setzt sich vor Om auf ein Kissen und unterhält sich kurz flüsternd mit ihm. Om berührt ihren Bauch, er scheint die rechte Bauchseite zu massieren. Die Frau beginnt zu stöhnen. Oms Hände wandern über ihren Bauch, das Stöhnen wird lauter, verändert sich in ein weinerliches Jammern, das allmählich zu einem hemmungslosen Schreien anschwillt. Ich sehe zu Cora, deren Miene mir eine gewisse Unruhe verrät.
Ein Helfer begleitet die erschöpfte Frau in einen Nebenraum. Sie folgt ihm wankend; man kann ihre gedämpften Schreie noch eine längere Weile hören.
Die nächste Teilnehmerin nimmt auf dem Kissen vor Om statt. Wieder ein kurzes Flüstern, danach die Berührungen, dieses Mal jedoch an den Schläfen und auf dem Schädeldach der jungen Frau. Nach ein paar Momenten beginnt sie zu weinen, erst leise, dann lauter, wütender.
Om scheint die Gabe zu besitzen, bei anderen seelenwunde Körperpunkte aufzuspüren und durch seine Berührungen aufgestaute Ängste und andere Emotionen freizusetzen. Als er einen jungen Mann am Hals berührt, entsteht eine beklemmende, fast schon dramatische Interaktion. Der Kopf des Mannes weicht zurück, er gibt seinen Hals frei, den Om nun mit beiden Händen umfasst. Oms Berührung ist ein symbolischer Würgegriff, kein echter, und obwohl ich weiß, dass seine sich um den Hals des Mannes schließenden Hände nur leicht angelegt sind, gibt der Gewürgte nun die kehligen Schmatzlaute eines Erstickenden von sich. Cora wirkt wie versteinert. Ich hoffe, dass sie ok ist.
Als ich an der Reihe bin, sehe ich mich selbst vor Om Platz nehmen, höre, wie ich viel zu leise spreche. Merkwüdigerweise flüstere ich Om zu, dass ich erlöst werden möchte. Meine Krankheit erwähne ich erstaunlicherweise eher beiläufig, ich höre wie meine Stimme murmelt „… medizinisch nicht heilbar… ". Mein Handeln ist wie ferngesteuert, ich hatte diesen Moment anders geplant.
Nein! Die Erkrankung ist eine Nebensächlicht, denke ich, die Frage war perfekt formuliert, einzig die Erlösung von der Illusion kann heilen!
Om fast mich bei den Schultern, dreht mich herum, so dass ich mit dem Rücken zu ihm sitze. Er knetet meine Schultern, den unteren Rücken. Ich rutsche in seine Arme, versuche alles zuzulassen, was da kommen mag. Aber es kommt nichts, ich habe kein Bedürfnis mich durch Schreie zu erleichtern. Dafür stöhne ich verhalten vor mich hin. Auch ich werde wie alle anderen in einen Nebenraum geführt, wo einer der Helfer meinen Rücken weiter beabeitet. Seine Behandlung ist eine echte Wohltat!
Ich habe seit meiner Kindheit einen krummen Rücken. „Der Junge hat einen Scheuermann", hatte Dr. Herrmann aus Veltheim meinen Eltern vor meiner Einschulung erklärt. Om, der mich in jener Nacht zum ersten Mal sah (im Dämmerlicht, sitzend), ist es auf rational nicht erklärbare Weise gelungen, eine charakteristische, verborgene Schwachstelle meines Körpers zu identifizieren.
Am nächsten Morgen bekommen einige Teilnehmer auf deren Wunsch eine Gelegenheit mit Om zu sprechen. Auch ich melde mich und werde in einen größtenteils leeren Raum geführt. Om sitzt an der Stirnseite, gegenüber der Eingangstür. Ich nehme auf dem freien Stuhl vor ihm Platz. Wir tauschen ein paar Höflichkeiten aus. Wie es mir gehe, möchte Cedric Parkin wissen, und wie ich die Nacht des Heilens erlebt hätte. Danke, gut, sehr gut, versichere ich und berichte ihm, dass mir mein Rücken seit meiner Jugend immer wieder Probleme bereitet habe.
„Dein Rücken hat sich sehr verspannt angefühlt", sagt Om und sucht nach einem passenden Vergleich, „irgendwie hart, wie der Panzer einer Schildkröte. Energieundurchlässig. Du solltest einmal Thai-Massagen ausprobieren. Solche, wo sie dir mit den Füßen den Rücken durchkneten."
Ein interessanter Tipp, denke ich und nehme mir vor, den Vorschlag bei Gelegenheit in die Tat umzusetzen. Dann erzähle ich von der Erkrankung meines Körpers, meinen Meditationen und dass ich mich auf der Suche nach einem Guru befände. Ich fasse mich kurz, brauche nur wenige Sätze für mein Anliegen. Dies ist der ursprüngliche, eigentliche Grund, der mich hierhergeführt hat.
Om antwortet nicht mit Nein oder Ja. Er erklärt, dass neue Adepten der Mysterienschule zu Beginn in einem äußeren Kreis aufgenommen würden, das sei eine Vertrauensfrage, man müsse sich erst kennenlernen; nach einiger Zeit gelange man in den inneren Kreis der Schüler, das alles sei keine schnelle Angelegenheit, man müsse mit sieben Jahren rechnen.
Während ich Om noch zuhöre, weiß ich bereits, dass er als spiritueller Lehrer für mich ausscheidet. An Geduld und Durchhaltevermögen mangelt es mir nicht, doch sieben Jahre stehen meinem Körper den Ärzten zufolge nicht mehr zur Verfügung. Außerdem widerstrebt es mir, mich sieben lange Jahre auf eine Methode oder Schule, die Enneallionce, zu beschränken.
17.10.2017
Hannover
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, schrieb Rilke.
Besser kann man es nicht ausdrücken.
Auch ich will den letzten Ring versuchen.
01.11.2017
Hannover
Von: Stefan van Rij
Gesendet: Mittwoch, 01. November 2017, 10:41
An: Rolf Shantam Bruggemann
Betreff: Gut Saunstorf
Hallo Rolf!
Mal schauen, ob du in Indien Email-Zugang hast. Es ist Mittwochvormittag, du müsstest jetzt im Flieger sitzen.
Ich war jetzt noch einmal fünf Tage auf Gut Saunstorf (840 EUR), und auch dieser Aufenthalt hat mir gutgetan und mich weitergebracht. Fünf Tage zu Gast im modernen Kloster. Ort der Stille. Was für eine Oase! Helle, große Räume, drinnen und draußen. Licht und Leichtigkeit. Dann diese Stille, die wirklich auf dem gesamten Anwesen zu finden ist! Die täglichen gemeinsamen Meditationen, das Schweigen während der Mahlzeiten. Hätte nicht gedacht, wie stark das wirkt. Im gesamten Haus, vom Keller bis zum Dachboden findet man diese Mischung aus Konzentration und Andacht. Ich habe mich zweimal im Samadhi-Tank treiben lassen (70 EUR/Std.). Der Name ist übertrieben und weckt kaum erfüllbare Erwartungen. Eine »normale« Meditation ist in diesem Tank kaum praktikabel, weil die ungewohnte Erfahrung (nackt in völliger Dunkelheit in beißendem MgSO4-Wasser treibend) die Sinne und den Geist vollends beanspruchen.
Beim zweiten Mal begann ich die Funktion besser zu verstehen. Es geht allein um das geistig-sinnliche Erlebnis, es ist eher eine Yoga-Übung. Man lernt loszulassen, kommen zu lassen, was aus der inneren Dunkelheit kommt. Und man kann herrliche Dehn- und Streckübungen ausführen, die ein langanhaltendes Wohlgefühl hinterlassen.
Zwischen den Meditationen und Spaziergängen lese ich zum zweiten Mal The Teachings of Ramana Maharshi. Erkenntnisströme! Mir kommt beim Meditieren ein Mantra in den Sinn und ich trage es ins Gästebuch ein.
Ich bin es selbst. Das Herz bin ich!
Ich habe mit »Herr Stefan« unterschrieben.
Mein Ziel ist mir sicher. Ich werde das Höchste erreichen! Ich brauche Om C. Parkin nicht als Guru, ich brauche überhaupt keinen äußeren Guru mehr. Ich folge dem inneren Guru, der mich schon lange verlässlich führt.
... bis Februar, mein Bruder im Licht!
Om. Shanti. Shanti. Shanti.
07.11.2017
Hannover
Wer bin ich?
Es genügt nicht, dem Geist mitzuteilen, ich sei das Selbst. Behauptungen gibt es wie Sand am Meer. Es könnte ja das Ego sein, das behauptet das Selbst zu sein. Also weiter fragen
Werbinichwerbinichwerbinich?
WhoamIwhoamIwhoamI?
Werbinichwerbinichwerbinich?
WhoamIwhoamIwhoamI?
Werbinichwerbinichwerbinich?
… und wer bist du?
Hier und Jetzt
Amma
Eigentlich heißt sie Mata Amritanandamayi, doch ihre Anhänger nennen die Verkörperung der göttlichen Mutter kurz Amma (Malayalam für »Mutter«).
Noch ein Jahr zuvor hatte Lulan von Amma nur beiläufig in den Boulevard-Nachrichten gehört. Es gab im Fernsehen einen Bericht über Richard Gere, der sich als bekennender Buddhist medienwirksam von Amma umarmen ließ. Die Bilder gingen um die Welt.
Als das MBH eine neue Englischlehrerin einstellte, erfuhr Lulan mehr über die göttliche Mutter. Laura hatte auf der letzten Großveranstaltung von Amma als freiwillige Helferin gearbeitet; sie wusste, wie die Umarmungen und die Darshans organisiert wurden, wie das Losverfahren ablief. Alle Besucher bekamen die Chance auf eine Umarmung. Es sei ausreichend rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltungen vor Ort zu sein, meinte Laura.
Sie verehrte Amma, und hatte sogar eine zeitlang in Indien in Ammas Ashram gelebt. Ihre begeisterte Guruverehrung rief bei Lulan Befremden hervor. Einerseits faszinierte ihn jedes Detail von Lauras Berichten, gleichzeitig fand er ihre glühende, vorbehaltlose Bewunderung übertrieben. Lulans Ego-Persönlichkeit war von Haus aus skeptisch. Ausgestattet mit einem naturwissenschaftlichen Doktorgrad und der dazu passenden besserwisserischen Überheblichkeit hatte er lange geglaubt, die Dinge so zu sehen, wie sie »wirklich« sind, und wie sie seiner Meinung nach gesehen werden sollten. In Wahrheit wusste er nichts und sah lediglich, was er in seiner geistigen Beschränkheit zu sehen imstande war. Erst als Rolf Shantam ihm berichtet hatte, dass auch er Jahre zuvor in den Genuss einer Umarmung von Amma gekommen war, verflogen Lulans letzte Zweifel. Er zog zum ersten Mal in Erwägung an einer Großveranstaltung mit Amma teilzunehmen.
21.11.2017
München
Die Zenith-Halle ist riesig, fünf- bis sechstausend Menschen finden passen hinein. Ich bin gekommen, um mich von Amma umarmen zu lassen und stehe eine halbe Stunde vor Einlass an den Türen, denn ich kann nicht einschätzen, wie voll es wird oder ob man seine Umarmung verpasst, wenn man nicht rechtzeitig kommt.
Jetzt bin ich einer der ersten, die die Halle betreten, 20 Minuten später haben sich bereits mehrere hundert Besucher eingefunden. Ich schlendere durch Reihen mit verschiedenen Essensständen, die neben indischen Häppchen und veganen Leckereien auch Mahlzeiten anbieten. Es gibt einen Basar mit esoterischen Accessoires wie Malas, Armbändchen und Räucherstäbchen. Kleine Schätze, die das Ego begehrt. Ich kaufe zwei CDs mit Bhajans von Amma und einen kurkumafarbenen Kaschmirschal für Cora.
Die Organisation der später stattfindenden Umarmungen verläuft reibungslos, man bekommt einen Buchstaben und nimmt in einer der vielen Stuhlreihen Platz.
Als nach ein paar Stunden Amma die Halle betritt, wird sie mit einem Blütenregen empfangen. Eine traditionelle bayerische Blasmusiktruppe spielt zur Begrüßung auf. Das Programm wird mit einer gemeinsamen Meditation eröffnet. Als die Umarmungen beginnen, rücken die in den Stuhlreihen Wartenden langsam vor. Wir kommen Amma Stuhl für Stuhl näher.
Dann bin ich an der Reihe und in versinke Ammas Armen. Ich muss unvermittelt heulen und schluchze wie ein kleiner Junge. Es läuft spontan ab, ich hatte es nicht kommen sehen, hatte mir vorgenommen, einfach offen zu bleiben, geschehen zu lassen, was geschehen muss oder möchte (was gut zu funktionieren scheint). Amma lacht mich an, berührt meinen Kopf, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und drückt mir ein Rosenblatt und ein Bonbon in die Hand. Ich freue mich über mein Geschenk.
Auf der Toilette blicke ich zwei Stunden später in den Spiegel und sehe erstaunt, dass ich ein weißes Tika-Zeichen auf der Stirn habe. Amma muss es mir während der Umarmung aufgetupft haben. Warum habe ich dieses Zeichen bekommen? Ich laufe suchend durch die Menge, kann aber keine anderen Besucher mit weißen Stirnzeichen entdecken.
Die gemeinsamen Massen-Meditationen mit Amma sind sehr intensiv. Ich lerne neue Techniken, Amma erklärt die einzelnen Schritte: Wir schicken Energie an die Zellen des Körpers und arbeiten mit einem Mantra. Beim Einatmen denken wir an den Laut Ma, beim Ausatmen singen wir in Gedanken Om. Es wirkt sehr stark bei mir. Amma erläutert die Ma-Om-Technik während der Meditation, die Erläuterungen werden dann direkt von einem jungen Mann ins Deutsche übersetzt. Die Technik hat zwei Schwerpunkte: zum einen die Versorgung aller Körperzellen mit Licht und Energie, zum anderen einen Beitrag zum Weltfrieden durch Visualisierung eines weißen Blütenregens oder weißer Schneeflocken, die auf die Erde herabsinken.
Jedenfalls dürfte Ma ein früher Stammlaut in der Sprachevolution der Menschheit gewesen sein, ein Urwort, das auch in der universellen, kosmischen Brabbelsprache der Babies den Beginn der sprachlichen Entwicklung markiert: mamamam-mam-ma-ma-ma.
Am späten Nachmittag fahre ich wieder zur Zenith-Halle. Es ist brechend voll. Die meisten Leute gehen offenbar vorzugsweise abends zu Amma.
An den Abenden findet auf Amma-Veranstaltungen ein besonderer Darshan statt, der Deli Darshan, während dessen man ein Mantra erhalten kann. Das Programm ist bunt und folkloristisch, nicht das, was ich eigentlich suche, und ich fahre wieder zurück zum Hotel, um zu meditieren.
Die vielen Eindrücke des Tages haben mich innerlich aufgewühlt, ich bin durcheinander. Erst in meinem Hotelzimmer komme ich zur Ruhe, finde langsam mein inneres Gleichgewicht zurück.
22.11.2017
München
Zweiter Tag in der Zenith-Halle. Heute werden 10 Personen ausgelost, die Amma eine persönliche Frage stellen dürfen. Ich möchte unbedingt dabei sein. Wie kann mein Körper geheilt werden?
Er würde dazu raten, die Frage - falls möglich - auf Englisch zu stellen, hatte der zuständige Betreuer gestern erklärt. Deutsche Fragen müssten nämlich zuerst von einem Mitarbeiter ins Englische übersetzt werden, danach würde einer der Swamis Amma die Frage „auf Tamil" ins Ohr flüstern. Die Fragestellung dürfe verständlicherweise nicht endlos lang sein, sollte aber auch nicht zu knapp formuliert werden; man müsse klar ausdrücken, um was es gehe.
Gut, dachte ich, ich werde meine Frage gleich auf Englisch stellen.
Ich habe höchstens zwei Stunden geschlafen heute Nacht, habe überlegt, wie ich die Fage am besten stellen könnte. Gegen fünf in der Frühe fand ich meine Formulierung endlich ausreichend präzise.
Heute Morgen bin ich der Erste bei der Anmeldung für persönliche Fragen. Besser zu früh als zu spät. Ich möchte nichts dem Zufall überlassen. Eine der freiwilligen Mitarbeiterinnen händigt mir ein orangenes Kärtchen aus, auf das ich meine Frage schreibe, dazu ein Los mit der Nummer 5.
Der nette, lächelnde Betreuer vom Vortag bereitet das Losverfahren vor, es gibt 30 Leute, die Fragen stellen möchten. Zwei Stunden später findet die Auslosung statt, zehn Personen werden ausgelost, und meine Nummer ist die letzte, die gezogen wird.
Man weist unseine spezielle Stuhlreihe zu, die direkt auf der Bühne steht. Amma sitzt in der Mitte der Bühne in ihrem Sessel und ist bereits mit Umarmungen beschäftigt, begleitet von Bhajans und Mantragesängen, die ununterbrochen abgespielt werden. Unsere Stuhlreihe rückt erheblich langsamer vor als die größere Stuhlgruppe für die Umarmungen auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne. Eine halbe Stunde vergeht, bis sich ein grauhaariger Swami mit dem ersten Fragekärtchen zu Amma beugt. Zuvor hatte ihm jemand die Frage aus dem Deutschen ins Englische übersetzt. Jetzt flüstert er Amma die Frage ins Ohr. Amma umarmt zwei weitere Körperpersonen, bevor sie sich wieder dem Swami zuwendet und ihm leise antwortet. Der Swami übersetzt und erläutert die Antwort anschließend dem Fragesteller. So läuft das also ab.
Jetzt sind wir nur noch zu neunt, wir rücken einen Stuhl weiter auf Amma zu. Ich beobachte das Geschehen auf der Bühne. Amma ist von einem halben Dutzend Helferinnen umgeben, dazu hinter ihrem Sessel drei oder vier Swamis. Die meisten Umarmungen dauern jeweils ungefähr eine Minute. Die Assistentinnen sorgen dafür, dass alles flüssig abläuft. Wer seine Umarmung erhalten hat, wird mit sanfter Zielstrebigkeit weggeführt, während die nächste Person, nun gerade ein junger Mann, von zwei Helferinnen zu Amma geleitet wird. Der junge Mann läßt sich auf seine Knie nieder, und die Helferinnen positionieren ihn direkt vor Amma, sorgen dafür, dass seine Arme am Körper angelegt bleiben und nicht ungestüm die Erleuchtete umschlingen.
Einige Frauen haben ihre Babies für eine Umarmung mitgebracht; Amma knuddelt und küsst die Kleinen. Ab und zu stellen die Assistentinnen Amma eine Person separat vor. VIPs, denke ich. Ein älterer Mann hat ein Buch veröffentlicht, dass er Amma zeigt.
Im hinteren Bereich der Bühne sitzen rund 20 Meditierende auf Yogakissen, manche kommen für eine halbe Stunde, gehen dann wieder, machen ihr Kissen für andere frei.
Eine Gruppe elegant gekleideter Damen folgt ihrer ununterbrochen flüsternden Führerin auf die Bühne, der Umarmungsmarathon kommt ins Stocken, doch die Damen haben keine Eile, lächeln und nicken, wenn die Führerin ihre Flüstergeschichte mit ausladenden Gesten unterstreicht.
Wer um alles in der Welt sind diese Leute? frage ich mich und nehme wahr, wie Anflüge von Ärger in mir aufsteigen und sich zu dunklen Wolken verdichten: Sicherlich die Aufsichtsrätinnen von der Münchner Amma Stiftung, die sich ihre Jahresdosis Spiritualität abholen. Oder der Club der Bankdirektorengattinnen, die in der Schickeria durch ihren persönlichen Ich-war-bei-Amma-Erlebnisbericht endlich wieder die Aufmerksamkeit generieren können, nach der es sie immerzu verlangt ... Stopp! Auhören! Was sollen diese selbstsüchtigen Gedanken!
Damit perlen die Ego-Gedanken an mir ab wie Regentropfen auf einem Teichrosenblatt. Wie schön, dass diese Distanzierung so einfach und direkt funktioniert!
Gehöre ich selbst nicht auch zu einer Schickeria? Nämlich zum Club der Erleuchtung suchenden Esoteriker? Hat mein Ego nicht seit der Schulzeit beharrlich alles versucht und unternommen, um zu denen zu gehören, die sich aus der grauen Masse abheben? Halte ich mich nicht insgeheim für jemanden, der anderen überlegen ist, der besser ist?
Oops! Ich registriere, dass diese Selbstkritik am liebsten unerkannt geblieben wäre.
Inzwischen sind zweieinhalb Stunden vergangen. Es ist jetzt noch eine ratsuchende Fragestellerin vor mir. Sie hat verheulte Augen, die Tränen fließen über ihr Gesicht seit wir die Bühne betreten haben. Sie muss ein bewegendes, ernstes Anliegen haben, denn sie weint ununterbrochen. Jetzt übersetzt jemand dem Swami mit den grauen Haaren den Text ihrer Karte ins Englische. Der Swami stellt dem Übersetzer eine Frage, beugt sich dann zu Amma vor, spricht leise an ihrem Ohr. Amma nickt und fährt mit den Umarmungen fort. Die weinende Frau vor mir kniet wartend neben dem großen Sessel. Es vergehen mindestens 20 Minuten, bis sich Amma dem Swami zuwendet, um ihm zu antworten. Die Weinende erhält ihre weiteren Antworten portionsweise, alle paar Minuten ein, zwei weitere Sätze. Amma benötigt für ihre Erwiderungen inzwischen mehr Zeit als zu Beginn, durch die vielen Pausen sind jetzt 40 Minuten verstrichen.
Jetzt bin ich an der Reihe. Der Swami nimmt mein Kärtchen und studiert konzentriert das Geschriebene; er scheint keine Verständnisfragen zu haben. Als er Amma meine Frage zuflüstert, kommt es mir vor, als reduziere er meinen kurzen Text auf eine noch kürzere Zusammenfassung.
Amma wendet sich viermal zu mir, während sie mit den Umarmungen ohne Unterbrechung fortfährt. Viermal sieht sie mich an, verzieht ihr Gesicht dabei zu einer Grimasse, als habe sie in eine Zitrone beißen müssen.
Ihr Mienenspiel sieht lustig aus und ich lächle sie unbeirrt an. Ich erwarte nichts Besonderes. Oder doch? Hoffte mein Ego nicht insgeheim, dass Amma verspräche für mich zu beten? Oder dass sie sagte: Komm in meinen Ashram in Indien, da können wir sehen, was zu machen ist.
Ich habe keine Angst, vor welcher Botschaft auch immer. Schließlich spricht sie mit dem Swami, der mir bedeutet aufzustehen. Er nimmt mich ein paar Schritte zur Seite. Ich versuche angestrengt bekannte englische Wörter in seinem singenden Hindu-Dialekt zu identifizieren.
„Amma says there are two plants in India that you should take, mm-sil and mm-tie, but you have to come to India!", erklärt er mir.
Die Pflanzennamen waren nicht zu verstehen. "Sorry, I didn't get that. What are the names of the plants?"
"Basil and mm-etie", wiederholt der Swami.
„Yes, Basil. And the other one? Could you say it again, please!"
"We call it Shety, it has red flowers and grows in the jungle. You have to look up the English name."
Ich schreibe Shety auf mein Kärtchen. „And you said I would have to come to India for it. Does Amma mean I have to come to her Ashram?"
"Yes", sagt der Swami, und ich bedanke mich bei ihm. Warum denn in Indien? denke ich. Habe ich das jetzt richtig verstanden?
Während ich die Bühne verlasse, frage ich mich, ob diese Antwort nicht genau meiner erhofften Einladung in Ammas indischen Ashram entsprach. Ich bin mir nicht sicher. Warum auch immer.
Später im Hotel brauche ich ungefähr eine Stunde, bis ich mithilfe von Google die zweite Pflanze gefunden habe. Der botanische Name lautet Ixora coccinea, eine Pflanze aus der Familie der Rubiaceen, bekannt unter dem Trivialnamen Dschungelgeranie, auch bekannt als Malteserkreuzblume; auf Malayalam wird sie Chethie genannt.
Am nächsten Morgen
Ich bin zum ersten Mal in München und sehe drei Tage lang nur einen winzigen Ausschnitt dieser Stadt, die Zenith-Halle und mein Zimmer in diesem neuen Hotel mit dem rätselhaften Namen »Super 8 Munich North City«. Das Hotel liegt am Frankfurter Ring, wo viel gebaut wird, und wo München aussieht wie eine reiche Stadt mit modern-eleganten Gewerbegebieten.
Unter den Hotelgästen befinden sich - unschwer erkennbar - zahlreiche Amma-Fans, fast alle sind anscheinend von weither angereist, wie ich selbst auch. An diesem letzten Morgen geselle ich mich an den benachbarten Frühstückstisch, an dem drei männliche Gäste mittleren Alters sitzen. Wir stellen uns vor. Jan und Rune kommen aus Dänemark, Walter aus Österreich.
Nach ein wenig Smalltalk über das Treiben in der Zenith-Halle stößt mich Rune unter dem Tisch an.
„Do you know who that is? Don't you know him?", fragt er mich leise, fast verschwörerisch, und weist unter dem Tisch auf Jan, der uns gegenübersitzt. Ich verneine seine Frage.
„He is enlightened, too!", fährt Rune fort. "He is a very famous Shaktipat guru!"
Der korpulente, äußerlich ein wenig unversorgt wirkende Jan ist mir bisher vor allem durch den Umstand aufgefallen, dass er zum Frühstück jeden Morgen Rühreier mit beängstigend vielen Würstchen verdrückt, dazu trinkt er Kaffee. Kein Brot, weder Aufschnitt noch Obst - er frühstückt betont proteinhaltig. Von diesem Mann mit den strubbeligen langen Haaren behauptet Rune also, dass er im Reich der Esoterik eine ganz große Nummer sei, ein erleuchteter Lehrmeister für Meditationstechniken.
„What kind of meditation techniques are you teaching", frage ich Jan, nun neugierig geworden. „I am meditating myself, in fact, I am doing nothing but meditations. I believe I have come pretty far with it," füge ich zu seiner Info hinzu.
Jan erzählt, dass er Intensivkurse gebe, Shaktipat Intensives nennt er sie. Bei Shaktipat gehe es um die Übertragung heiliger Energie, Shakti, durch körperlichen Kontakt. Er übertrage Kundalini-Energie durch Handauflegen.
„And? Does it work?", möchte ich wissen. „I already experience a state of deep samadhi during meditation."
"Oh, it works very well", meint Jan, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. „It doesn't matter if you are experienced or not. Shaktipat works like rocket fuel. It will take you a lot faster towards enlightenment."
Wow! Das muss ich ausprobieren! Jan Esmanns nächster Kurs ist Anfang Januar in Vilnius. Ich werde für mich und Cora einen Flug buchen.
Auf meinem Rückflug von München bin ich körperlos. Das Gefühl ist atemberaubend schön! Ich weiß nicht, wo es herkommt, ob es von Amma kommt oder von den Menschen, die in der Zenith-Halle zugleich meditiert haben. Ich bin dieser Körper nicht. Oh, Mann!
Hier und Jetzt
Nach Sunbear war Amma der zweite erleuchtete Mensch, den Lulan gezielt aufgesucht hatte, um Impulse für seine eigene spirituelle Entwicklung zu erhalten. Vierunddreissig Jahre liegen zwischen den beiden Begegnungen. Für Lulan waren Alex Wu und Denise de Haan spirituelle Heiler, keine Gurus. Er nahm sich vor herauszufinden, ob es auch Gurus gäbe, die heilen konnten. Amma zum Beispiel.
Unter Heilung hatte Lulan bisher die Beseitigung einer körperlichen Erkrankung und ihrer Ursachen verstanden. Seine gewohnten Denkmuster konnten das Wunder der wahrhaftigen, vollständigen Heilung nur schwer erfassen.
Eine hingebungsvolle, vorbehaltlose Umarmung ist ein Akt der Liebe; sie bezieht neben der physischen alle übrigen, nicht sichtbaren Ebenen der beteiligten Körperpersonen mit ein. In ihrer liebevollen Umarmung überwinden die Liebenden ihre äußerliche Trennung. Die kurz- und längerfristigen Auswirkungen dieser Vereinigung sind substanziell, zugleich jedoch äußerst subtil. Nicht jeder nimmt sie bewusst wahr.
Nachdem er in die Arme der »Mutter der unsterblichen Glückseligkeit« gesunken war, achtete Lulan in der Meditation verstärkt auf Veränderungen. Seine innere Energie hatte deutlich zugenommen; Lulan konnte sie gezielter auf beliebige Körperbereiche konzentrieren.
Die Bedeutung einer weiteren Veränderung entging allerdings seiner Aufmerksamkeit, obwohl er deren Auswirkungen noch während der Veranstaltung bemerkt hatte. Er schrieb in sein Tagebuch, er sei durcheinander und habe sein inneres Gleichgewicht verloren. Als Auslöser seiner Verwirrung nannte er die zahllosen neuen Eindrücke, die er in der Zenith-Halle absorbiert hatte.
Die wahre Ursache von Lulans Verwirrtheit war jedoch der Kontrollverlust, den sein Ego durch die Verbindung mit Ammas erleuchteter Aura erfahren hatte. Wenn die Dauerpräsenz des Egos unterbrochen wird, leiden die meisten Körperpersonen an Entzugserscheinungen; sie laufen »ganz neben der Spur« und versuchen die gewohnte Verfassung wiederherzustellen. Genau so hatte Rolf Shantam nach seiner Begegnung mit Amma reagiert. Das könne ihm nicht passieren, glaubte Lulan, er würde den Moment der Ego-Befreiung nie wieder loslassen. Doch als es ihm selbst wiederfuhr, im bunten Treiben der Zenith-Halle, hatte er die Dissoziation seines Egos nicht einmal bemerkt.
Nach seiner Rückkehr aus München kombinierte er beim Meditieren Ammas Ma-Om-Technik mit Ramanas Selbstbefragungsmethode. In den folgenden Tagen bemerkte er eine auffällige Zunahme der Restless-Leg-Symptome, die fast eine Woche lang anhielten. Nun traten die Beschwerden auch vormittags und in der Nacht auf, und die gewohnte Dosis der Tabletten reichte nicht mehr aus [1]. Die Ruhelosigkeit war zeitweise richtig qualvoll. Die Energetisierung aller Köperzellen mittels Ammas Meditationstechnik war offenbar sehr effektiv. Denn Lulan war gleichzeitig energiegeladen und voller Tatendrang. In ihm klangen die alten Lieder von Onkel Emils Tonbandmaschine. Er plante die nächsten Stationen auf seiner spirituellen Reise.
_____________________________[1] Inzwischen war ich von Levodopa, das unerwünschte Nebenwirkungen bei der Blutbildung entfalten konnte, auf Pramipexol umgestiegen. Pramipexol hielt meine Zuckungen ebenso effektiv in Schach wie Levodopa.
29.11.2017
Hannover
Ich habe ein Therapiegespräch bei einer der Psychologin bestellt; sie ist mir als Person empfohlen worden, die „starke esoterische Wurzeln" habe.
Das einstündige Gespräch mit der Therapeutin kostet 90 Euro. Teurer als ein Klempner, dachte ich vor der Terminvereinbarung, entscheide mich dann aber dafür, das Geld zu investieren. Denn ich habe einen triftigen Grund. Ich möchte herausfinden, ob ich seelische Altlasten mit mir herumschleppe. Abgründe, die ich noch nicht kenne, vergessene Albträume, verborgene Ängste. Probleme, die ich gewohnheitsmäßig übersehe. Falls meiner spirituellen Entwicklung ein Obstakel im Wege steht, möchte ich wissen, was mich behindert, damit ich es dann endgültig beseitigen kann.
Für das happige Honorar erhalte ich hinterher immerhin eine Audioaufnahme des Gesprächs. Die Therapeutin ist mit einer energischen Persönlichkeit ausgestattet, wach und äußerst präsent. Nach ein paar Sätzen merke ich, dass das Gespräch nicht rund läuft, sich nicht lecker anfühlt, wie die Niederländer sagen.
Die Psychologin hält ewig lange Vorträge über Frustrationsgrenzen von Kleinkindern. Als ich auch etwas sage, reagiert sie ungehalten.
„Wieso widersprichst du mir jetzt?", will sie von mir wissen.
„Ich widerspreche dir gar nicht. Mir fiel nur ein, dass ich als Kind alles auf einmal wollte", beschwichtige ich.
„Du hast deinen Satz mit »aber« angefangen", kontert sie scharf. „Damit drückst du Widerspruch aus."
Ups! Ich halte lieber meine Klappe. Die Frau ist gefangen in psychologischen Konzepten, sie verzettelt sich in Verbalstreitereien, versucht bei mir Befangenheiten und Ego-Probleme zu entlarven.
Nach Ablauf des Gesprächs bin ich erleichtert - ich benötige keine besondere Therapie. Es gibt keine nennenswerten Altlasten, die therapeutisch entsorgt werden müssten. (Am ehesten noch bei der Therapeutin.) Ich bin mir in meiner Einschätzung ganz sicher, könnte aber nicht erklären, woher meine Gewissheit kommt; sie war aus der Tiefe emporgestiegen und verdichtete sich während der Sitzung. Alles ist gut. Die Investition hat sich gelohnt.
Die Psychologin wirkt beim Abschied aufgekratzt. Sie überreicht mir eine Rechnung. Ihr Honorar beläuft sich nunmehr auf 120 Euro.
„Ich dachte die Stunde würde 90 Euro kosten", wende ich vorsichtig ein.
„Für eine Stunde", meint die Therapeutin. „Du hast mehr als eine Stunde gebraucht!"
Alter Falter! Mir fehlen die Worte! Wir hatten die vereinbarte Stunde höchstens um vier Minuten überzogen. Sie hatte die Stunde außerdem beendet, nicht ich. Ich falte die Rechnung wortlos zusammen und ziehe mir meine Jacke an. Auf der Straße laufe ich bis zur nächsten Kreuzung und bleibe stehen.
Nein! Das mache ich nicht mit! Ich mache auf dem Absatz kehrt und betrete mit der Rechnung in der Hand wieder die Praxis. Die Therapeutin sitzt im Gang auf einer Bank, als habe sie auf mich gewartet.
„Also, diese Rechnung, das geht so nicht!", höre ich mich sagen. Mein Tonfall klingt liebenswürdig und unerschütterlich zugleich. Sie muss inzwischen zu dem gleichen Schluss gekommen sein, denn sie steht stumm auf und umarmt mich. Versöhnung. Sie wisse auch nicht, was in sie gefahren sei.
„Macht nichts", versichere ich ihr. „Lass uns einfach nochmal neu anfangen!"
Ich muss noch eine ganze Weile an diese eigenartige Begegnung denken. Kann es sein, dass ein höheres Bewusstsein uns Menschen zusammenführt, damit wir gegenseitig voneinander lernen können?
***
Du sagst es!
***
30.11 – 03.12.2017
Gut Saunstorf
Darshan mit Om C. Parkin
Während des Darshans beantwortet Om C. Parkin die Fragen der Anwesenden. Seine Antworten beschönigen nichts, er sieht die Mängel und Schwächen der Fragesteller.
Am Sonntagmorgen, während der letzten Darshan-Session, stelle auch ich eine Frage. Ich beschreibe kurz die Erkrankung meines Körpers und möchte wissen, ob er geheilt werden könne. Dieselbe Frage hatte ich Amma gestellt. Doch dieses Mal ist etwas anders. Noch während ich spreche, wird mir bewusst, dass ich die Frage nicht für mich selbst stelle, ich stelle sie für alle Anwesenden, für die anderen Teilnehmer des Darshans. Warum das so ist, weiß ich nicht, es kommt einfach so, intuitiv.
Om antwortet sinngemäß, dass einmal im Leben der Punkt käme, an dem es nicht mehr weiterginge, an dem man akzeptieren müsse, dass das Ende erreicht sei. Einige im Publikum beginnen zu weinen.
„Kannst du mit dieser Antwort etwas anfangen?", fragt Om.
"Ja, das kann ich", antworte ich.
Oms Erwiderung ist sicherlich zutreffend, aber warum schließt er das Wunder der Erlösung als Option aus? Warum erwähnt er nicht die einzig wahre Heilung durch die Gnade Gottes? Vielleicht ist er ist auch megahellsichtig und sieht, was selbst meiner blinden Krähe verborgen bleibt.
Hier und Jetzt
Jan Esmann
Anfang Januar 2018 flogen Cora und Lulan nach Litauen. Dunkel schien ihnen Vilnius und hell zugleich. Sie sahen aus dem Busfenster Straßen mit alten, stark verfallenen Häusern, allesamt bewohnt, dazwischen moderne Internet-Cafés, innovativ und groovy. Cora lief stundenlang durch die Gassen, sah sich Kirchen, Museen und Markthallen an. Sie hatte sich gewünscht diese Stadt kennenzulernen.
Lulans Sightseeing beschränkte sich – wie schon in München - auf den Weg vom Hotel zu den Kursräumen des Shaktipat Intensive, morgens hin und spät am Abend wieder zurück.
09.01.2018
Hannover
Ich habe mich gefreut Jan und Walter wiederzusehen. Die übrigen Teilnehmer sah ich zum ersten Mal. Offene Gesichter, wir tranken heißen Tee in der winzigen Küche. Es stellte sich bereits nach wenigen Minuten eine lachfreudige Vertrautheit ein, wie man es sonst von langjährigen Freundschaften kennt.
Mein erster Shaktipat-Intensivkurs begann pünktlich um 11 Uhr. Siddha Jan gab eine Einführung, erklärte wie er Shakti-Energie übertrage und welche Wirkung wir von dieser Energie erwarten konnten. Er sprach entspannt und unaufgeregt, erläuterte eine hochspannende spirituelle Besonderheit sachlich und undramatisch. Seine Ausführungen bestachen durch ihre Einfachheit:
„Love, devotion and surrender – this is the essential part of it. This is basically all you need to do."
Jan stellte verschiedene Meditationstechniken vor, die wir während des Kurses anwendeten. Die erste Energieübertragung dauerte 15 Minuten. Der Siddha legte dabei seine Hände auf die Knie von zwei Kursteilnehmern, die rechts und links von ihm saßen. Als ich an der Reihe war und neben ihm saß, bemerkte ich nach etwa fünf Minuten, wie sich Wärme in meinem Torso ausbreitete. Heißes, flüssiges Ananda - ich kannte das Gefühl, bloß war es jetzt noch einmal um einige Stufen intensiver.
Hallelujah! Jahola-di-hit-ti! Ich verstand nun, dass die Bezeichnung »Intensivkurs« durchaus treffend gewählt war. Ich war high, ganz ohne Drogen. Jan hatte nicht übertrieben: Shaktipat wirkte wie spiritueller Raketentreibstoff! Hinter dem Energiefluss des Shakti nahm ich noch etwas wahr, ganz leise nur und diffus, aber erkennbar neu, beziehungsweise anders als vorher. Beim Meditieren schoss mir der Begriff »Transformation« durch den Kopf. In mir fand eine Transformation statt.
Jan Esmann ist der Hammer!
Zwischen den eigentlichen Energieübertragungen haben die Teilnehmer Gelegenheit Fragen zu stellen. Am letzten Kurstag wirkten alle erfüllt und entspannt, die Fragen fielen recht weitschweifig aus, es wurde ausgiebig gelacht.
„Can I smoke a joint before I meditate?", wollte ein junger Belgier wissen.
„Well, I would not recommend it", meinte Jan. „It only messes up your mind. It creates a lot of confusion."
Die Antwort war kurz, mehr Worte waren nicht nötig. Und sie traf einhundertprozentig zu. Ich hätte es jederzeit bestätigen können. Cannabis verstärkt unter anderem vorhandene Emotionen. Das Sat-Chit-Ananda des Samadhi braucht keine Verstärkung.
10.01.2018
Hannover
Ich schließe kurz die Augen als mein Geist mit strahlend-weißem Licht erfüllt wird (Stolz und Dankbarkeit), trotz vorherigem Alkoholgenuss (nagende Schuldgefühle).
17.01.2018
Hannover
Einzig und allein Gedanken sind die Ursache von Störungen in der Stille des Himmlischen Friedens. Ich beobachte als unbeteiligter Zeuge den Strom meiner Gedanken. Der stille Zeuge unternimmt keinerlei Anstrengung beim Denken. Ihm erscheinen Gedanken, ohne dass es ihn kümmert. Er beobachtet, wie Gedanken kommen und gehen, wie vorüberziehende Wolken, ohne realen Inhalt, kurzlebig.
Das Selbst ist nicht Teil der Gedanken.
Hier und Jetzt
Margaretha de Vries
Cora bekam bei jedem Besuch in den Niederlanden die gesammelten Wochenend-Feuilletonbeilagen der Volkskrant überreicht. Ihre Schwester Saskia hob die Hefte auf, und wenn Lulan und Cora mit dem Auto anreisten, transportierten sie auf der Heimreise das Volkskrant Magazine stapelweise im Kofferraum nach Hannover.
Im Oktober 2017 bekamen sie zwei volle Einkaufstaschen mit den Heften überreicht. Es kostete einige Zeit sich durch die Stapel zu arbeiten, Cora las jede Ausgabe von der ersten bis zur letzten Seite. Mitte November hatte sie einen Artikel gelesen, von dem sie glaubte er könne Lulan interessieren.
„Hier wird in einem Artikel eine blinde Heilerin erwähnt", meinte sie „Sie wohnt in Zandvoort. Möchtest du es einmal lesen?"
Margaretha de Vries, so hieß die blinde Heilerin aus Zandvoort, wurde in dem Artikel ausführlich erwähnt und die Behandlung durch sie als eine unvergleichliche Erfahrung beschrieben. Lulan googelte ihre Homepage, auf der die Heilerin sich und ihre Arbeit vorstellte. Zwei Tage lang horchte er in sich hinein. Sollte er sich von Margaretha behandeln lassen? Als die Antwort eindeutig war, nahm er Kontakt mit ihr auf und bat um einen Termin.
06.02.2018
Hannover
Mit einem Ford Focus von Stadtmobil nach Margaretha de Vries in Zandvoort gefahren. Sonntag hin, gestern wieder zurück. Tour de Force, wie gut, dass Cora mit war. Ich zögere die Healing-Session mit Margaretha zu beschreiben, sie war schöner als alle Worte. Unbeschreiblich.
Ich durfte mich auf einer Behandlungsliege unter einer Decke entspannen. Margaretha legte ihre rechte Hand auf mein Kronenchakra, danach auf den Solar Plexus. Jede ihrer Berührungen übertrug derart intensive, liebevolle Energien, dass ich im Meer des himmlischen Friedens versank.
Als ich mich umdrehte, um auf dem Bauch zu liegen, erschien das gestochen scharfe Bild eines schwarz glänzenden, großen Pferdes in meinem Geist. Es hatte eine lange Mähne und bäumte sich auf, lebendig und temperamentvoll wie ein Araberhengst, obschon es ein kräftiger, großer Kaltblüter war. Danach sah ich kurz einen muskulösen Mann, der wie ein Wikingerkrieger gekleidet war und in eine weite Ebene blickte.
16.02.2018
Hannover
Margaretha schickt mir dieses Gebet:
Ich bete, dass alle ungesunden, negativen Bilder und Muster, alle zerstörerischen zellulären Erinnerungen und alles belastenden genetische Material, die mit dieser Myelofibrose zusammenhängen, gefunden und geöffnet werden und mit Licht, Leben und der Liebe Gottes gefüllt werden. Ich weiß, dass das Licht und die Liebe im Leben Gottes alles heilen können. Ich bete daher, dass diese Heilung mindestens hundertfach sein kann. Amen.
Hier und Jetzt
Die einmalige Behandlung durch Margaretha de Vries konnte stattfinden, weil eine ihrer Patientinnen ihren Termin ausfallen lassen musste. Margaretha bot Lulan weitere Behandlungen an drei aufeinander folgenden Tagen im Juni an.
Obwohl allen spirituellen Heilern und Heilerinnen die Energie der einen Quelle zur Verfügung steht, unterschieden sich die Behandlungen zum Teil erheblich. Margarethas Energiefluss hatte unvermutet auffällige Resonanzen in Lulan ausgelöst, als habe sie etwas tief in seinem Inneren berührt, eine tiefere, mächtige Schwingung hinter dem vordergründigen Gezwitscher der Emotionen. Diese Seelenschwingung konnte Lulan von nun an während seiner Meditationen wahrnehmen.
Andrew McKellar
Während Jan Esmanns Shaktipat-Intensivkurs in Vilnius wurden zu den längeren Meditationen Chants abgespielt, die bei den Teilnehmern die innerliche Hingabe (devotion) verstärken sollten. Bei Lulan wirkten die Chants tatsächlich wie Verstärker. Ihm gefielen besonders der Devi Prayer von Ananda & Craig Pruess und die Mantren von Shyamananda Kirtan Mandali.
Zurück in Hannover suchte er in der Lister TAO Buchhandlung nach ähnlich stimulierenden Chants. Er fand eine CD, die Craig Pruess produziert hatte; man konnte sie im Laden probehören. The Gayatri Mantra enthielt drei längere Variationen dieser wohl bekanntesten Gebetsformeln aus den Veden. Die Chants wurden in einer satten Bassstimmlage gesungen. Lulan kaufte die CD, sie gefiel ihm richtig gut.
Zu Hause las er die Infos auf dem CD-Cover durch. Unter einem Foto von Craig Pruess wurde der Sänger der Chants vorgestellt, auch mit einem Foto. Sein Name war Andrew McKellar, und Lulan erfuhr, und dass Andrew einer der erfolgreichsten und populärsten spirituellen Heiler Großbritanniens sei. Wer war dieser Mann? Lulans Interesse war geweckt.
Auf Andrews Webseite fand er weitere Informationen. Seine Erfolgsquote als Heiler sprach für Andrew. Es schien keine Krankheit zu geben, die er nicht schon einmal geheilt hätte. Andrew McKellar heilte, indem er „göttliche Energie kanalisierte" und mit seinen Händen übertrug.
Lulan stellte sich per Email bei Andrew vor und fasste die Erkrankung seines Körpers in zwei Sätzen zusammen; er schrieb, dass er sich über einen Behandlungstermin freuen würde. Bei einem nahmhaften Heiler wie Andrew rechnete Lulan mit einigen Monaten Wartezeit – wenn er überhaupt einen Termin bekäme. Andrews Antwort traf jedoch bereits nach ein paar Tagen ein, sie war knapp, aber positiv. Sie vereinbarten den 11. März als ersten Behandlungstermin.
12.03.2018
Southampton
Sonntag bis Mittwoch in Southampton, vier Behandlungen beim spirituellen Heiler Andrew McKellar.
Southampton kommt mir vor wie ein Ort in einem Paralleluniversum, allein für die Anreise vergingen mehrere Lichtjahre. Dabei stellte sich der Flug von Hannover nach Gatwick noch als der schnellste Reiseabschnitt heraus. Die Verlangsamung der Anreise begann am Londoner Flughafen. Immerhin gab es eine direkte Verbindung nach Southampton mit dem Bus, ohne Umstieg, die Fahrtzeit betrug allerdings ganze zweieinhalb Stunden.
Ich nahm den National Express und kaufte gleich ein Retourticket. In Hannover hatte ich schon im Februar online ein Hotelzimmer gebucht.
Das Hotel liegt direkt am Westquay Shopping Centre, echt klasse, dies ist das erste Einkaufszentrum, das mir architektonisch und atmosphärisch gefällt. Außerdem bekomme ich hier alle Lebensmittel, die ich brauche. Es gibt nette Cafés und interessante Restaurants, zum Beispiel eine Sushi Bar mit einer Mini-Fließbandversorgung. Auch das Angebot der Shops bietet eine ansprechende Vielfalt an originellen Konzepten. Im Buchladen Waterstone's (mit einem individuellen - und dadurch spannenden - Literatursortiment) kann man zum Cappucino selbsgebackenen Kuchen bestellen. Dann etwas weiter das obligatorische Marks & Spencer, wo man Socken, Unterwäsche und Shirts bekommt; der Laden unterhält eine erstklassige Bio-Abteilung für Convenient Food. Im angrenzenden Anbau Westquay South bietet das Showcase Cinema neben dem Kinoprogramm einen Panoramablick auf die Anlegeterminals der großen Kreuzfahrtschiffe, aus denen sich im Viertagesrhythmus Heerscharen von deutschen Pauschaltouristen auf den kurzen Fußweg zum Westquay Shopping Centre machen.
Andrew McKellar wohnt in einem der dicht besiedelten Vororte zwischen Southampton und Portsmouth. Der Bus braucht um die 40 Minuten für die Strecke (13 km). Die Behandlung bei Andy dauert 20 Minuten, er nimmt bescheidene 25 Pfund für eine Session.
In Relation zu den gesamten Reisekosten und der Reisedauer nehmen Andrews Behandlungen insgesamt nur einen Bruchteil in Anspruch. Der Aufwand lohnt sich trotzdem. Für die Erlösung von »Altlasten« ist mir kein Weg zu weit.
13.03.2018
Southampton
Heute ist meine zweite Behandlung bei Andrew. Die Healing Sessions finden in einem kleinen Anbau des Hauses statt, das man durch ein Gartentor erreicht. Ich betrete ein winziges Wartezimmer, in dem eine »Patientin« auf einem der drei Stühle sitzt. Das Ambiente ist britisch-urig. In einem raumhohen Käfig schauen zwei Weißkopf-Büscheläffchen neugierig zu, wie ich meine Jacke ablege und mir die Schuhe ausziehe (die wartende Patientin hat ihre Schuhe unter ihrem Stuhl abgestellt).
Auf einem vorsintflutlichen Röhrenfernseher flimmern in einer Endlosschleife Fallbeispiele von Andrews Behandlungserfolgen. Die Vorher-Nachher-Szenen des Videos machen einen authentischen Eindruck. Andrews Patienten sind einfache Leute aus den Straßen der Arbeiterviertel; sie schildern den Verlauf ihrer Leiden mit einfachen Worten. Neben der Verbindungstür zum Wohnhaus steht eine pechschwarze Büste des indischen Guru Sathya Sai Baba, Maßstab 1:1. Ich las in Andrews Biographie (für 10 Pfund im Wartezimmer, zum Mitnehmen), dass er Sai Baba zu dessen Lebzeiten in Indien getroffen habe und nach dessen körperlichem Ende weiterhin Kontakt zu dem Guru herstellen konnte. In diesen Visionen habe Andrew von Sai Baba Hinweise erhalten, die seine Tätigkeit als Heiler maßgeblich bestimmt hätten.
Als sich die Tür öffnet, verlässt ein weißhaariger Mann den Behandlungsraum, die wartende Patientin geht hinein. Ich bin jetzt der einzige Wartende. Aus dem Behandlungszimmer dringen die sonoren Rezitationen des Gayatri Mantras, die ich mittlerweile auswendig mitsingen könnte.
Om. Bhūr bhuvah svah
tát savitúr váreniyam
bhárgo devásya dhīmahi
dhíyo yó nah pracodáyāt.
Nach 20 Minuten bin ich an der Reihe.
„How are you doing, bud?", möchte Andrew wissen.
„Oh, I am great, really great", antworte ich wahrheitsgemäß. „Yesterday, I was extremely hungry after the healing. And I was pretty tired, more like deeply relaxed. I slept like a baby. And something else was interesting: I had a very pleasant feeling in my kidneys, I didn't have that for a long period of time."
„Well, that's great, have a seat!", meint Andrew und bedeutet mir auf einem Hocker mit Plüschkissen vor ihm Platz zu nehmen. Bevor ich die Augen schließe, fällt mein Blick noch auf die weiße Taube, die auf dem Kopf einer weiteren Sai Baba-Figur sitzt; diese Statue ist bunt, lebensgroß, lebensecht und ebenfalls eine Spur zu kitschig. Ich muss mich daran gewöhnen, dass der Vogel frei im Behandlungsraum herumflattern darf und auch auf meinem Kopf landen könnte.
Dann fließt die wohlige Wärme von Andrews Händen in meinen Körper. Seine linke Hand liegt auf meiner Schulter, seine rechte bewegt sich leicht im unteren Rücken auf Höhe der Nieren auf und ab. Ich halte die Augen geschlossen, damit ich die sich ausbreitende Energie ohne Ablenkung aufnehmen kann.
10.-13.04.2018
Southampton
Dies ist meine zweite Behandlungsrunde bei Andrew McKellar. Ich habe wieder im Travelodge Central gebucht. Jetzt, beim zweiten Aufenthalt, finde ich das Hotel eine Spur zu schäbig. Das Premier Inn direkt am Westquay South kostet ein paar Pfund mehr und macht einen wesentlich angenehmeren Eindruck. Werde ich mir für den nächsten Trip merken.
Die erste Session war gestern. Sie dauerte länger als die vorherigen und Andy machte grunzende und schnarchende Geräusche, während diese unglaubliche Wärme von seinen Händen ausstrahlte und sich in meinem Körper ausbreitete. Seine Hände verweilten einige Zeit in der Nierenregion, wobei seine Finger kleine kreisende Bewegungen machten. Ich konnte fühlen, wie etwas in meinen Nieren vorging. Als die Sitzung beendet war, sagte Andy bloß "Oh, man!". Er hatte offensichtlich gelitten, sein Gesicht sah geschwollen aus und seine Augen waren rötlich.
Als ich eine Stunder später im Westquay South pinkeln ging, roch mein Urin ungewöhnlich scharf.
26.04.2018
Hannover
Zurück vom Shaktipat-Intensivkurs in Dublin. Was für ein Erlebnis!
In der Nachmittagsteepause am Sonntag unterhielt ich mich mit Jan über weibliche und männliche Aspekte der spirituellen (Göttlichen) Energie. Ich hatte mir bisher das universelle (Göttliche) Bewusstsein, mit dem ich verbunden war, als männliche Energie vorgestellt. Jans spirituelle Entwicklung wurde – im Gegensatz zu mir - beinahe sein gesamtes Körperleben lang von der Vorstellung einer Göttlichen Mutter inspiriert.
Während ich mit Jan redete, mitten im Gespräch, schoss mir schlagartig ein hell leuchtender Gedanke durch den Kopf. Ich verstand mit einem Mal die Vision, die ich seit ihrem Erscheinen während meines Vision Quest im Wendland vor 34 Jahren nicht zu deuten wusste:
Die Frau, die mir in meinem Steinkreis an die Stirn tippte und einen Gruß in einer unbekannten Sprache entgegenbrachte, war eine Projektion der Göttlichen Mutter. Sie war in mein spirituelles Bewusstsein getreten und hatte mich eingeladen. Doch ich erkannte sie nicht. Als ich letzten Herbst in München eine Umarmung von Amma bekam, berührte sie genau wie die ältere Frau in meiner Vision meine Stirn und sprach dabei ein Wort in einer Sprache, die ich nicht verstand. Amma hinterließ ein weißes Tika-Zeichen auf meiner Stirn. Es war die leibhaftige Wiederholung meiner Vision, die ich als Déjà-vu-Moment erfahren hatte! Wow!
In diesem Augenblick des Erkennens erfüllte mich die Präsenz der Göttlichen Mutter. Mir ist klar, dass das reichlich duchgeknallt klingt, aber so war es nun einmal. Es fühlte sich an wie die Freisetzung einer konzentrierten Energie mit einer ganz speziellen emotionalen Färbung, wie ein Akkord, dessen Klang durch die Kombination von Terzen, Quinten oder Septimen bestimmt wird. Ich kannte diesen Akkord allzu gut, er war ein Teil von mir. Mir war nur nicht klar, wofür er stand. Seine Schwingung war sanft und liebevoll, sie ähnelte der Energie, die Margaretha de Vries übertrug, allerdings in einer milderen Dosierung.
Am Samstag, kurz vor Kursbeginn, schloss ich mich Paddy und Frankie an, die vor einem Straßencafé neben dem Health Store saßen. Wir lachten und freuten uns über den strahlend blauen Himmel und die Kraft der Aprilsonne. Frankie hatte ein Kartenspiel dabei und fragte uns, ob wir nicht eine Nachricht von einer verstorbenen Person hören wollten.
"It works! It always does!", versicherte uns Frankie.
Paddy nahm eine Karte. There is no Death, stand darauf.
Das gefiel mir und Frankie bot mir an, auch eine Karte auszuwählen. Bevor ich eine Karte zog, dachte ich an meine Oma, Mühle-Oma, die Mutter meiner Mutter, an der ich als Kind so sehr hing. Ich nahm eine Karte.
I never told you how much I loved you, lautete die Aufschrift.
Mir schossen Tränen in die Augen. Es entsprach in der Tat der Wahrheit, genauso war es. In meiner Familie sagte man sich nicht, wie sehr man einander liebte. Es war undenkbar, niemand sagte jemals etwas, das auch nur annähernd wie eine Liebeserklärung geklungen hätte. Als sei es eine Obszönität.
Da ich mitten in der Nacht aufstehen musste, um meinen Rückflug zu erwischen, wollte ich mich bereits in der letzten Pause vor der Sonntagabend-Session verabschieden. Ein paar Minuten vor der Pause machte Jan eine überraschende Ankündigung. Er war gefragt worden, ob wir eine Heilmeditation für mich abhalten könnten. Ich hatte der Gruppe einen Tag zuvor von meiner körperlichen Erkrankung erzählt, jedoch eher beiläufig, quasi als Beispiel, um zu erläutern, dass der vielgepriesene freie Wille des Menschen durchaus in die Unfreiheit führen kann.
Jetzt sahen mich alle mit leuchtenden Augen an und warteten auf das Startsignal. Ich war tief berührt und schloss die Augen, um mit ihnen zu meditieren. Nach zwei Minuten wurde mir zunehmend wärmer; mir war, als würde Liebe in alle Bereiche meiner sinnlichen Wahrnehmung sickern. Im Vergleich zum Shakti, das Siddha Jan übertrug, umgab dieses Energiefeld meinen physischen Körper enger und dichter.
Nach der Heilmeditation dankte ich der Gruppe und äußerte den Wunsch, sie ebenso berühren zu können, damit sie am eigenen Leib erführen, was mir soeben zuteil wurde.
Om. Shanti. Shanti. Shanti.
Zwei Tage später, am Sonntagabend, war ich wieder zu Hause. In der Nacht hatte ich einen Traum von einer Wohnsituation, einem gemeinsamen Haus, in dem auch Mühle-Oma lebte. Ich war ein Gast oder ein Besucher, und weil es mit den übrigen Mietern (die allesamt Verwandte von mir waren) unangenehmen Schwierigkeiten gab, ging ich zu meiner Oma, um sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. In dem Moment, als wir uns umarmten, verschmolzen wir zu einem weißen Lichtstrahl, der mich mit konzentrierter Energie auflud. Als der Traum vorbei war und als ich aufwachte, spürte ich noch die Energie in meinen warmen Beinen und meinem Oberkörper.
Dublin 2018 - dieser Trip führte zur Anerkennung der Göttlichen Mutter, deren besondere Energieform in allen Lebewesen wirkt.
24. - 27. 05.2018
Shaktipat-Wochenende, Belgrad
24.05.2018
Belgrad, Hotel Prag, 23:20
So tief versunken und selbstvergessen war mein Samadhi noch nie. Nirwana. Der Kopf nach hinten gebeugt, der Mund leicht geöffnet, ohne jegliche Kenntnis des Körpers. Mir rann Speichel aus dem Mund – es war exakt wie die etwas schräge Darstellung auf dem Cover von Lovebliss, eines von Jans Büchern.
Das Kali-Mantra, das ununterbrochen lief, absorbierte mein Bewusstsein. Ich konnte keine sinnvollen Wörter mehr denken, nur unverständliche Brabbelgedanken, die im Rhythmus des Mantra kreuz und quer durch meinen Geist flogen. Trotzdem hörte ich alle Geräusche in meinem Umfeld in aller Schärfe.
Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, wer ich bin. Genauer gesagt, kann ich nicht mehr präzise bestimmen, wo ich aufhöre, was mich begrenzt. Zu »mir« scheint auch die unmittelbare Umgebung zu gehören. Geräusche und Gerüche, alles.
Grenzen fließen ineinander. Abgrenzungen lösen sich auf.
Ich bin.
»Ich bin« ist alles, was ich bin. Dies ist der Ursprung des »ich«. Doch wer oder was genau ich ist dieses letzte, ursprüngliche »ich«? Es gibt offenbar noch jemanden, der wahrnimmt, dass er wahrnimmt. Oder ist »ich« alles, was ich wahrnehme?
25.05.2018
Belgrad, Hotel Prag, 9:15
Der Kurs beginnt um 11. Ich meditiere vorher schon in meinem Hotelzimmer. Ich folge noch den Methoden von Nisargadatta und Ramana, momentan hauptsächlich die 101-Stufen-I-AM-Meditation von Nisargadatta.
Der Kontakt mit dem inneren Guru wird schrittweise subtiler und differenzierter. Und auch direkter. Jeder noch so kleine sorgenvolle Gedanke, z. B. über die Frage, wann die nächste Transfusion fällig sein wird, wirkt sich auf den Körper aus. Besorgniserregende Gedanken manifestieren sich gerne im unteren Rücken- und Nierenbereich. Die Ablehnung solcher Gedanken erzeugt sofort ein angenehmes Summen in dieser Körperregion.
28.05.2018
Hannover
Am letzten Kurstag verkündete Siddha Jan, wir lebten in einer Zeit, in der die Mächte der Dunkelheit und des Lichts in eine globale Schlacht verwickelt wären.
„They are fighting against the Forces of the Light", meinte Jan wie jemand, der mitteilt, dass das Teewasser kocht. Dieser Satz durfte einfach nicht unwidersprochen im Raum (oder vielmehr in den Köpfen der Kursteilnehmer) stehen bleiben. Ich konnte mal wieder meine Klappe nicht halten und sagte, dass es in Wahrheit keine Dunkelheit gebe; Dunkelheit sei lediglich die Abwesenheit von Licht. Zustimmendes Raunen, das kollektive Bewusstsein weiß mehr als ein einzelnes Gehirn.
Wie könnte ich den Vorgang der Gewahrwerdung des Realen einem Menschen erklären, der selbst noch keine vergleichbaren Erfahrungen gemacht hat? Unterbewusst kennt es jeder, denn das, was man in Wirklichkeit ist, lässt sich nicht abschalten; es wird lediglich durch Illusionen verschleiert und nicht bewusst wahrgenommen.
Was unterscheidet also das Bewusstsein vor und nach einer Realisierung? Nicht die Gedanken selbst, sie können sogar identisch sein.
Beispiel: Zwei einander nicht bekannte Personen schauen morgens nach dem Aufstehen in ihre Badezimmerspiegel. Zufällig haben sie dabei den gleichen Gedanken, Ich bin glücklich denken sie. Person A freut sich über ihr Glück und rekapituliert noch einmal dje Termine des Tages. Zur gleichen Zeit berührt die Magie der Unvergänglichkeit das Herz von Person B - ein Hauch in der Luft, ein fernes Lachen - und mit jedem Atemzug singt das gesamte Glück der Welt in ihrer Brust. Ich bin glücklich, denkt auch dieser Mensch, doch er denkt es nicht bloß, er ist es auf allen Ebenen seiner Inkarnation und wird diesen Augenblick nie mehr vergessen.
Nicht die Gedanken, sondern das bewusste Sein, Chit und Sat, das Gewahrsein des Seins, macht den Unterschied aus.
04.06 - 08.06.2018
Southampton
Sechs weitere Healings von Andrew.
11.06. - 15.06.2018
Zandvoort (bei Coen)
Drei Heilbehandlungen von Magaretha de Vries.
Margaretha legte zwei flache, runde Kieselsteine auf meine Augen, genauer gesagt auf meine Augenhöhlen, denn auf den Augen selbst lastete kein Gewicht.
Und wieder schwebe ich im siebten Himmel. Margaretha beendet ihr Healing mit einem leisen Standardgruß. „Goede morgen!", sagt sie. Ich muss meine gesamte Willenskraft aufbringen, um in die Welt zurückzukehren. Die blinde Krähe auf meiner Schulter bemerkt mein Zögern, sie registriert stumm, wie schwer es mir fällt die himmlischen Sphären zu verlassen.
Hier und Jetzt
Vom Herbst 2017 bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie Anfang 2020 düste Lulan kreuz und quer durch Europa. Er fuhr oder flog von einem spirituellen Heiler zum nächsten und folgte Jan Essman zu seinen Shaktipat Intensives in Vilnius, Belgrad, Dublin und London. Auch Mutter Meera übertrug Shakti durch Berührungen und zusätzlich über den Blick ihrer Augen. Lulan reiste zu ihren Veranstaltungen nach Dortmund und Braunschweig.
Im Herbst 2019 entdeckte er, dass spirituelle Heilung auch »vor der eigenen Haustür« zu finden war (Rolf Shantam hatte wieder mal recht behalten). Die eigene Haustür erstreckte sich in diesem Fall bis Clausthal-Zellerfeld im Harz, wo Lulan den Prana-Heiler Mario Guder aufsuchte.
Selten zuvor hatte Lulan, der todgeweihte Ritter Quixote der Tafelrunde, dermaßen viel Glück und Lebenslust empfunden. Doch seine Eltern und Verwandten konnten das Glück seiner Befreiung nicht nachvollziehen. Sie empfanden Mitleid für Lulan. Seine inzwischen an einer Demenz leidende Mutter heulte automatisch los, sobald sie mit ihrem Sohn sprach.
„Wir finden es bewundernswert, wie du gegen die Krankheit ankämpfst", sagte Tante Renate.
„Nein, nein!", erwiderte Lulan entchieden. „Ich kämpfe nicht. Überhaupt nicht! Ich bin sehr glücklich und überwiegend beschwerdefrei."
„Es tut mir so leid, dass du dich jetzt auch noch um deinen kranken Vater kümmern musst", meinte ihre ältere Schwester Edith fünf Minuten später. „Du hast ja schon genug mit dir selbst zu kämpfen!"
„Nein, Tante Edith, das stimmt nicht! Ich kämpfe überhaupt gar nicht. Null. Und mich um Papa zu kümmern, macht mir nichts aus. Es kostet mich keine Mühe."
Das war die reine Wahrheit, doch Lulan konnte ihnen so resolut und oft widersprechen, wie er wollte – es nützte nichts! Sie blieben bei ihrer Auffassung.
Mit hilfebedürftigen Kreaturen mitzufühlen und sie zu unterstützen, verschafft dem Mitfühlenden Erfüllung. So lehrt es der Bhuddismus. Mit zu leiden hilft dahingegen keinem weiter, im Gegenteil. Mitleid ist die Vervielfältigung von Leid und damit ein verstärkender Faktor. Wer bewusst mit anderen mitfühlt, verspürt den Wunsch ihr Leiden zu beenden.
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